BSG-Jahresbericht 2023: "Mit Vide­o­ver­hand­lungen geht etwas ver­loren"

von Tanja Podolski

06.02.2024

Videoverhandlungen sollten nicht zum Regelfall werden, findet BSG-Präsident Schlegel. In Kassel stellte er den Jahresbericht 2023 vor und gab einen Ausblick, welche Fragen das Gericht seiner Prognose nach mittelfristig beschäftigen werden.

Rainer Schlegel stellte am Dienstag in Kassel das letzte Mal den Jahresbericht des Bundessozialgerichts (BSG) vor. Kommende Woche erhält der Präsident des Gerichts seine Entlassungsurkunde, zum März wird Christine Fuchsloch das Amt übernehmen. Die noch amtierende Präsidentin des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein nahm bereits per Video an dem Jahrespressegespräch teil.

Diese Art der Präsentation führte das BSG als erstes Bundesgericht im Jahre 2021 in der Corona-Pandemie ein – und rückte seither von dieser hybriden Form nicht mehr ab. Er erreiche damit mehr Teilnehmer:innen, sagt Schlegel. Die Themen zu transportieren und zu verbreiten war ihm stets wichtig, das Thema Gesundheit und Soziales seien schließlich wichtige Themen der Menschen, betonte er schon mehrfach und auch an diesem Dienstag in Kassel.

"Haben aufgerüstet und sind auf dem neuesten Stand"

"Wir haben aufgerüstet und sind jetzt auf dem neuesten Stand bei dem, was Informationstechnik insoweit hergibt", sagte Schlegel. Längst arbeiten alle Senate mit der elektronischen Akte, technisch können die Richter:innen am BSG Videoverhandlungen durchführen. Aber: "Auch wenn wir jetzt dieses Equipment haben und mündliche Verhandlungen per Video durchführen können, finde ich es beruhigend, dass der Gesetzgeber die Durchführung ins Ermessen der Sozialgerichte gestellt hat", meint Schlegel. Das BSG kann demnach diese Art der Verhandlung wählen, muss es aber nicht.

"Für mich ist und bleibt die mündliche Verhandlung das Kernstück eines Gerichtsprozesses. Das ginge ein stückweit verloren, würde man alle Verhandlungen ausschließlich per Video führen ", so der bald ausscheidende Gerichtspräsident. Zur Regel werden sollten sie seiner Meinung nach an den Bundesgerichten nicht. Er selbst habe bei Rechtsgesprächen oft erlebt, dass die Beteiligten neue Argumente ausgetauscht und sich auch verglichen hätten. Rechtsgespräche seien "ein Schatz für Kreativität".

Für die unteren Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit sieht Schlegel noch weitere Probleme. Die Ausstattung der Gerichte falle in die Zuständigkeit der Länder. Es seien deshalb nicht alle Sozialgerichte gleichermaßen gut ausgestattet. Wenn bekannt ist, dass die Verbindung bei einer Videoverhandlung immer wieder abbricht, werde man davon wohl zurecht Abstand nehmen, heißt es daher an diesem Tag in Kassel.

Ebenfalls ein wichtiges Thema bei den Sozialgerichten im Hinblick auf digitale Kommunikation: Der Kontakt mit den Behörden, etwa mit Sozial- oder Jugendämtern. Die sollen zwar bis Januar 2026 mit sogenannten elektronischen Verwaltungsakten ausgestattet sein – noch sind sie es aber nicht. Entsprechend können sie daher auch nicht am elektronischen Austausch von Dokumenten teilnehmen; "ein Hauptproblem in der Sozialgerichtsbarkeit" wie Schlegel sagt.

"BSG personell gut aufgestellt"

Beim BSG hingegen läuft nicht nur die Technik, auch personell ist Schlegel zufrieden. Zum 1. März werden sechs Frauen und vier Männer je einen Vorsitz in einem Senat innehaben, insgesamt werden 21 Richter und 21 Richterinnen am BSG tätig sein. Erstmals wird eine Frau die Präsidentschaft übernehmen. "Das kann sich sehen lassen", meint Schlegel.

