Neues Wahlrecht zum Bundestag: Es bleibt eine Qual

von Dr. Sebastian Roßner

14.01.2013

2/2: Addition und Division bis alles ausgeglichen ist

Wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen in dem Land an Sitzen zusteht, führt dies zu Überhangmandaten, die der Partei erhalten bleiben (§ 6 Abs. 4 S. 2 BWahlG). Diese vorläufigen Landesergebnisse werden dann addiert, woraus sich eine vorläufige Zusammensetzung des Bundestages ergibt, die aber nur als Basis für die weitere Berechnung dient.

Anschließend wird der zweite Rechenschritt durchgeführt (§ 6 Abs. 5, Abs. 6 S. 1 BWahlG), der die Überhangmandate, aber auch die unterschiedliche Wahlbeteiligung in den Ländern ausgleichen soll. Dazu wird, vereinfacht gesagt, zunächst die Gesamtzahl der bundesweit abgegebenen Zweitstimmen durch die gesetzliche Sitzzahl des Bundestages dividiert. Für jede Partei werden dann die von ihr bundesweit gewonnenen Zweitstimmen durch diesen Divisor geteilt, woraus sich ein Zwischenergebnis für die von der Partei gewonnenen Mandate ergibt.

Dieses Zwischenergebnis wird aber bei einigen Parteien unterhalb der Mandatszahl liegen, die im ersten Berechnungsschritt ermittelt wurde, und zwar wegen der Überhangmandate wie auch wegen der niedrigeren Wahlbeteiligung in einigen Ländern. Deshalb wird die Sitzzahl des Bundestages solange erhöht, bis sich bei erneuter Durchführung des zweiten Rechenschritts ein Divisor errechnet, bei dessen Anwendung jede Partei mindestens ebenso viele Mandate erhält, wie sie nach dem ersten Berechnungsschritt erhalten hat, also inklusive etwaiger Überhangmandate. Die so hinzugefügten Sitze dienen als Ausgleichsmandate und kommen den Parteien zugute, die schwach an Überhangmandaten sind oder die hauptsächlich in Ländern mit hoher Wahlbeteiligung erfolgreich waren.

Auch Kompensation regional unterschiedlicher Wahlbeteiligungen

Wendet man dieses Verfahren auf die Wahlen von 2009 an, erhalten alle Parteien Ausgleichsmandate mit Ausnahme der CDU, die 22 von 25 Überhangmandaten gewann. Zieht man hingegen die Wahlen von 1998 heran, bei denen lediglich die SPD fünf Überhangmandate gewann, würden nach dem neuen Entwurf des BWahlG alle Parteien, auch die SPD selber, Ausgleichsmandate erhalten, mit Ausnahme der PDS, die vor allem in den östlichen Ländern mit geringer Wahlbeteiligung erfolgreich war. Es werden also auch die regional unterschiedlichen Wahlbeteiligungen kompensiert.

Ein negatives Stimmgewicht kann in dem neuen System dann auftreten, wenn eine Partei einer anderen, die einen besonders hohen Ausgleichsbedarf erzeugt – sei es, dass sie viele Überhangmandate gewonnen hat, sei es, dass sie besonders von einer niedrigen Wahlbeteiligung in einigen Ländern profitiert – durch Zweitstimmengewinne ein Mandat wegnimmt. Dies kann zu einer geringeren Zahl von Ausgleichsmandaten führen, die im zweiten Berechnungsschritt verteilt werden müssen. Dadurch ist es möglich, dass der Gewinn einer Stimme durch eine geringere Zuteilung von Ausgleichsmandaten nicht nur aufgezehrt, sondern sogar überkompensiert wird: Der Gewinn von Zweitstimmen wirkt sich dann in einem Mandatsverlust aus.

Komplex und intransparent

Das negative Stimmgewicht ist ein verfassungsrechtliches Problem, das aber nicht zu einem erneuten Verfahren vor dem BVerfG führen muss. Das Gericht hat nämlich in seinen bisherigen Entscheidungen deutlich gemacht, dass es nicht nur auf die bloße Möglichkeit, sondern auf eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ankommt, mit der das negative Stimmgewicht auftritt. Karlsruhe hat sich also eine Hintertür offen gelassen, um nicht zum dritten Mal in Folge das BWahlG verwerfen zu müssen. Zumal dies angesichts des nahen Wahltermins wohl eine richterliche Übergangsregelung nötig machen würde.

Der Ausgleich unterschiedlicher Wahlbeteiligungen in den Bundesländern trifft zwar faktisch vor allem die Partei Die Linke, ist also in seiner Auswirkung politisch nicht neutral. Um den Wählerstimmen möglichst gleiche Wirkung zu geben, wird der Gesetzgeber diesen Weg aber wohl gehen dürfen. Die Linke hat denn auch durchblicken lassen, auf eine Klage zu verzichten.

Bei alledem ist das neue Wahlrecht derart komplex geraten, dass es für den wählenden Bürger intransparent bleibt. Eine durchschaubarere Regelung wird aber kaum möglich sein, solange die Parteien weder auf die Wahl von Direkt- und Listenkandidaten noch auf die Wahl nach Landeslisten verzichten wollen.

Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.

Zitiervorschlag

Sebastian Roßner, Neues Wahlrecht zum Bundestag: Es bleibt eine Qual . In: Legal Tribune Online, 14.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7953/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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