EGMR zu deutschem Kundus-Angriff auf Zivilisten: Wenn plötz­lich doch Krieg ist

von Dr. Markus Sehl

25.02.2020

Ein deutscher Oberst ordnete 2009 in Afghanistan den Abwurf von zwei 500-Pfund-Bomben an. Dutzende Menschen starben – darunter auch Zivilisten. Hat Deutschland genug für die Aufklärung getan? Über diese Frage verhandelt nun der EGMR.

Am Mittwoch wird die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) über eine folgenschwere Entscheidung eines deutschen Soldaten verhandeln. Um 1.49 Uhr in der Nacht des 4. September 2009 forderte der deutsche Kommandant Oberst Klein in Afghanistan zwei US-Militärflugzeuge auf, Bomben auf zwei Tanklastwagen in der Kundus-Region abzuwerfen. Bewaffnete hatten zuvor die beiden Tanklaster überfallen und entführt, doch sie blieben am Ufer des Kundus-Flusses stecken - rund sieben Kilometer vor einem Bundeswehrlager.

Klein soll davon ausgegangen sein, dass die Taliban die beiden Tanklaster als rollende Bomben gegen sein Lager einsetzen könnten. Inzwischen hatten sich zahlreiche Menschen versammelt, die von den Tanklastwagen Benzin abzapften. Ob es sich dabei tatsächlich um Aufständische handelte oder um Zivilisten, ließ sich nicht endgültig aufklären. Unter den Toten waren jedenfalls auch Kinder und Jugendliche.

Eine wichtige Rolle bei der Entscheidung soll dabei ein afghanischer Informant am Boden gespielt haben. Er meldete dem deutschen Lager offenbar, dass es sich bei den Personen an den Tanklastern um eine größere Zahl von Aufständischen handelte, bewaffnet mit Handfeuer- und Panzerabwehrwaffen.

GBA: Kommandant "nicht davon ausgegangen, dass Zivilisten sich dort aufhielten"

Die beiden amerikanischen Kampflugzeugpiloten hatten aus der Luft selbst offenbar Zweifel an der Einschätzung. Laut der Funksprüche fragten sie bei den Deutschen in der Kommandozentrale nach, ob sie zunächst mit einem niedrigen Überflug die Menschen bei den Lastwagen auseinanderscheuchen sollten. Das wurde abgelehnt, die beiden Kampflugzeuge warfen daraufhin zwei 500-Pfund-Bomben ab. Wie viele Menschen bei dem Angriff ums Leben kamen, konnte auch nicht aufgeklärt werden. Der EGMR geht von Berichten aus, die zwischen 14 und 142 Tote schätzen. "Die meisten waren Zivilisten", heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung.

Unter den Toten dieser Nacht sind auch die beiden Söhne von Abdul Hanan, zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs acht und zwölf Jahre alt. Der Afghane klagt beim EGMR (Beschwerdenr.: 4871/16). Er kritisiert, dass es keine ausreichende juristische Aufarbeitung des Angriffs in Deutschland gegeben habe.

Nach dem Angriff nahm der Generalbundesanwalt (GBA) im März 2010 seine Ermittlungen auf und stellte sie rund einen Monat später schon wieder gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Untersucht wurde die Rolle von Oberst Klein und einem Stabsfeldwebel, der ihn in der Nacht unterstützt hatte. Die Bundesanwaltschaft sah weder Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) noch nach dem Strafgesetzbuch (StGB) verwirklicht.

Ausschlaggebend für dieses Ergebnis war für die Ermittler die subjektive Einschätzung der damals Beschuldigten. "Nach dem Ergebnis der Ermittlungen sind die Beschuldigten schon nicht davon ausgegangen, dass sich zum Zeitpunkt des Luftangriffs Zivilisten auf der Sandbank des Kunduz-Flusses aufhielten", teilte die Bundesanwaltschaft damals in einer Pressemitteilung mit. Damit sei der Angriff keine verbotene Methode der Kriegsführung nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB gewesen.

Eine Frage der Abwägung mit dem militärischen Erfolg?

Die Tötung von Menschen ist auch nach dem parallel anwendbaren StGB gerechtfertigt, wenn der Angriff seinerseits völkerrechtlich zulässig war. Auch davon ging die Bundesanwaltschaft aus. Sie betont auch hier den umfassenden Einschätzungsspielraum, der den Soldaten zugestanden habe. Selbst wenn man mit zivilen Opfern einer Militäraktion rechnen müsse, sei ein Bombenabwurf nur völkerrechtlich unzulässig, wenn der zu erwartende zivile Schaden in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Erfolg stehe, so der GBA.

