Informationsfreiheit im Ukraine-Krieg: "Wenn man nicht in diesem Fall Pro­pa­ganda ver­bietet, wann dann?"

Interview von Annelie Kaufmann

07.03.2022

Sender ziehen Korrespondenten aus Moskau ab, weil sie nicht mehr frei berichten können. Die EU verbietet russische Staatsmedien. Wie die Informationsfreiheit im Krieg verloren geht und welche Regeln gelten, erklärt Tobias Keber im Interview.

LTO: Herr Professor Keber, Sie sind Medien- und Völkerrechtler. Was verstehen Sie unter einem "Informationskrieg"?

Prof. Dr. Tobias Keber: Das ist ein schillernder Begriff. Völkerrechtlich ist er nicht abschließend definiert, dennoch spricht man häufig davon, im internationalen Kontext insbesondere von "information warfare". Man kann sich darunter Unterschiedliches vorstellen, grundsätzlich geht es aber um zwei Punkte: Zum einen geht es um die Herrschaft über Inhalte – wer erhält welche Informationen? Zum anderen geht es um Angriffe auf Informations-Infrastrukturen, also zum Beispiel um Hackerangriffe oder militärische Cyber-Operationen. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine sehen wir beides, Propaganda und massive Einschränkungen von Informationen in Russland, aber auch ein Hacking-Problem.

Die Deutungshoheit über das Kriegsgeschehen ist ein zentraler Punkt des Informationskriegs. Ist es geradezu typisch, dass im Kriegsfall Informations- und Meinungsfreiheit verloren gehen?

Ja, die Informations- und Meinungsfreiheit leiden in bewaffneten Konflikten. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele in der Geschichte. Etwa das sogenannten Rundfunkverbrechen im nationalsozialistischen Deutschland, ab 1939 war es ein Straftatbestand, Feindsender zu hören, es drohten Gefängnis, Zuchthaus oder sogar die Todesstrafe. Ein anderes Beispiel: Beim Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994 spielten Radiosender eine große Rolle, sie brachten monatelange Hetzkampagnen. Das sind zwei Extreme, massive Einschränkung freier Kommunikation einerseits, Kriegspropaganda andererseits.

Russland hat laut Medienberichten inzwischen den Zugang zu Facebook, Twitter und anderen Netzwerken gesperrt, ebenso zu Auslandssendern wie der Deutschen Welle oder BBC. Journalisten drohen bis zu 15 Jahre Haft bei "Falschmeldungen" über das russische Militär. Wie bewerten Sie das?

Wenn man das an unseren Maßstäben misst: Das sind einschneidende Verletzungen der Informations- und Meinungsfreiheit, Verstöße gegen das Prinzip der Staatsferne und gegen das Prinzip der Programmfreiheit von Medien. Es ist auch eine klare Verletzung von Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Demnach sind Einschränkungen der Meinungsfreiheit nur möglich, wenn sie verhältnismäßig sind – ähnlich wie wir es aus Artikel 5 Grundgesetz kennen. Russland hat die EMRK ratifiziert, wenn also etwa eine russische Journalistin in Straßburg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen diese Maßnahmen vorgehen würde, würde sie sicher Recht bekommen.

Es wäre ja nicht das erste Mal, dass Russland sich vor dem EGMR wegen einer Verletzung der Kommunikationsfreiheiten verantworten muss. So hat der EGMR 2020 in vier Urteilen gegen die Russische Föderation festgestellt, dass die Sperrung von Websites und Medienplattformen in Russland mit dem in Artikel 10 EMRK garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit nicht vereinbar war. Die Fälle betrafen unter anderem pauschale Sperrungen von oppositionsnahen Medien. In der Situation jetzt mit dem internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und Russland gilt grundsätzlich nichts anderes, denn die Kommunikationsfreiheiten der EMRK werden durch das humanitäre Völkerrecht nicht verdrängt.

Leider hat Putin schon oft bewiesen, dass ihn die Entscheidungen des EGMR überhaupt nicht kümmern.

"Das Völkerrecht nimmt Kriegspropaganda sehr ernst"

Schützt das Völkerrecht die Meinungs- und Informationsfreiheit – gerade im Kriegsfall?

