Der EuGH hat eine Ausnahme vom Anwendungsvorrang des EU-Rechts gegenüber dem nationalen Recht gemacht. Damit zeige er sich offen für ein echtes Kooperationsverhältnis mit den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten, meint Philipp B. Donath.
Am Dienstag hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg in der Rechtssache C-42/17 zur Verjährungsproblematik im italienischen Strafrecht Stellung genommen. Das Besondere: Er hat dabei im Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht eines Mitgliedstaats letzterem die entscheidende Wirkung zugesprochen.
Das Verhältnis der Rechtsordnungen wird von dem Grundsatz geprägt, dass das Recht der EU in allen Mitgliedstaaten einen Anwendungsvorrang gegenüber dem jeweiligen nationalen Recht beansprucht. Dies ergibt sich daraus, dass das Unionsrecht in allen Staaten der EU kohärent, effektiv und autonom gelten muss, um wirksam zu sein. Dieser Vorrang des Unionsrechts wurde vom EuGH bereits früh (Urt. v. 15.07.1964, Az. C-6/64) erklärt und von den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten grundsätzlich akzeptiert (vgl. BVerfG v. 09.06.1971, Az. 2 BvR 225/69).
Andererseits ist die EU kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Sie hat daher nach Art. 4 Abs. 2 EU-Vertrag (EUV) die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten. Hieraus entsteht ein grundlegendes Problem, das auch im Mittelpunkt der aktuellen Entscheidung stand: Einerseits soll das Unionsrecht in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewendet werden und sich daher gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten durchsetzen, andererseits haben die verschiedenen Verfassungen der Mitgliedstaaten eigene grundsätzliche Maßstäbe, die nicht gebrochen werden dürfen.
Entstehende Konfliktlagen sollen nach Auffassung des EuGH durch Kooperation gelöst werden, wofür das Vorlageverfahren nach Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) der geeignete Weg sei. Der Entscheidung des EuGH vom Dienstag lag ein solches Vorlageverfahren des italienischen Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) zugrunde.
Taten verjähren nach italienischem Recht aus Unionsperspektive zu früh
Inhaltlich ging es im nun entschiedenen Fall darum, dass das italienische Recht Bestimmungen zur Verjährung von Straftaten enthält, die dazu führen, dass in einigen Fällen von schwerem Mehrwertsteuerbetrug eine faktische Straffreiheit der Beschuldigten droht. Ursache hierfür ist, dass solche Verfahren oft komplex und langwierig sind, jedoch die Verjährungsregeln im italienischen Strafrecht nur eine kurze Verlängerung der Verjährungsfristen bei Unterbrechungen und darüber hinaus eine absolute Verjährungsfrist vorsehen.
In einem vorhergehenden Verfahren in der Rechtssache Taricco (EuGH, Urt. v. 08.09.2015, Az. C-105/14) hatte der EuGH in Fortführung seiner Rechtsprechung in den Fällen Åkerberg Fransson (Urt. v. 07.05.2013, Az. C-617/10) und Melloni (Urt. v. 26.02.2013, Az. C-399/11) festgestellt, dass solche Verjährungsregeln im italienischen Recht wegen Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV jedenfalls in Fällen schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union nicht angewendet werden dürften. Vielmehr müssten diese Straftaten mit abschreckenden und effektiven Maßnahmen bekämpft werden. Zu kurze nationale Verjährungsfristen würden diesem Anliegen widersprechen, so die Luxemburger Richter.
Der italienische VerfGH, der selbst von zwei Strafgerichten angerufen worden war, sah in diesem Gebot des EuGH allerdings eine mögliche Verletzung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten aus Art. 25 Abs. 2 der italienischen Verfassung, wonach eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Demnach müsse nach Auffassung des VerfGH vor Begehung einer Straftat eben diese Tat nicht nur als solche strafbar sein und der vorgesehene Strafrahmen dürfe nach Tatbegehung zulasten des Täters nicht mehr erhöht werden, es dürften vielmehr auch die Verjährungsregeln nicht mehr nachträglich verändert werden. Der so verstandene Grundsatz der Gesetzmäßigkeit sei sogar der oberste Grundsatz der italienischen Verfassungsordnung.
Wenn italienische Gerichte die Verjährungsfristenregelungen in bestimmten Fällen aufgrund der Auslegung von Art. 325 AEUV durch den EuGH unangewendet lassen müssten, läge hierin nach Auffassung des VerfGH unter Umständen ein Verstoß gegen die Verfassungsidentität Italiens. Also stießen die italienischen Richter das Vorlageverfahren an.
