Rechtsgeschichten 1913: Parlamentarier sind keine Affen & andere normative Ideen

von Martin Rath

03.02.2013

2/3: Konservative Richter verteidigen Parlamentarismus?

Man ist geneigt, die Leipziger Reichsgerichtsräte als Gesinnungsgenossen des preußischen Konservatismus zu sehen: Der reiche Wähler in Preußen hatte, übers Land betrachtet, ein rund 10-fach höheres Stimmgewicht als der arme preußische Wähler. Und das Urteil vom 28. Februar 1913 immunisierte das Ergebnis solcher Wahlen nun gegen Kritik.

Liest man jedoch vom Braunauer Postkartenmaler, kann man sich ein anderes Bild machen. In "Mein Kampf" behauptet Hitler, ursprünglich mit dem Parlamentarismus sympathisiert zu haben. Die Historikerin Brigitte Hamann zeichnet in ihrem Buch "Hitlers Wien" nach, was der spätere Staatsterrorist von den Zuschauerrängen des Reichsrates beobachtete. Dessen zweite Kammer, das Abgeordnetenhaus, repräsentierte die wahlberechtigten Männer des nördlichen Teils der k.u.k. Monarchie. Man darf sich das Parlament "Cisleithaniens" als wilde Mischung der Nationalitäten vorstellen, den Alltag wie ein Europaparlament ohne Simultandolmetscher: Jeder durfte in seiner Muttersprache sprechen, nicht selten trugen Abgeordnete Gedichte im Bewusstsein vor, dass sie kein anderer verstünde, doch das genügte, den Gegner am Reden zu hindern.

Das Scheitern des österreichischen Parlamentarismus mit seinem relativ fairen Männerwahlrecht war 1913 allgemein bekannt. Wenn man will, war es also auf ganz gesunde Weise konservativ, Parlamente vor außerparlamentarischer Denunziation zu schützen.

Höchste höchstrichterliche Sprachkunst

Doch zu etwas beinahe komplett anderem. Von den Richtern des Reichsgerichts weiß man, dass es sich um Sprachkünstler handelte, die sich heute unter den Roben der Justiz so vielleicht gar nicht mehr finden lassen. 

Unter Modelleisenbahnfreunden und examinierten Juristen weltberühmt ist die Definition des Begriffs "Eisenbahn": "Ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Strecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte dem Transport großer Gewichtsmassen bzw. die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (wie Dampf, Elektrizität, tierischer, menschlicher Muskeltätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere, der Transportgefäße und deren Ladung usw.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach dem Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende und die menschliche Gesundheit verletzende) Wirkung zu erzeugen fähig ist."

Was ist eine Behörde?

Nicht ganz so prächtig, aber dafür sehr viel leichter fürs Staatsexamen oder die Feier danach auswendigzulernen, ist die ungleich wichtigere Definition des Begriffs "Behörde". Syntaktisch leicht angepasst verstand das Reichsgericht unter einer Behörde ein, "sei es aus einer, sei es aus mehreren Personen bestehendes Organ der Staatsgewalt", "das dazu berufen ist unter öffentlicher Autorität nach eigenem Ermessen für die Herbeiführung der Zwecke des Staates tätig zu sein, wobei das Organ oder Amt als solches durch den ausdrücklich oder stillschweigend erkennbar gemachten Staatswillen als dauernder Träger staatlicher Hoheitsrechte und Pflichten unabhängig von dem Vorhandensein, dem Wegfall, dem Wechsel des Beamtenanerkannt und rechtlich geregelt ist".

Den schönen Definitionsaufwand rief das Reichsgericht am 20. Februar 1913 auf (Az. 1113/12), weil ein Priester im Bistum Ermland wegen ungebührlichen Verhaltens, ja Körperverletzung, bei seinem Bischof angezeigt worden war. Fraglich war, ob der katholische Bischof von Ermland eine "Behörde" im Sinn von § 164 Strafgesetzbuch sei. Die verleumderische Behauptung, der Priester habe eine "Amtspflicht" verletzt, konnte dem Anzeigensteller "Gefängniß nicht unter einem Monat" einbringen.

Das Landgericht Memel hatte verurteilt. Das Reichsgericht hob auf, weil der Bischof zwar Kirchenbehörde, Behörde im strafrechtlichen Sinn aber nur die Staatsbehörde sei. Das hätte man so kurz wohl auch sagen können, aber die Reichsgerichtsräte ritten ihre juristischen Distinktionen gern und ausführlich, auf dass sie auch in jedem ostpreußischen Landgerichts-Nest verstanden würden.

Was in Berlin ein "Büffet" ist, das ist es auch in Cöln

Der einstige Landgerichtsbezirk Memel gehört heute zu Litauen, Russland und Polen, die hübschen Abgrenzungen zwischen preußischer und katholischer Behörde interessieren dort vermutlich keine Christen- und Juristenseele. Umso aktueller ist, was das Reichsgericht am 25. Februar 1913 zum Schutz junger Menschen vor dem Stress am Arbeitsplatz urteilte (Az. 1325/12). Ursula von der Leyen, unsere Bundesarbeitsministerin macht sich da ja gerade öffentlich Sorgen.

Es können nicht die Sorgen einer echten Konservativen sein, sonst hülfe ja der gelegentliche Blick ins Reichsgesetzblatt oder die Entscheidungen des Reichsgerichts. Das Landgericht Cöln (das "C" war der Stadt zwischen 1900 und 1919 vom preußischen Innenministerium "aufgezwungen" worden) hatte den Betreiber einer Getränkekette zu 20 Mark Geldstrafe oder zwei Tagen "Gefängniß" verurteilt, weil der für sein Personal nicht über die Beschäftigungs- und Ruhezeiten Buch geführt und diese auch nicht eingehalten hatte.

Seit dem 23. Januar 1902 schrieb aber die Verordnung "betreffend die Beschäftigung von Gehülfen und Lehrlingen in Gast- und Schankwirtschaften" unter anderem vor, dass "jedem Gehülfen und Lehrling über sechzehn Jahre für die Woche siebenmal eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens acht Stunden zu gewähren" ist. Weil deutsche Gesetzgeber damals gründlich und Gastwirte wohl zeitlos begriffsstutzig sind, hieß es weiter: "Der Beginn der ersten Ruhezeit darf in die vorhergehende, das Ende der siebenten Ruhezeit in die nachfolgende Woche fallen."  Jüngere "Gehülfen und Lehrlinge" kamen in den Genuss einer mindestens 9-stündigen Ruhezeit, alle drei Wochen trat an die Stelle der 8- oder 9-stündigen Pause eine Ruhezeit von mindestens 24 Stunden. Neben den Mahlzeiten sollte die Arbeitszeit von mindestens 2-stündigen Pausen unterbrochen werden.

Für "Gehülfen und Lehrlinge" in der Gastronomie kam man damit folglich auf eine gesetzliche Arbeitszeit von rund 14 Stunden bei einem freien Tag alle drei Wochen. Das Jugendarbeitsschutzgesetz sieht maximal acht Stunden am Tag, 40 in der Woche vor. Trotzdem scheint das Leben immer schwerer zu werden.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: Parlamentarier sind keine Affen & andere normative Ideen . In: Legal Tribune Online, 03.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8089/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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