Wahlprüfung vor dem BVerfG: Der Bun­destag darf nur zuschauen

von Dr. Max Kolter

12.07.2023

Das juristische Nachspiel der Berliner Pannenwahl geht weiter: Nächste Woche verhandelt das BVerfG über den Umfang möglicher Neuwahlen zum Bundestag. Anträge darf dieser aber nicht stellen, wie das Gericht nun entschied.

Der Deutsche Bundestag darf nicht dem Verfahren beitreten, in dem seine eigene Zusammensetzung auf Gültigkeit überprüft wird. Dies entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit am Mittwoch veröffentlichen Beschluss (v. 05.07.2023, Az. 2 BvC 4/23). Der mit der Entscheidung als unzulässig verworfene Beitritt des Parlaments bezieht sich auf die in der kommenden Woche verhandelte Wahlprüfungsbeschwerde der Unionsfraktion im Bundestag. Gegenstand ist die Bundestagswahl 2021 in Berlin, bei der es zu etlichen Pannen gekommen war.

Lange Schlangen vor Wahllokalen, zeitweise Schließungen von Wahllokalen, Stimmabgaben nach 18 Uhr und noch manches mehr – das alles war in den Tagen und Wochen danach über die Berliner "Skandalwahl" bekannt geworden. Da nicht nur der Bundestag gewählt wurde, sondern gleichzeitig unter anderem auch das Berliner Parlament (Abgeordnetenhaus), beschäftigen die Pannen nicht nur Karlsruhe, sondern auch den Berliner Verfassungsgerichtshof (VerfGH). Dieser hatte im November 2022 die Abgeordnetenhauswahl vollumfänglich für ungültig erklärt und Neuwahlen angeordnet, die im Februar 2023 stattfanden: Anstelle des ursprünglichen rot-rot-grünen Bündnisses regiert in Berlin nun eine Große Koalition.

Worum es bei der Wahlprüfungsbeschwerde geht

Auf Bundesebene läuft das anders: Das BVerfG ist für die Prüfung der Bundestagswahl nicht originär zuständig. Vielmehr greift ein zweistufiges Verfahren, normiert in Art. 41 Grundgesetz (GG). Stufe 1 regelt Absatz 1: "Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat." Heißt also: Der Bundestag entscheidet über seine eigene Gültigkeit.

Wenig überraschend, dass dieser seine Zusammensetzung nicht für vollständig ungültig erklärte, so wie es der VerfGH Berlin für die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses tat. Vielmehr entschied der Bundestag im November 2022, die Wahl müsse nicht in allen, sondern nur in 431 Berliner Wahlbezirken wiederholt werden. Erneut gewählt werden solle nur dort, wo die Stimmabgabe unterbrochen wurde, Wahllokale nach 18.30 Uhr offen waren oder Wähler wegen fehlender oder falscher Wahlzettel nicht gültig abstimmen konnten.

Im Übrigen wies der Bundestag die Wahleinsprüche zurück oder verwarf sie. CDU und CSU hatten eine umfassendere Neuwahl gefordert, die AfD sogar – entsprechend der Entscheidung des VerfGH Berlin – die Neuwahl in ganz Berlin. Beide Fraktionen zogen deshalb nach Karlsruhe, wo am kommenden Dienstag Stufe 2 des Wahlprüfungsverfahrens beginnt: Das BVerfG verhandelt über die von der Unionsfraktion gegen den Bundestagsbeschluss gemäß Art. 41 Abs. 2 GG eingelegte Beschwerde.

Bundestag darf dem Verfahren nicht beitreten

Der Bundestag als Verfassungsorgan wollte dem Verfahren im März 2023 beitreten, insbesondere um seine eigene Mehrheitsentscheidung gegen den Angriff einer Parlamentsminderheit zu verteidigen. Der Beitritt hätte es dem Bundestag gegebenenfalls auch ermöglicht, Anträge zu stellen und Prozesshandlungen vorzunehmen, insbesondere zu beantragen, den federführenden Richter für befangen erklären zu lassen.

Doch das BVerfG verwehrt ihm dies nun, die entsprechende Erklärung sei unzulässig. Bei der Begründung geht das Gericht nach Lehrbuch vor: Wortlaut nein, Analogie nein, sonstige zwingende Gründe nein – damit: Beitritt nein.

