Spionageprozess gegen Anwalt der deutschen Botschaft: Türkei beschlag­nahmte Daten zu 900 Asyl­ver­fahren

von Dr. Markus Sehl

03.09.2020

Bei der Festnahme eines Anwalts der deutschen Botschaft in Ankara haben türkische Behörden deutlich mehr Daten zu deutschen Asylverfahren erhalten als bislang angenommen. Beunruhigende Nachrichten für über 900 Schutzsuchende in Deutschland.

Als türkische Polizeibeamte den Vertrauensanwalt der deutschen Botschaft Yilmaz S. in Ankara am 19. September 2019 festgenommen haben, stellten sie bei ihm zahleiche Informationen zu Asylverfahren sicher. Ein brisanter Fund, weil die Informationen Asylverfahren von rund 113 schutzsuchenden Türken in Deutschland betreffen. Der türkische Anwalt war im Auftrag Deutschlands eingesetzt worden, um vor Ort Angaben der Asylsuchenden zu überprüfen. Die türkische Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem Spionage vor, der Prozess gegen ihn begann im März in Ankara.

Wie sich nun herausstellt, ist das Ausmaß des Vorfalls aber deutlich größer als bislang bekannt. So sollen rund 900 Anfragen aus Deutschland mit Daten zu Asylbewerben bei der Festnahme des Anwalts in die Hände der türkischen Behörden gelangt sein. Und zwar allein Daten aus den Jahren 2017 bis 2019. Das geht aus der Antwort des Auswärtigen Amtes (AA) auf eine schriftliche Frage der Grünen-Abgeordneten Luise Amtsberg hervor. Nach Recherchen von LTO soll durch jede Anfrage mindestens eine Person betroffen sein, in einigen Fällen sogar auf einen Schlag gleich mehrere Menschen, zum Beispiel ganze Familien. Der Vertrauensanwalt hat seit 20 Jahren für die deutsche Botschaft gearbeitet.

"Ich bin zutiefst beunruhigt über den Umstand, dass die Zahl der Betroffenen, deren Daten im Zuge der Festnahme des türkischen Vertrauensanwalts Yilmaz S. den Behörden in die Hände gefallen sind, auf 900 angestiegen ist", sagte Amtsberg zu LTO. "Wir wussten bislang sicher nur von 113 bestätigten Fällen."

So setzen deutsche Verwaltungsgerichte und das BAMF auf Vertrauensanwälte im Ausland

Im Februar hatte die Bundesregierung mitgeteilt, dass neben Dokumenten bei dem Anwalt auch Datenträger beschlagnahmt worden seien. Nach Informationen von LTO soll darunter mindestens auch ein USB-Stick gewesen sein.

Wie der Einsatz von Vertrauensanwälten funktioniert hat Kai Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, für LTO so erklärt: Ein Richter an einem deutschen Verwaltungsgericht ist mit Asylunterlagen eines Menschen aus der Türkei konfrontiert, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für unglaubwürdig hält. Der Richter wendet sich deshalb an das AA mit der Bitte, die vorgelegten Beweismittel oder Aussagen auf ihre Korrektheit zu prüfen. Es kann dabei etwa darum gehen, ob gegen die Person in der Türkei ein Ermittlungsverfahren läuft oder ein Haftbefehl besteht. Die Beamten ließen sich dann per Amtshilfe aus dem BAMF die entsprechenden Informationen kommen. Manchmal kommt die Anfrage auch direkt vom BAMF. Ein Teil der Information wird dann von den deutschen Diplomaten an die vor Ort tätigen Vertrauensanwälte weitergegeben.

Die Bundesregierung hat auf eine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag Anfang 2020 mitgeteilt, dass "neben unbedingt notwendigen Informationen im Einzelfall Kopien einzelner von Antragstellern im Verfahren vorgelegter Dokumente an Kooperationsanwälte weitergegeben" werden, "um die Echtheit solcher Dokumente zu überprüfen." Welche Daten ganz konkret an die Vertrauensanwälte gehen, dazu fehlt es an Angaben.

Das BAMF übermittle an das AA Aktenzeichen, Personendaten, Wohnort im Herkunftsland, eine Sachverhaltszusammenfassung und Angaben zu Orten, Daten und Personen, die für die Verifizierung relevant sind. Deutsche Wohnadressen werden nicht an den Kooperationsanwalt weitergeleitet, so die Bundesregierung.

Asylsuchende in Deutschland in Gefahr?

Für die Schutzsuchenden Türken in Deutschland könnten die Informationen in den Händen des türkischen Staates offenbar eine Bedrohung darstellen. Nach Informationen des niedersächsischen Flüchtlingsrats von Anfang des Jahres sollen rund 200 Asylsuchende aus der Türkei in Deutschland vom Verfassungsschutz informiert worden sein, um sie vor möglichen Gefährdungen durch den türkischen Geheimdienst zu warnen.

Die Bundesregierung schließt nicht aus, dass die türkischen Sicherheitsbehörden die ihnen bekannt gewordenen Daten zu Asylantragstellern für weitere eigene Ermittlungen und strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen nutzen könnten. Insbesondere sei es möglich, dass türkische Asylantragsteller potentiell auch in Deutschland in den Fokus des türkischen Nachrichtendienstes MIT geraten könnten.

