Opferrechte in Völkerstrafprozessen: "Gewich­ti­gere und eigen­stän­di­gere Rolle vor deut­schen Gerichten"

von Dr. Franziska Kring

14.10.2022

Der GBA verfolgt "worst crimes of humanity" weltweit. Allerdings können sich die Opfer der Völkerstraftaten nicht als Nebenkläger am Prozess in Deutschland beteiligen. Das will Hamburg ändern und bringt vor der JuMiKo einen Vorschlag ein.

Die "schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren", dürfen nicht ungestraft bleiben. So steht es in der Präambel des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH).

Diese schwersten Verbrechen unter der Gerichtsbarkeit des IStGH sind Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und – offiziell seit dem 17. Juli 2018 – das Verbrechen der Aggression.

Nicht nur der IStGH verfolgt Völkerrechtsverbrechen. Vor mehr als 20 Jahren ist das deutsche Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) in Kraft getreten – einen Tag, bevor der IStGH in Den Haag seine Arbeit aufgenommen hat. Aufgrund des sogenannten Weltrechtsprinzips darf die Bundesanwaltschaft auch im Ausland begangene Taten verfolgen, die gar keinen Bezug zu Deutschland aufweisen. Eine Einschränkung gibt es nur beim Verbrechen der Aggression: Hier muss der Täter Deutscher sein oder die Tat sich gegen die Bundesrepublik Deutschland richten.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten – die ersten Ermittlungsverfahren gab es erst mehr als fünf Jahre nach Inkrafttreten des VStGB, die erste Anklage im Jahr 2011 – fällt die Bilanz zum 20. Geburtstag des VStGB verhalten optimistisch aus: Das VStGB habe sich "im Grundsatz als tragfähig erwiesen", so Prof. Dr. Florian Jeßberger, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, in einem Pressegespräch des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) am 14. Juni 2022.

Das ECCHR selbst lobte in einem Statement, "dass sich eine völkerstrafrechtliche Praxis herausgebildet hat", meldete aber gleichzeitig Reformbedarf an.

Hamburgs Justizsenatorin: "Gesetzliche Lücken für die Opfer von Völkerstraftaten schließen"

Ein zentraler Kritikpunkt ist die fehlende Nebenklagefähigkeit der Straftatbestände des VStGB, diese fehlen im Katalog des § 395 Strafprozessordnung (StPO). Die Vorschrift nennt etwa Körperverletzungs- und (versuchte) Tötungsdelikte, Menschenhandel sowie sexuellen Missbrauch, die völkerstrafrechtlichen Delikte tauchen jedoch nicht auf.

Genau an diesem Punkt setzt ein Vorstoß aus Hamburg an: Die dortige Justizsenatorin Anna Gallina will sich für die Stärkung der Opferrechte in Völkerstrafprozessen einsetzen. "Das Bundesjustizministerium sollte dringend prüfen, welche gesetzlichen Lücken für diese Opfer geschlossen werden müssen", so Gallina gegenüber LTO. "Insbesondere sollte geprüft werden, ob ihnen die gleichen Rechte zukommen sollten wie den Opfern anderer Verbrechen, wie etwa Vergewaltigung oder Menschenhandel", sagt sie.

Demnach soll der Bundesjustizminister aufgefordert werden, zu prüfen, wie durch Völkerstraftaten Verletzte in Verfahren nach dem VStGB effektiv beteiligt werden können. Dafür könnten die Delikte des VStGB in den Katalog der Nebenklagedelikte aufgenommen werden, wie beispielsweise das Verbrechen des Völkermords, heißt es in einer Mitteilung der Hamburger Behörde für Justiz und Verbraucherschutz, die LTO vorliegt. Senatorin Gallina findet deutliche Worte: "Opfer von Kriegsverbrechen müssen eine gewichtigere und eigenständigere Rolle in Völkerstrafprozessen vor deutschen Gerichten bekommen."

Thüringens Justizminister Dirk Adams hat sich der Forderung aus Hamburg bereits angeschlossen: "Die Stärkung von Opferrechten hinsichtlich des Völkerstrafrechts ist ein wichtiger Schritt, der auf dessen grundlegenden Gedanken beruht. Denn zu viele Opfer – mitunter die gesamte Zivilbevölkerung – finden gar kein Gehör, weil sie keinen Zugang zur Justiz und keine Unterstützung erhalten."

Bündelung der Nebenkläger für mehr Effektivität

Konkreter Anlass für den Vorschlag aus Hamburg ist vor allem die Verfolgung von Kriegsverbrechen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Bereits kurz nach Kriegsbeginn hatte der Generalbundesanwalt ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren eingeleitet. Dabei geht es zunächst darum, ohne konkrete Beschuldigte möglichst breit Beweise zu sichern. Diese Informationen sollen später dazu dienen, Einzelne strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Derartige Kriegsverbrechen können sich allerdings gegen eine ganze Zivilbevölkerung richten, deshalb müsse gleichzeitig sichergestellt werden, dass die Verfahren trotz der hohen Anzahl an Verletzten effektiv geführt werden können, heißt es in dem Vorschlag. Deshalb "sollten auch die flankierenden Regelungen in den Blick genommen werden, um Völkerstrafprozesse weiterhin prozessökonomisch durchführen zu können", so Adams. Er regt hierzu die Bündelung der teilweise sehr hohen Zahl an möglichen Nebenklägern an.