Die Anzahl der Eingänge lag 2023 bei insgesamt 2.537 Fällen, die Erledigungen bei 2.569 Akten. Damit lag der Gesamtbestand der unerledigten Verfahren über alle Verfahrensarten hinweg zum Jahresende bei 954, das sind 3,2 Prozent weniger als im Vorjahr.

Auch die durchschnittliche Verfahrensdauer der im Jahr 2023 erledigten Revisionen sank leicht, sie betrug 14,4 Monate gegenüber 14,5 Monaten im Jahr 2022. Innerhalb eines Jahres konnten die Richter:innen 38 Prozent davon erledigen (2022: 33,9 Prozent).

Etwas länger dauerten die Nichtzulassungsbeschwerden: Sie konnten in durchschnittlich 5,6 Monaten abgeschlossen werden (2022: 5,2 Monate). Allerdings konnten 89,7 Prozent der Verfahren innerhalb eines Jahres, 61,2 Prozent der Verfahren sogar innerhalb von sechs Monaten entschieden werden.

Thematisch geht es vor allem um gesetzliche und private Krankenversicherungen, also wer wo versichert ist und wer welche Behandlungen zahlen muss. Hinzu kommen außerdem Fragen zur Grundsicherung bzw. zum Bürgergeld.

Krankenhausreform wird Streit bringen

Für die Zukunft des BSG sagt Schlegel voraus, dass so manche Streitigkeit um die Krankenhausreform bei den Sozialgerichten ankommen wird, die das Gesundheitsministerium auf den Weg bringen will. Die Reform soll eine sichere Gesundheitsversorgung und Finanzierung der Krankenhäuser und weniger Bürokratie bei den Abrechnungen.

Laut Schlegel gibt es allerdings schon jetzt viele Diskussionen um die Frage, wie viel vom Bund geregelt werden darf, ohne in die Kompetenzen der Länder für diesen Bereich einzugreifen. "Nach den bisherigen Informationen zum Referentenentwurf wird die Reform viele Rechtsfragen aufwerfen, die vom BSG entschieden werden müssen", meint Schlegel am Dienstag. Die Planungshoheit für die Krankenhäuser liege nämlich bei den Ländern – und die würden diese auch nicht abgeben wollen.

Ein Thema, das für Schlegel nach wie vor wichtig ist und das er auch im Vorjahr bei der Vorstellung des Jahresberichts 2022 bereits angesprochen hat, ist eine Rentenversicherungsreform. Das Thema präge das Leben der Menschen für Jahrzehnte. "Ich wünsche mir dafür Mehrheiten über das Parteienspektrum der Mitte hinweg."

Auf ein Einsehen hofft er auch bei den Plänen zur Kindergrundsicherung, die noch immer in der politischen Diskussion ist. Nach dem aktuellen Stand würden die bisherigen Zuständigkeiten der Finanzgerichte und der Sozialgerichte beibehalten – je nachdem, ob es um den geplanten Garantiebetrag (bisheriges Kindergeld, Finanzgerichte) oder den bedürfnisabhängigen Zuschlag gehe (Sozialgerichte). Allerdings sind auch Pauschalleistungen vorgesehen, für die wiederum die Verwaltungsgerichte beim Streit zuständig wären. Damit werde eine weitere Schnittstelle geschaffen, obwohl das System doch einfacher werden sollte – das sei bisher also nicht zufriedenstellend gelöst, meint Schlegel. Für ihn steht ohnehin fest: "Ich glaube, die Kinder sind in der Sozialgerichtsbarkeit gut aufgehoben".

Zitiervorschlag

BSG-Jahresbericht 2023: "Mit Videoverhandlungen geht etwas verloren" . In: Legal Tribune Online, 06.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53817/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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