Wir sind aus unserer westlichen Perspektive leicht geneigt zu glauben, freie Informationen und Meinungsaustausch, der sogenannte free flow of information sei ein universelles Menschenrecht. Aber ganz so einfach ist es nicht. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen, kurz UN-Zivilpakt oder IPbpR, den auch Russland ratifiziert hat, sieht zwar in Art. 19 Abs. 2 Meinungsfreiheit vor, aber aus Art. 19 Abs. 3 wird deutlich, dass weitgehende Einschränkungen möglich sind – Sicherheitsinteressen eines Staates können etwa ein Grund sein.

Diese gegenläufigen Prinzipien sehen Sie auch in der Konstitution der Internationalen Fernmeldeunion. Das ist ein völkerrechtlicher Vertrag zur Koordination des internationalen grenzüberschreitenden Fernmeldewesens, der von fast allen Staaten der Erde unterzeichnet und ratifiziert wurde. Das Prinzip free flow of information finden Sie dort in Artikel 33 und gleich im Anschluss ist das Gegenprinzip geregelt, nämlich, dass Staaten zum Anhalten von Kommunikation berechtigt sind, wenn diese ihre Sicherheitsinteressen berührt.

Was gilt für Kriegspropaganda?

Da müssen wir noch einmal zurück zum UN-Zivilpakt und finden direkt im Anschluss an die individuelle Kommunikationsfreiheit in Artikel 19 eine an die Staaten gerichtete objektivrechtliche Vorgabe. Art 20 IPbpR verbietet die Verbreitung von Kriegspropaganda! Und zwar sehr weitgehend, jede Kriegspropaganda und jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, muss durch Gesetz verboten werden. Das ist unter Medienrechtlern hochumstritten und einige demokratische Staaten wie Dänemark, Finnland, die Niederlande und die Schweiz haben bei Abschluss des Zivilpakts Vorbehalte gegen Artikel 20 IPbpR erklärt, weil sie nicht zuletzt wegen der unscharfen Begrifflichkeit eine zu starke Einschränkung des Meinungsaustausches und damit den in Artikel 19 geregelten Grundsätzen fürchten. Jedenfalls zeigt Artikel 20 IPbpR: Das Völkerrecht nimmt Kriegspropaganda sehr ernst, weil sie wirklich den internationalen Frieden gefährdet.

Das heißt alle Staaten, die den IpbpR ratifiziert haben – wie Deutschland –, müssen russische Propaganda, die den Angriffskrieg rechtfertigen soll, gesetzlich verbieten?

Das Problem ist: Was genau ist Kriegspropaganda? Bisher war das eine eher theoretische Frage. Wir haben hier eine Situation, die wir sehr lange nicht mehr hatten, einen Angriffskrieg, eine glasklare Aggression, die schlimmste Verletzung des Völkerrechts – und die wird begleitet mit Propaganda, etwa mit unwahren Behauptungen darüber, die russischstämmige Bevölkerung sei in der Ukraine gefährdet. Sind solche Fake News Kriegspropaganda? Da muss man beobachten wie andere Staaten darauf reagieren. Hier kann sich jetzt die für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht so wichtige Staatenpraxis zeigen.

Die EU hat Sanktionen gegen die russischen Staatsmedien Russia Today und Sputnik verhängt. Die Sender dürfen ihre Programme nicht mehr ausstrahlen, außerdem ist es etwa App Stores und Internet-Anbietern verboten, den Zugang zu diesen Medien zu ermöglichen. Halten Sie das für richtig?

Als Medienrechtler sehe ich das kritisch, es ist schon eine sehr weitgehende Einschränkung der Informationsfreiheit, wenn ganze Sender verboten werden. Als Völkerrechtler halte ich es für richtig. Das Gewaltverbot ist der Kern der Nachkriegsordnung der internationalen Staatengemeinschaft. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist ein so eklatanter Verstoß, wenn man nicht in diesem Fall den Völkerrechtbruch begleitende und ihn rechtfertigende Propaganda verbietet, wann dann?

