Zum 17. Juni 1953: Der Auf­stand in der DDR

von Martin Rath

16.06.2013

2/2: "Texaskrawatte mit nackten Frauen, Verbrechergesicht"

Jakob Kaiser (1888-1961), inzwischen Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und wenige Jahre zuvor noch Mitgründer der Ost-CDU, gibt noch 1953 eine amtliche Dokumentation heraus, in der sich auch das transkribierte Interview seines ehemaligen Parteifreunds findet. Diese "Denkschrift" zum 17. Juni enthält Dokumente, die man heute nur als Beleg grotesker Propaganda lesen kann: Am 21. Juni 1953 führt etwa das "Neue Deutschland" einen Aufständischen vor, der "von den Sicherheitsorganen unserer Republik dingfest gemacht" worden sei. Sein Verbrechen laut "ND", dokumentiert von der "Denkschrift": Er trägt ein "Texashemd mit Cowboy, Texaskrawatte mit der Abbildung nackter Frauen, Texasfrisur, Verbrechergesicht". Überhaupt ereifern sich die SED-Journalisten darin, dass die Aufständischen in Erfurt von West-Berlin aus mit "Texashemden" ausgestattet worden seien (Dokument Nr. 45).

Nicht bizarr hingegen der Befehl des Generalmajor Dibrowa, Militärkommandant des sowjetischen Sektors von Groß-Berlin: "1. Ab 13 Uhr des 17. Juni 1953 wird im sowjetischen Sektor von Berlin der Ausnahmezustand verhängt. 2. Alle Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und sonstige Menschenansammlungen über drei Personen werden auf Straßen, Plätzen wie auch in öffentlichen Gebäuden verboten. 3. Jeglicher Verkehr von Fußgängern und der Verkehr von Kraftfahrzeugen und anderen Fahrzeugen wird von 21 Uhr bis 5 Uhr verboten. Diejenigen, die gegen diesen Befehl verstoßen, werden nach den Kriegsgesetzen bestraft."

Dem Standrecht fielen 19 Aufständische zum Opfer. Insgesamt weitere 30 bis 40 Menschen starben unter den Bedingungen unmittelbaren Zwangs – die sowjetische Staatsgewalt schuf "Ordnung". Vielleicht nicht belanglos, eine andere Zahl daneben zu stellen: Zwischen 1953 und 1956 brachte die britische Regierung über 1.000 Aufständische in standrechtlichen Verfahren an den Galgen. Die Öffentlichkeit regte sich über wieder hergestellte Staatsgewalt insgesamt wohl weniger auf als heute.

In der Gesamtschau der seinerzeit von Bundesminister Kaiser herausgegebenen "Denkschrift" zum 17. Juni fällt denn auch ins Auge, wie oft Fragen berührt werden, die heute im (kollektiven) Arbeitsrecht zu finden sind: In vielen dokumentierten Artikeln aus der DDR-Presse und in Stellungnahmen der Aufständischen wird etwa die Forderung geäußert, die Streikenden sollten nicht gemaßregelt werden. Die SED-Propagandisten ereiferten sich recht oft zu der Frage, ob die ausgefallenen Arbeitszeiten entlohnt werden sollten bzw. nachgearbeitet werden müssten – der "Volksaufstand" geriet insoweit zum Problem höherer Gewalt in einem Staat ohne ordentliche Arbeitsgerichtsbarkeit.

SED-Justizmordapparat

Derweil übernahm Hilde Benjamin (1902-1989), vormals mörderische Richterin in Schauprozessen des Obersten Gerichtshofs der DDR, die Lenkung der strafrechtlichen Verfahren gegen Aufständische. Am 15. Juli 1953 löste sie Max Fechner (1892-1973) als DDR-Justizminister ab. Fechner hatte öffentlich auf das Streikrecht der DDR-Verfassung hingewiesen und eine differenzierte Strafverfolgung gefordert, um daraufhin selbst rund zwei Jahre in verschärfter U-Haft gehalten zu werden.

Die Prozesse gegen die "Provokateure" des 17. Juni wurden – selbst wenn die Staatsanwaltschaft die Sachen nicht vor das Oberste Gericht brachte, also in der DDR-Provinz verhandelt wurde – durch einen sogenannten Operativstab bei Benjamin "betreut". Während der Woche waren u.a. zwei Mitarbeiterinnen des Justizministeriums als "Instrukteure" bei den regionalen Gerichten unterwegs. Im Obersten Gericht war ein "Nachtdienst" eingerichtet, der ihre Erkenntnisse aufnahm und in einfachen Angelegenheiten direkte Anweisungen gab. In Zweifelsfällen entschied Benjamin in der Morgenbesprechung, wie lokale Urteile ausfallen sollten.

Der Fall des 1954 mit dem Fallbeil hingerichteten Ernst Jennrich gibt ein solches Beispiel rechtsstaatsfeindlicher Steuerung der DDR-Justiz. Jennrich scheint immerhin einen gerechten Richter gefunden zu haben: Der Schöffe Fritz Ringenberg, angesichts der Umstände der vielleicht tapferste Vertreter dieses Amtes im 20. Jahrhundert, erklärte, dass er die Todesstrafe aus Gewissensgründen nicht mittrage, "zumal in den Zeugenaussagen meiner Meinung nach doch erhebliche Wiedersprüche [sic] sind…".

Für den Aufstand in Leipzig hatte das "Neue Deutschland" am 23. Juni 1953 ausgemacht, von "Prostituierten und Berufsverbrechern" angeführt worden zu sein, um eine von den DDR-Behörden abgeurteilte "SS-Kommandeuse" aus der Haft zu befreien. Eine vermutlich psychisch gestörte Frau, die heute nur noch unter dem Namen Erna Dorn aktenkundig ist, fiel einem Justizmord durch Benjamins Behörde zum Opfer.

Bis in die 1980er-Jahre machten DDR-Historiker westliche Agenten für den Aufstand verantwortlich. Die Verlogenheit ihres Staates war endemisch, von der volkswirtschaftlichen Leistungsbilanz bis in die Details des 17. Juni, dessen Kollateralschäden noch dem "Klassenfeind" angelastet wurden, wie im Fall des von Rotarmisten erschossenen Volkspolizisten Erich Kunze.

Die historische Erinnerung daran wird vermutlich erst dann populär werden, wenn die "Erlebnisgeneration" der DDR wegstirbt. Bis dahin feiert das deutsche Volk seine Vereinigung am 3. Oktober – mit einer Kirmes in der Landeshauptstadt des Ausrichters.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Zum 17. Juni 1953: Der Aufstand in der DDR . In: Legal Tribune Online, 16.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8935/ (abgerufen am: 07.05.2024 )

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