Zoff auf höchster Ebene: Reform der Stra­ßen­ver­kehrs-Ord­nung

Ein Staat, zwei Ministerien, eine StVO, zwei Versionen. Der Entwurf einer runderneuerten Rechtsverordnung für den Straßenverkehr soll dem Verwirrspiel bald ein Ende bereiten – doch obwohl die Reform alle betrifft, werden vermutlich viele Verkehrsteilnehmer nichts von ihr mitbekommen, Fortbildungsveranstaltungen sollten deshalb verpflichtend werden, meint Dieter Müller.

Die Straßenverkehrsordnung (StVO) gibt es aktuell in zwei widersprüchlichen Versionen. Sie wird uns einmal durch das Bundesjustizministerium (BMJ) und zum anderen vom Bundesverkehrsministerium (BMVBS) angeboten. Während das BMJ die "Tiefensee-Novellierung" vom Herbst 2009 als rechtsgültig ansieht, hält das BMVBS weiterhin diese Reform für nichtig.

So ist zum Beispiel der Kreisverkehr nach Auffassung des BMVBS noch in der Norm des § 9a StVO geregelt, die in der Version des BMJ gar nicht mehr existiert: Unter § 9a befindet sich hier der Hinweis "weggefallen", dafür steht der Kreisel in § 8 Abs. 1a StVO. Die Verwirrung ist komplett, weil sich zwangsläufig auch die Auffassungen zum Bußgeldkatalog widersprechen müssen. Der bundeseinheitliche Tatbestandskatalog will Verstöße im Kreisverkehr nach der Norm des § 9a StVO ahnden. Diese Norm ist aber in der BMJ-Version "weggefallen".

Welche Version gilt aber nun? Richtigerweise müsste der Position des BMJ als der Normprüfungsinstanz der gesamten Bundesregierung gefolgt werden. Immerhin weist auch das BMVBS auf der Homepage darauf hin, dass es sich bei ihrer Version "nicht um einen amtlichen Text der StVO" handelt und "keine Gewähr für deren Richtigkeit und Vollständigkeit übernommen" wird.

Änderung der StVO betrifft nicht nur Autofahrer

Diese Einsicht brachte das Verkehrsministerium nun zu dem Entschluss, die StVO komplett neu zu erlassen. Der Entwurf sieht mehr oder minder umfangreiche Korrekturen in über 30 Paragrafen vor. Erstaunlich ist, dass die anstehenden Änderungen  in großen Teilen eigentlich schon seit Ende 2009 bekannt sind: Man kann sie in der StVO-Version des BMJ nachlesen, es geht im Wesentlichen um den Bereich der Verkehrszeichen.

Die Reform betrifft alle Verkehrsteilnehmer: KFZ-Führer ebenso wie Radfahrer und Fußgänger. Für niemanden besteht aber eine gesetzliche Pflicht, die zahlreichen neuen Regeln zu erlernen. Der Rechtsstaat geht einfach davon aus, dass jeder die Normen des Straßenverkehrs beherrscht. Dem ist jedoch bei weitem nicht so – zeigt doch die Verkehrsunfallbilanz jedes Jahr, dass für Unfälle in hohem Maße Verhaltensfehler ursächlich sind.

Nur wer Verkehrsregeln kennt und deren Sinn verstanden hat, wird sich daran halten. Wenn aber selbst eine Befragung von 100 Polizeistudenten zeigt, dass Begriffe wie "Ein- und Ausfädelungsstreifen" (siehe § 7a StVO, Version BMJ) unbekannt sind, dann steht es offensichtlich schlecht um Deutschlands Fahrer. Zur Erklärung: Diese Ausdrücke sind lediglich Synonyme für Beschleunigungs- und Verzögerungsstreifen auf der Autobahn (im Volksmund einfach Auf- und Abfahrt) und tauchen in der BMVBS-Version der StVO nicht auf.

Der Verkehrsteilnehmer weiß von nichts und handelt schuldlos

Wer Verkehrsregeln nicht kennt, dem können sie bei Verstößen nur vorgehalten werden, wenn der Betreffende diese irgendwann einmal erlernt hat und hierüber geprüft wurde. Geschieht dies nicht, befindet er sich bezüglich der neuen Norm in einem so genannten Verbotsirrtum. In § 17 Strafgesetzbuch (StGB) steht hierzu: "Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte".