"Bilder von Kriegsgefangenen sind nicht immer ein Verstoß gegen die GFK, aber man sollte sie nicht teilen"

Viele Sender, etwa CNN, BBC, ARD und ZDF, ziehen ihre Korrespondenten nun aus Russland ab, weil eine freie Berichterstattung nicht mehr möglich ist. Aus der Ukraine berichten aber weiterhin Kriegsreporter. Wie sind die von den Genfer Konventionen geschützt?

Man muss hier unterscheiden: Ein Kriegsberichterstatter ist jemand, der nah bei der Truppe agiert – das ist der "embedded journalism", das haben vor allem die US-Amerikaner im Irakkrieg so gemacht. Kriegsberichterstatter sind keine Kombattanten, aber sie bekommen den Status als Kriegsgefangene, falls sie festgenommen werden. Das ist gut, Kriegsgefangene werden durch die Genfer Konventionen besonders geschützt. Grundsätzlich sind Journalisten aus Sicht des humanitären Völkerrechts Zivilisten. Zivilisten sind durch die Genfer Konventionen geschützt – aber im Krieg, naja. Im Zweifelsfall hilft das nicht viel.

Im Netz kursieren Bilder, die angeblich russischer Soldaten in ukrainischer Kriegsgefangenschaft zeigen. Zu sehen ist etwa, wie einem russischen Soldaten Tee gereicht wird, ein anderer telefoniert weinend mit seiner Mutter, ein weitere bittet vor der Kamera um Verzeihung für die Angriffe. Verifizieren lassen sich die Aufnahmen derzeit nicht. Verstößt die Ukraine damit gegen die Genfer Konventionen?

Die Behandlung von Kriegsgefangenen regelt die 3. Genfer Konvention. In Artikel 14 ist festgelegt, dass die Gefangenen mit Würde zu behandeln sind, wörtlich heißt es, sie haben "unter allen Umständen Anspruch auf Achtung ihrer Person und Ehre". Zudem sollen sie gemäß Artikel 13 vor öffentlicher Neugier geschützt werden. Es ist also klar, dass keine entwürdigenden Bilder gezeigt werden dürfen, wie etwa die Folterbilder aus dem US-Gefängnis Abu Ghraib im Irakkrieg. Wenn jetzt einem russischen Soldaten Tee gereicht wird, kann man darüber streiten: Degradiert ihn das? Es ist nicht unbedingt ein Verstoß gegen die Genfer Konvention, zumal sich das in erster Linie an die Konfliktparteien richtet und nicht an jeden Twitter User, der ein bestimmtes Bild retweetet. Aber mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen sollte man solche Bilder ganz einfach nicht teilen.

Tun die großen sozialen Netzwerke wie Meta, Twitter und Youtube genug gegen Propaganda und Fake News? Oder braucht es gerade jetzt eine stärkere staatliche Regulierung?

Facebook, Instagram und Youtube haben russische Staatsmedien wie Russia Today und Sputnik blockiert, auch Twitter tut das jetzt, nachdem es zunächst staatsnahe Medien nur gekennzeichnet hatte. Die großen Netzwerke haben durchaus reagiert, aber das reicht nicht. Allerdings ist es auch nach wie vor unklar, wie sie am besten mit Desinformation und mit falschen Informationen umgehen sollten. Man braucht hier vor allem definitorische Klarheit. Die Hoffnung ist ja, dass mit dem Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union künftig vieles besser wird. Der DSA soll einen klaren Rahmen für die großen Netzwerke abstecken, sodass Fake News und Hatespeech besser bekämpft werden können und Persönlichkeitsrechte gewahrt werden. Ob das so gelingt, bleibt abzuwarten, bisher ist noch nicht klar, wie genau die Regelungen aussehen sollen.

Prof. Dr. iur. Tobias Keber ist Professur für Medienrecht und Medienpolitik in der digitalen Gesellschaft an der Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart. Promoviert hat er zum Begriff des Terrorismus im Völkerrecht, zu seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten gehört das internationale Medienrecht.

Zitiervorschlag

Informationsfreiheit im Ukraine-Krieg: "Wenn man nicht in diesem Fall Propaganda verbietet, wann dann?" . In: Legal Tribune Online, 07.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47740/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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