Zentrale Norm ist § 48 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Sie regelt, wer eine Wahlprüfungsbeschwerde einlegen kann. Neben Bundestagsfraktionen können dies sein: einzelne Abgeordnete, deren Mitgliedschaft auf dem Spiel steht, Wähler oder Wählergruppen, deren Einspruch vom Bundestag verworfen worden ist, sowie eine Parlamentsminderheit, die wenigstens zehn Prozent der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestags umfasst.

Ein Wort zu weiteren Verfahrensbeteiligten verliert die Norm nicht. § 48 ist auch die einzige Vorschrift des Abschnitts im BVerfGG, welcher die Wahlprüfungsbeschwerde regelt. Auch Art. 41 GG sowie das Wahlprüfungsgesetz beinhalten keine Beitrittsmöglichkeit. Das Wahlprüfungsgesetz regelt nämlich nur die erste – parlamentarische – Stufe des Wahlprüfungsverfahrens und verweist für das Gerichtsverfahren in §18 auf das BVerfGG.

BVerfG: ohne Angriff keine Verteidigung nötig

Das BVerfG schloss daraus: Zur aktiven Verfahrensbeteiligung sei nur die Beschwerdeführerin befugt, hier also die Unionsfraktion. Da § 48 BVerfGG keine Beitrittsregelung enthalte, dürfe der Bundestag auch nicht beitreten. Auch eine analoge Anwendung anderer Beitrittsregelungen im BVerfGG kam aus Sicht des BVerfG nicht in Betracht, da es keine unbeabsichtigte Regelungslücke gebe.

Schließlich prüfte das Gericht noch, ob aus anderen "verfassungsrechtlichen Gründen" ein Beitritt angezeigt sei – und verneinte das. Es fehle an einem entsprechenden "offenkundigen Bedürfnis". Dies begründet das Gericht mit dem Charakter des Verfahrens: "Gegenstand der Wahlprüfungsbeschwerde ist die objektive Überprüfung der Entscheidung des Bundestages." Durch das Verfahren "entsteht keine kontradiktorische Verfahrenssituation, in der dem Urheber der Ausgangsentscheidung die Möglichkeit einzuräumen wäre, diese als Beteiligter zu verteidigen."

Der Bundestag sei zwar von dem Verfahren betroffen, es gehe immerhin um seine Zusammensetzung und um seine Entscheidung, die Wahl nur in einigen Wahlbezirken zu wiederholen. Aber das mache ihn nur zum Gegenstand des Verfahrens, nicht aber zu einem "mit eigenen Rechten ausgestatteten Verfahrensbeteiligten". Auf die Forderung nach prozessualer Waffengleichheit könne das Beitrittsanliegen nicht gestützt werden, denn es finde gar kein Kampf statt: Die von einer Parlamentsminderheit eingelegte Wahlprüfungsbeschwerde sei schon kein Angriff auf die Entscheidung der Mehrheit, gegen den sich diese verteidigen müsste.

Keine Entscheidung über Befangenheitsantrag gegen Richter Müller

Auf diese Weise konnten die Karlsruher Richter auch einer unangenehmen Entscheidung ausweichen: Der Bundestag hatte mit seiner Beitrittserklärung beantragt, Verfassungsrichter Peter Müller wegen Befangenheit abzulehnen, der in dem Verfahren Berichterstatter ist. Er hatte sich nach der Entscheidung des VerfGH Berlin im Podcast "FAZ Einspruch" zur Berliner "Skandalwahl" geäußert. Solche Pannen "hätte man sich vor einigen Jahrzehnten in einem diktatorischen Entwicklungsland vorstellen können, aber nicht mitten in Europa, mitten in Deutschland", hatte Müller dort gesagt.

In einem Eilverfahren vor der Berliner Neuwahl hatte das BVerfG schon keinen Grund gesehen, Müller von der Entscheidung auszuschließen. In dem hiesigen Beschluss mussten die Richter nicht entscheiden, da mangels zulässigen Beitritts auch kein Antrag vorliege "und weil eine Entscheidung über die Besorgnis der Befangenheit eines Richters von Amts wegen nicht zulässig ist", wie es in dem Beschluss heißt.

Nun geht es also ohne den Bundestag und mit Müller weiter. Mündlich verhandelt wird nächste Woche am Dienstag und Mittwoch.

Zitiervorschlag

Wahlprüfung vor dem BVerfG: Der Bundestag darf nur zuschauen . In: Legal Tribune Online, 12.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52223/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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