Beinhaltet die neue Norm also ein Verbot und der Autofahrer weiß davon nichts, ist der Verkehrsteilnehmer schuldlos, wenn er keine Möglichkeit hatte, Kenntnis von der neuen Norm zu erhalten, der Irrtum also unvermeidbar war.

Der Spruch "Unwissenheit schützt vor Strafe nicht" stimmt eben nur dann, wenn ein Irrtum vermeidbar ist, also die Kenntniserlangung unproblematisch möglich war. Dies ist für große Kreise von Verkehrsteilnehmern wie Kinder, Jugendliche und Senioren nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich.

Änderungen müssen die Adressaten erreichen und verständlich sein

Für Neuerungen in Gesetzen nutzen die zuständigen Stellen den formellen Weg über Bundesgesetzblatt und Gesetzgebungsdienste. Einen Zugang hierzu haben Normalbürger im Regelfall nicht. Erreicht wird also nur die verschwindend kleine Gruppe von Autofahrern, die sich entweder als Berufskraftfahrer informieren muss oder aus Interesse das gesetzgeberische Reformvorhaben verfolgt. Alle anderen bleiben zunächst auf der Strecke der Ahnungslosigkeit.

Zwar werden sicherlich Tagespresse, Magazine und Fachzeitschriften über die Reform berichten. Die Frage wird aber sein, ob tatsächlich jede Vorschrift Einzug in die vorderen Seiten halten oder nicht vielmehr ihr Dasein im hinten stehenden Rechtsteil fristen wird.

Letztlich bleiben noch die Automobilverbände, die stark an der Verbreitung neuer Regelungsinhalte interessiert sind und die Mitteilung auf allen ihrer digitalen und gedruckten Medien forcieren. Für einen längeren Zeitraum unerreicht bleiben werden allerdings die Millionen von Verkehrsteilnehmern, die entweder über keine Fahrausbildung und damit -prüfung verfügen oder schlicht keinen Zugang zu oben erwähnten Medien haben.

Neue Wege (er)finden

Staatliche Stellen scheinen jedenfalls davon auszugehen, dass neue Verkehrsregeln selbsterklärend sind und keiner Auslegung der gesetzlichen Feinheiten bedürfen.

Dabei erlebte die Verkehrspolitik erst vor wenigen Monaten, wie verunsichert zahlreiche Autofahrer von der neu eingeführten Winterreifenpflicht waren und wie wenig klar die neue Vorschrift mit ihren verschlungenen Verweisen auf das unzugängliche EU-Recht gelungen war.

Spätestens mit der anstehenden Reform sollte man nun über die Einführung einer Pflicht zur Fortbildung nachdenken. Die Kurse könnten Fahrschulen oder Verkehrswachten anbieten, Jugendliche und Kinder über Kindergärten und Schulen erreicht werden. Für Senioren böten sich Seniorennachmittage oder Informationsveranstaltungen an, die von Präventionsbeamten der Polizei durchgeführt werden könnten.

Wenn schon die Ministerien streiten…

Skandalös ist es in jedem Fall, dass die StVO von zwei Bundesministerien unterschiedlich angeboten wird. Wenn sich nicht einmal die Ämter über die wichtigsten Vorschriften des Straßenverkehrsrechts einigen können, wie sollen dann die Verkehrsteilnehmer wissen, wonach sie sich richten müssen?
Rechtsanwender wie Bußgeldbehörden und Polizei haben derzeit mit widersprüchlichen Tatbeständen und Sanktionsmöglichkeiten zu kämpfen, und jeder Autofahrer und Rechtsanwalt ist gut beraten, Verwarnungs- und Bußgelder auf die angewandte Version der StVO und des Bußgeldkataloges hin zu überprüfen.

Der Bundesverkehrsminister macht es sich jedenfalls zu leicht, wenn er einfach eine runderneuerte StVO erlassen möchte und hofft, alle Verkehrsteilnehmer würden deren Inhalte sofort verstehen und hiernach handeln. Wenn neue Verkehrsnormen nämlich zur Verkehrssicherheit beitragen sollen, müssen diese auch unter allen Betroffenen bekannt sein. Es ist an der Zeit, dabei neue Wege der Information zu beschreiten.

Der Autor Prof. Dr. Dieter Müller ist Fachbereichsleiter für Verkehrswissenschaften an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH), wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen und Autor zahlreicher Publikationen zum Verkehrsrecht.

 

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Zitiervorschlag

Dieter Müller, Zoff auf höchster Ebene: Reform der Straßenverkehrs-Ordnung . In: Legal Tribune Online, 01.08.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3899/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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