Außerdem stellte die Bundesanwaltschaft fest: "Als sicher anzusehen ist, dass zwei namentlich bekannte Talibanführer getötet wurden und dass Aufständische wie auch Zivilisten unter den Opfern waren. Das einzig objektive Beweismittel sind die vorhandenen Videoaufzeichnungen der Kampfflugzeuge, auf denen 30 bis 50 Personen zum Zeitpunkt des Luftangriffs auf der Sandbank zu erkennen sind."

Der Angriff hatte politische Konsequenzen. Erst räumte der Generalinspekteur der Bundeswehr, dann ein Staatssekretär und später sogar der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung seinen Posten. Ab Ende 2009 beschäftigte sich ein Untersuchungsausschuss des Bundestages eineinhalb Jahre mit der Aufklärung.

Bundesverfassungsgericht billigte die Verfahrenseinstellung

2011 wies das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf einen Antrag von Hanan als unzulässig ab. Der Afghane hatte erreichen wollen, dass entgegen der Entscheidung der Bundesanwaltschaft Anklage wegen Mordes erhoben wird. Auch das Bundesverfassungsgericht billigte 2015 letztlich die Einstellung des Ermittlungsverfahrens.

Obwohl die Kammer die Verfassungsbeschwerde von Hanan schon nicht zur Entscheidung annahm, stellten die Richter auf 13 Seiten Ausführungen zu dem Vorfall und seiner rechtlichen Aufarbeitung an. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen seien durch GBA und OLG gewahrt worden. Dabei führte die Kammer aus, dass die Entscheidung des GBA auch den Anforderungen des EGMR zur effektiven Untersuchung von Todesfällen entspreche.

Ob der das auch so sieht, wird sich jetzt ab Mittwoch herausstellen. Wegen der besonderen Bedeutung des Falls hat die zuständige Kammer des EGMR ihn an die Große Kammer verwiesen: Nun entscheiden 17 Richter über den Fall.

Hat Deutschland genug für die Aufklärung getan?

Hanan rügt eine Verletzung von Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Verantwortung der Staaten für das Recht auf Leben. In seiner Entscheidung Salman gegen die Türkei aus dem Jahr 2000 hatte der EGMR betont, dass daraus ein Anspruch auf effektive staatliche Aufklärung erfolge, wenn ein Mensch durch staatliche Gewalt zu Tode gekommen ist.

Hanan kritisiert in seiner Beschwerde, dass die juristische Aufarbeitung zum Kundus-Fall davon geleitet gewesen sei, die Bundeswehrsoldaten aus der Verantwortung zu nehmen. Er sieht Verzögerungen und politische Einflussnahme auf die Aufklärung. "Der deutsche Oberst gab den Befehl, nur deswegen kam es zum Luftangriff. Wir wollen, dass diese Leute zur Verantwortung gezogen werden", so Hanan. Sein Fall wird von der deutschen NGO European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) unterstützt, vor Gericht vertritt ihn der Anwalt und Menschenrechtler Wolfgang Kaleck. Der sagte gegenüber LTO am Dienstag: "Bundesregierung und Bundeswehr haben alles getan, um eine Aufklärung und Strafverfolgung der Verantwortlichen für den Kundus-Luftangriff zu vermeiden. Auch die Justiz in Deutschland hat sich nicht mit Ruhm bekleckert."

In dem Fall aus der Türkei aus dem Jahr 2000 befand der EGMR, dass für die Aufklärung des Todes eines türkischen Staatsbürgers in Haft seine Obduktion besonders wichtig gewesen sei – diese aber nur mangelhaft durchgeführt wurde. Das habe in der Folge die weitere Aufklärung beeinträchtigt. Der EGMR verurteilte die Türkei. 

Zum Kundus-Fall schickte der EGMR im September 2016 einen kompakten Fragenkatalog an die Bundesregierung. Die Richter interessieren sich darin vor allem für die Unabhängigkeit der Untersuchungen, ihre Qualität und auch dafür, ob Hanan ausreichend in die Untersuchungen einbezogen worden ist, um seinen Interessen gerecht zu werden. Weiterhin wollte der EGMR mit seinen Fragen in Erfahrung bringen, ob Hanan ein wirksames Beschwerdeverfahren im Sinne des Art. 13 der EMRK zur Verfügung gestanden hat.

Zitiervorschlag

EGMR zu deutschem Kundus-Angriff auf Zivilisten: Wenn plötzlich doch Krieg ist . In: Legal Tribune Online, 25.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40467/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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