2/2: EuGH respektiert die Rechtsansicht des italienischen Verfassungsgerichtshofs
Diese Auffassung hinsichtlich der Verfassungsidentität in Italien hat der EuGH in seiner Entscheidung nun akzeptiert. Die Luxemburger Richter erkennen damit – anders als noch der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 18.5.2017 – die vom italienischen VerfGH dargelegte Rechtsauffassung an, dass die Verjährungsbestimmungen in Italien zum materiellen Recht gehören und damit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterfallen. Zwar lege Art. 325 AEUV den Mitgliedstaaten unbedingte Verpflichtungen auf, die insbesondere den nationalen Gesetzgeber ansprechen. Aber nationale Gerichte dürften ausnahmsweise davon absehen, einer unionsrechtswidrigen Rechtslage abzuhelfen, wenn dadurch der ins Feld geführte nationale Verfassungsgrundsatz verletzt würde, so der EuGH.
Im Ergebnis wird damit möglicherweise eine unbestimmte Anzahl an Straftätern wegen zu knapper Verjährungsfristen in Italien mit Straffreiheit davonkommen. Doch der EuGH stuft den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im nationalen Recht höherrangig ein als die Verpflichtungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union aus dem europäischen Primärrecht.
Bezüglich des Inhalts dieses Grundsatzes nimmt der EuGH auf nationale Rechtsauffassungen Rücksicht, da er sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der Unionsrechtsordnung von grundlegender Bedeutung sei. Seine Entscheidung begründete der EuGH insbesondere mit der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und dem Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen, die sich sowohl in der EU-Grundrechtecharta als auch in der EMRK wiederfänden.
Echte Kooperation zwischen dem EuGH und den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten
Nun ist die Entscheidung nicht unmittelbar auf Deutschland übertragbar, denn die Verjährungsvorschriften des Strafrechts werden in Deutschland nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG (vgl. Beschl. v. 31.01.2000, Az. 2 BvR 104/2000) lediglich als Verfahrensregeln qualifiziert. Somit gibt es nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit im Strafrecht nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz (GG) keinen Vertrauensschutz bezüglich der Verfolgbarkeit einer Straftat. Hierfür gilt mithin auch kein strenges Rückwirkungsverbot. Somit sind Verjährungsregelungen in Deutschland nicht Teil der Verfassungsidentität.
Allerdings bilden andere Aspekte – über Art. 79 Abs. 3 GG insbesondere die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze – den Kern der deutschen Verfassung. Daher sind auch zwischen dem deutschen Verfassungsgericht und dem EuGH ähnliche Konstellationen und Normenkonflikte denkbar. Das BVerfG behält sich hierbei vor, in bestimmten Fällen Unionsrechtsakte insbesondere im Wege einer Identitätskontrolle und einer ultra-vires-Kontrolle auf ihre Wirksamkeit in Deutschland zu überprüfen.
Die Erschaffung eines wirklichen Kooperationsverhältnisses zwischen dem BVerfG und dem EuGH war in den vergangenen Jahren durchaus von einem Ringen um ein "Letztentscheidungsrecht" geprägt. Mit der Entscheidung vom Dienstag ist der EuGH aber deutlich auf die Mitgliedstaaten zugegangen. Es kann nun durchaus von einem echten Kooperationsverhältnis gesprochen werden.
Die Luxemburger Richter nehmen in diesem Urteil besondere Rücksicht auf die Rechtsauffassungen in den Mitgliedstaaten und setzen nicht unreflektiert einen Anspruch auf Einheitlichkeit, Effektivität und Vorrang des Unionsrechts durch.
Insofern ist die Entscheidung zu begrüßen. Bisweilen wurde nämlich eine Tendenz wahrgenommen, dass sich nur die Mitgliedstaaten gegenüber dem Unionsrecht zurücknehmen würden und der EuGH allein auf das Unionsrecht und dessen Wirksamkeit achte. Einer solchen Wahrnehmung ist der EuGH mit dem aktuellen Urteil klar entgegen getreten.
Damit leisten die Luxemburger Richter einen Beitrag dafür, dass ein wirkliches Kooperationsverhältnis zwischen den nationalen höchsten Gerichten in den Mitgliedstaaten und dem EuGH entsteht, welches von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt ist.
Der Autor Dr. Philipp B. Donath, RA, habilitiert an der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Verfassungsrecht. Er ist am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann sowie am Wilhelm-Merton-Zentrum für Europäische Integration und Internationale Wirtschaftsordnung tätig und ist wissenschaftlicher Berater in der Enquetekommission zur Reform der Hessischen Verfassung.
Dr. Philipp B. Donath, RA, EuGH zum Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht: Unionsrecht hat nicht immer Vorrang . In: Legal Tribune Online, 05.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25861/ (abgerufen am: 01.06.2023 )
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