Im Rahmen einer Sondersitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages im November 2019 informierte die Bundesregierung darüber, dass in 45 von 47 Asylverfahren, die durch die Verhaftung des Vertrauensanwalts dem türkischen Staat bekannt wurden, inzwischen ein Schutzstatus erteilt worden sei, 18 in Abänderung einer vorherigen negativen Entscheidung, 27 in noch offenen Verfahren. Lediglich in zwei Fällen lagen nach Auffassung des BAMF keine Gefährdung vor. Diese Verfahren befänden sich noch im Klageverfahren und seien bei den Gerichten anhängig, teilte die Bundesregierung damals mit.

Ebenso seien vom BAMF parallel mit der Zustellung der jeweiligen Asylentscheidung all jene Personen informiert worden, von denen infolge der Ermittlungsmaßnahmen bei Yilmaz S. personenbezogene Daten an die türkischen Behörden gelangt sein könnten, so die Bundesregierung damals. Ob alle der nach neuen Erkenntnissen mindestens 900 Betroffenen informiert wurden, darauf gab es aus dem AA keine Antwort. Das BAMF verwies auf Anfrage von LTO in der Sache auf die Zuständigkeit des AA.

Amtsberg sagte zu LTO: "Ich erwarte, dass die 900 Frauen und Männer, die durch die Ermittlungen deutscher Behörden zusätzlich ins Visier des türkischen Staates geraten sind, sofern dies nicht schon geschehen ist, einen Schutzstatus in Deutschland erhalten. Diesen Schutzbedarf müssten nicht erst Gerichte feststellen, den müsste das Bundesamt für Migration und Flucht unverzüglich anerkennen, so Amtsberg.

Die Grünen-Abgeordnete kritisiert grundsätzlich die Praxis der Vertrauensanwälte. So zeige der Fall Yilmaz S., dass das unverhältnismäßige Misstrauen des Bundesamtes gegenüber Asylsuchenden und ihren Auskünften eine unnötige Gefährdung des Vertrauensanwaltes und zahlreicher weiterer Betroffener nach sich gebracht habe und dass die weltweite Praxis der Überprüfung von Daten mittels solcher Vertrauensanwälte grundsätzlich problematisch sei.

Sorgte sich der Vertrauensanwalt um die Legalität seiner Arbeit?

Als die Abgeordneten der Grünen im Februar bei der Regierung nachfragten, ob sie bzw. die Botschaft in Ankara Hinweise habe, dass sie den Vertrauensanwalt durch die Beschäftigung in eine Gefahr gebracht haben könnte, fiel die Antwort knapp aus: "Nein".

Aus der Anklageschrift der türkischen Staatsanwaltschaft soll nach Informationen des NDR anderes hervorgehen. In einer in der Anklage zitierten E-Mail an einen Botschaftsmitarbeiter soll der Anwalt Yilmaz S. Sicherheitsbedenken geäußert und die Botschaft gebeten haben, beim türkischen Außenministerium eine Genehmigung für seine anwaltliche Tätigkeit für die Deutschen einzuholen und sich von Asylbewerbern Vollmachten ausstellen zu lassen.

Nach Recherchen von LTO lassen sich zudem einige der für die deutschen Gerichte interessanten Informationen auch nicht ohne weiteres aus in der Türkei öffentlich zugänglichen Datenbanken beschaffen. In einer Datenbank, in der türkische Anwälte Prozessinformationen grundsätzlich einsehen können, sind Verfahren mit Terrorismusbezug regelmäßig gesperrt. Das betrifft vor allem Verfahren gegen mutmaßliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, welche die türkische Regierung für den gescheiterten Putsch 2016 verantwortlich macht und mutmaßliche Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Also Verfahren gegen genau jene Menschen, die wegen Verfolgung auch Asyl in Deutschland suchen – und zu denen deshalb Informationen für den deutschen Staat interessant sind. Zusammenarbeit mit Vertrauensanwälten in der Türkei gestoppt Das AA hat bis auf Weiteres die Zusammenarbeit mit Vertrauensanwälten in der Türkei gestoppt. Ein Pressesprecher verwies auf telefonische Anfrage von LTO am Mittwoch auf die Antwort auf die schriftliche Anfrage Amtsbergs. Weitere Angaben könne man nicht machen.

Die Verwaltungsgerichte können aber offenbar auch ohne Rückgriff auf die Vertrauensanwälte Informationen zu Asylsuchenden aus der Türkei verifizieren. Das erfuhr LTO aus der Justiz. Solche Verfahren würden weiter bearbeitet, zur Verifizierung greife man nun auf Sachverständige mit Kontakten in die Türkei zurück, hieß es.

Der Anwalt Yilmaz S. wurde im März mit Prozessbeginn aus der Untersuchungshaft entlassen. Gegen ihn wurde aber eine Ausreisesperre verhängt. Am 16. September soll der Prozess gegen ihn in Ankara fortgesetzt werden.

Zitiervorschlag

Markus Sehl, Spionageprozess gegen Anwalt der deutschen Botschaft: Türkei beschlagnahmte Daten zu 900 Asylverfahren . In: Legal Tribune Online, 03.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42695/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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