EuGH zum Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht: Uni­ons­recht hat nicht immer Vor­rang

von Dr. Philipp B. Donath, RA

05.12.2017

2/2: EuGH respektiert die Rechtsansicht des italienischen Verfassungsgerichtshofs

Diese Auffassung hinsichtlich der Verfassungsidentität in Italien hat der EuGH in seiner Entscheidung nun akzeptiert. Die Luxemburger Richter erkennen damit – anders als noch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 18.5.2017 – die vom italienischen VerfGH dargelegte Rechtsauffassung an, dass die Verjährungsbestimmungen in Italien zum materiellen Recht gehören und damit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterfallen. Zwar lege Art. 325 AEUV den Mitgliedstaaten unbedingte Verpflichtungen auf, die insbesondere den nationalen Gesetzgeber ansprechen. Aber nationale Gerichte dürften ausnahmsweise davon absehen, einer unionsrechtswidrigen Rechtslage abzuhelfen, wenn dadurch der ins Feld geführte nationale Verfassungsgrundsatz verletzt würde, so der EuGH.

Im Ergebnis wird damit möglicherweise eine unbestimmte Anzahl an Straftätern wegen zu knapper Verjährungsfristen in Italien mit Straffreiheit davonkommen. Doch der EuGH stuft den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im nationalen Recht höherrangig ein als die Verpflichtungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union aus dem europäischen Primärrecht.

Bezüglich des Inhalts dieses Grundsatzes nimmt der EuGH auf nationale Rechtsauffassungen Rücksicht, da er sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der Unionsrechtsordnung von grundlegender Bedeutung sei. Seine Entscheidung begründete der EuGH insbesondere mit der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und dem Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen, die sich sowohl in der EU-Grundrechtecharta als auch in der EMRK wiederfänden.

Echte Kooperation zwischen dem EuGH und den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten

Nun ist die Entscheidung nicht unmittelbar auf Deutschland übertragbar, denn die Verjährungsvorschriften des Strafrechts werden in Deutschland nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG (vgl. Beschl. v. 31.01.2000, Az. 2 BvR 104/2000) lediglich als Verfahrensregeln qualifiziert. Somit gibt es nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit im Strafrecht nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz (GG) keinen Vertrauensschutz bezüglich der Verfolgbarkeit einer Straftat. Hierfür gilt mithin auch kein strenges Rückwirkungsverbot. Somit sind Verjährungsregelungen in Deutschland nicht Teil der Verfassungsidentität.

Allerdings bilden andere Aspekte – über Art. 79 Abs. 3 GG insbesondere die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze – den Kern der deutschen Verfassung. Daher sind auch zwischen dem deutschen Verfassungsgericht und dem EuGH ähnliche Konstellationen und Normenkonflikte denkbar. Das BVerfG behält sich hierbei vor, in bestimmten Fällen Unionsrechtsakte insbesondere im Wege einer Identitätskontrolle und einer ultra-vires-Kontrolle auf ihre Wirksamkeit in Deutschland zu überprüfen.
Die Erschaffung eines wirklichen Kooperationsverhältnisses zwischen dem BVerfG und dem EuGH war in den vergangenen Jahren durchaus von einem Ringen um ein "Letztentscheidungsrecht" geprägt. Mit der Entscheidung vom Dienstag ist der EuGH aber deutlich auf die Mitgliedstaaten zugegangen. Es kann nun durchaus von einem echten Kooperationsverhältnis gesprochen werden.

Die Luxemburger Richter nehmen in diesem Urteil besondere Rücksicht auf die Rechtsauffassungen in den Mitgliedstaaten und setzen nicht unreflektiert einen Anspruch auf Einheitlichkeit, Effektivität und Vorrang des Unionsrechts durch.

Insofern ist die Entscheidung zu begrüßen. Bisweilen wurde nämlich eine Tendenz wahrgenommen, dass sich nur die Mitgliedstaaten gegenüber dem Unionsrecht zurücknehmen würden und der EuGH allein auf das Unionsrecht und dessen Wirksamkeit achte. Einer solchen Wahrnehmung ist der EuGH mit dem aktuellen Urteil klar entgegen getreten.

Damit leisten die Luxemburger Richter einen Beitrag dafür, dass ein wirkliches Kooperationsverhältnis zwischen den nationalen höchsten Gerichten in den Mitgliedstaaten und dem EuGH entsteht, welches von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt ist.

Der Autor Dr. Philipp B. Donath, RA, habilitiert an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Verfassungsrecht. Er ist am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann sowie am Wilhelm-Merton-Zentrum für Europäische Integration und Internationale Wirtschaftsordnung tätig und ist wissenschaftlicher Berater in der Enquetekommission zur Reform der Hessischen Verfassung.

Zitiervorschlag

Dr. Philipp B. Donath, RA, EuGH zum Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht: Unionsrecht hat nicht immer Vorrang . In: Legal Tribune Online, 05.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25861/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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