Im NSU-Prozess zum Beispiel, der fast fünf Jahre dauerte, ist die Nebenklage an ihre Grenzen gestoßen: Gut 50 Anwälte von Geschädigten oder ihren Angehörigen nahmen regelmäßig an der Hauptverhandlung teil.

Die im Jahr 2019 eingefügte Regelung in §397b StPO sieht daher vor, dass das Gericht mehreren Nebenklägern bei "gleichgelagerten Interessen" einen gemeinschaftlichen Rechtsanwalt als Beistand beiordnen kann, etwa bei mehreren Angehörigen einer getöteten Person. Eine derartige Regelung würde dann entsprechend für die Delikte des VStGB gelten.

Völkerstrafrechtler: Aktuelle deutsche Rechtslage wirkt widersprüchlich

Das IStGH-Statut sieht vor allem in Art. 68 schon jetzt umfangreiche Opferbeteiligungsrechte vor, woran sich das VStGB orientieren könnte: "Wenn wir ein Parallelverfahren zu einem Verfahren am IStGH materiell-rechtlich abbilden wollen, sollten wir auch ähnliche Opferrechte haben", sagt Prof. Dr. Christoph Safferling, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 

Die aktuelle deutsche Rechtslage wirke widersprüchlich, so auch Prof. Dr. Stefanie Bock, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg. Opfer völkerrechtlicher Verbrechen könnten ihre Nebenklagebefugnis zwar unter Umständen über tateinheitlich verwirklichte "nationale" Delikte, etwa (versuchter) Mord oder Totschlag verwirklichen, dennoch führe die Nichtberücksichtigung der Völkerrechtsverbrechen in § 395 StPO zu Spannungen.  

Der Katalog der nebenklagefähigen Delikte orientiere sich an der Schwere der Tat, also vor allem an dem Umfang der von den Verletzten erlittenen Schäden. "Ausgerechnet die völkerrechtlichen Verbrechen, die 'worst crimes known to humanity', werden ausgespart", so Bock.

Auch Safferling hält die Einbeziehung von Völkerstraftaten in den Katalog der nebenklagefähigen Delikte für "geradezu zwingend nach der jetzigen Idee der Nebenklage". Früher habe die Nebenklage primär dazu gedient, Persönlichkeitsrechte zu schützen, dies habe sich aber gewandelt. Jetzt gehe es vor allem um schwere oder sensible Delikte, etwa mit sexuellem Bezug. Der Fall Jennifer W., in dem eine Nebenklage u.a. wegen des Mordvorwurfs zugelassen war, zeige, dass die Nebenklage auch in völkerstrafrechtlichen Prozessen ein sinnvolles Mittel sei.

Nur Delikte gegen Individualrechtsgüter nebenklagefähig

Allerdings gebe es in dogmatischer Hinsicht noch Herausforderungen, so Bock, denn grundsätzlich sind nur Delikte nebenklagefähig, die sich gegen Individualrechtsgüter richten. Dies sei bei den völkerrechtlichen Delikten umstritten: Dort müsse man sich fragen, ob sie die individuell Betroffenen oder die internationale Staatengemeinschaft mit ihren kollektiven Rechtsgütern Frieden und Sicherheit schützen, so Bock. "Zumindest für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen dürfte die herrschende, menschenrechtsorientierte Ansicht mittlerweile davon ausgehen, dass sie primär dem Schutz von Individualrechtsgütern dienen", sagt die Völkerstrafrechtlerin.

Beim Verbrechen der Aggression hingegen sei die Situation komplexer, denn nach traditioneller Ansicht gehe es nur um den Schutz staatlicher Souveränität, sagt Bock. Eine Möglichkeit wäre es allerdings, die Tat "menschenrechtlich neu zu konzeptualisieren": "Man könnte anführen, dass das besondere Unrecht des Angriffskrieges darin besteht, dass er eine Situation schafft, in der Menschen rechtmäßig getötet werden dürfen. Damit läge der Schwerpunkt wieder auf dem Schutz von Individualrechtsgütern."

Der Bedarf, Opfer stärker an völkerstrafrechtlichen Prozessen zu beteiligen, ist in jedem Fall da – jetzt geht es an die Umsetzung. Über den Vorschlag aus Hamburg werden die Länder im Vorfeld der Justizministerkonferenz beraten, die am 10. November 2022 in Berlin stattfindet.

Zitiervorschlag

Opferrechte in Völkerstrafprozessen: "Gewichtigere und eigenständigere Rolle vor deutschen Gerichten" . In: Legal Tribune Online, 14.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49893/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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