Die Konturen des neuen Wahlrechts stehen fest. Die Bundestagsfraktionen werden den Entwurf in den kommenden Wochen mit Ausnahme der Linken verabschieden, wenngleich der Innenausschuss am Montag noch eine öffentliche Anhörung durchführt. Es wird die dritte Fassung des BWahlG sein, die innerhalb der letzten zwei Jahre in Kraft ist. Dass das BVerfG erneut einschreitet, erwartet Sebastian Roßner nicht.
Zum einen monierte Karlsruhe den Umstand, dass Überhangmandate mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer erheblichen Verzerrung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag führen, wie sie sich aus dem maßgeblichen Proporz der Zweitstimmen eigentlich ergeben.
Zum anderen bemängelte das Gericht den Effekt des negativen Stimmgewichts, bei dem ein Zuwachs an Zweitstimmen für eine Partei zu einem Verlust an Mandaten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Gewinn an Mandaten führt; sich eine Stimme also entgegen der Intention des Wählers auswirkt.
Nun haben die Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der Linken einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht, der am Montag im Innenausschuss im Rahmen einer öffentlichen Anhörung debattiert wird. Die vorgeschlagenen Änderungen hinterlassen einen faden Nachgeschmack: Zwar werden die Überhangmandate ausgeglichen, das negative Stimmgewicht wird dagegen nicht beseitigt. Außerdem führt das neue Wahlrecht voraussichtlich zu einer spürbaren Vergrößerung des Bundestages.
Machen mehr Abgeordnete ein besseres Parlament?
Der erste der beiden Kritikpunkte ist ausgeräumt. Das neue Wahlrecht gleicht Überhangmandate vollständig aus, indem den übrigen Parteien solange weitere Mandate zugeteilt werden, bis der Zweitstimmenproporz im Bundestag wieder hergestellt ist.
Der vollständige Ausgleich hat naturgemäß den Pferdefuß, dass der Bundestag größer werden wird als bisher. Nach einer Berechnung des Bundeswahlleiters müsste der jetzige Bundestag nach dem neuen Entwurf von ursprünglich 622 auf 671 Mitglieder vergrößert werden. Der Zuwachs ist also nicht unwesentlich, aber gewiss kein Grund, die Alarmglocke zu läuten, wie es der Bund der Steuerzahler tut. Selbst falls dessen Prognose wahr würde und Zusatzausgaben von bis zu 60 Millionen Euro im Jahr auf den Steuerzahler zukämen, wären dies Kosten, die eine Demokratie nun einmal verursacht, und als solche sind sie verschmerzbar.
Trotzdem gibt es Gründe, über eine Reduzierung der Mandate nachzudenken. Es macht nachdenklich, dass die Vereinigten Staaten von Amerika nur 535 Abgeordnete und Senatoren haben oder dass Indien mit 550 gewählten Abgeordneten auskommt. Zwar hängt die Mindestgröße eines Parlaments nicht von der Anzahl der Einwohner des Landes ab, sondern von der Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben. Der internationale Vergleich schürt aber Skepsis, ob der neue Entwurf nicht mehr Volksvertreter vorsieht, als sinnvoll wären.
Mehr Parlamentarier erhöhen den Kommunikations- und Abstimmungsaufwand. Zusätzliche Abgeordnete verbessern also mutmaßlich ab einem gewissen Punkt die parlamentarische Arbeit nicht mehr, sondern erschweren sie sogar. Diese Schwelle ist freilich kaum genau zu bestimmen. Auch ist die Frage eine verfassungspolitische und keine verfassungsrechtliche.
Negatives Stimmgewicht bleibt ungelöst
Das zweite große Problem des BWahlG 2011, das negative Stimmgewicht, ist immer noch nicht vollständig gelöst. Denn die Vergabe der Ausgleichsmandate lässt nach wie vor Konstellationen zu, in denen Zweitstimmengewinne für eine Partei einen Mandatsverlust nach sich ziehen würden.
Zugleich werden durch das neue Verfahren nicht nur Überhangmandate, sondern auch – bisher publizistisch kaum erwähnt – unterschiedlich hohe Wahlbeteiligungen in den Bundesländern ausgeglichen. Dies ist nicht ohne politische Relevanz.
Um diese beiden Effekte nachzuvollziehen, muss man sich die grundlegende Konstruktion des Sitzverteilungsverfahrens vor Augen halten: Gewählt wird nach Landeslisten. Allen Bundesländer wird ein Sitzkontingent zugeteilt, das ihrem Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung entspricht (§ 6 Abs. 2 S. 1 BWahlG). Innerhalb der Länder werden dann die Mandate auf die Landeslisten verteilt, indem die Zahl der insgesamt abgegebenen Zweitstimmen durch die Zahl der dem Land zustehenden Sitze dividiert wird.
Durch den so entstandenen Divisor werden anschließend die auf die einzelnen Landeslisten entfallenden Zweitstimmen geteilt, um die Zahl der jeweils gewonnenen Sitze zu ermitteln. Eine geringere Wahlbeteiligung in einem Land bedeutet daher eine geringere Anzahl an Zweitstimmen, die im ersten Berechnungsschritt für den Gewinn eines Mandats nötig ist.
Sebastian Roßner, Neues Wahlrecht zum Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 14.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7953 (abgerufen am: 04.10.2024 )
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