BGH verhandelte über Wittenberger "Judensau": "In Stein gemei­ßelter Anti­se­mi­tismus"

von Dr. Christian Rath

30.05.2022

An der Stadtkirche Wittenberg ist eine "Judensau"-Plastik aus dem 13. Jahrhundert zu sehen. Der Bundesgerichtshof muss nun entscheiden, ob sie zu entfernen ist. Christian Rath war bei der Verhandlung in Karlsruhe.

Muss das antisemitische Schmährelief an der Stadtkirche Wittenberg beseitigt werden? Darüber verhandelte an diesem Montag der Bundesgerichtshof (BGH). Geklagt hatte der konvertierte Bonner Jude Michael Düllmann, der sich von der Schmähung persönlich beleidigt sieht. Das Urteil wird am 14. Juni verkündet.

An der evangelischen Stadtkirche von Wittenberg, an der einst Martin Luther gepredigt hat, ist seit dem 13. Jahrhundert in vier Meter Höhe eine antisemitische Skulptur angebracht. Sie stellt unter anderem Juden dar, die an den Zitzen eines Schweins saugen. Umgangssprachlich wird die Skulptur deshalb als "Judensau" bezeichnet.

Anfang 2020 entschied das Oberlandesgericht Naumburg (Urteil vom 4. 2. 2020, Az.: 9 U 54/19), dass das Relief im heutigen Kontext nicht mehr beleidigend ist. Die von der Kirche vorgenommene "Kommentierung" der Plastik neutralisiere die ursprüngliche Wirkung. Schon 1988, also noch zu DDR-Zeiten, hatte die Kirchengemeinde am Fuße der Plastik eine künstlerisch gestaltete Bodenplatte angebracht. Später wurde dies durch eine Informationsstele ergänzt.

Zum Mahnmal gewandelt?

Zu Beginn der BGH-Revisionsverhandlung betonte Stephan Seiters, Vorsitzender des sechsten Zivilsenats, dass das Relief ursprünglich "in Stein gemeißelter Antisemitismus" gewesen sei. Nun komme es aber darauf an, ob es sich durch die Ergänzungen der Kirchengemeinde in eine Art Mahnmal verwandelt hat und ob sich die Gemeinde ausreichend von dem Hohn- und Spottbild distanzierte.

Kläger Düllmann hält die Aktivitäten der Kirchengemeinde für völlig unzureichend. Sein Anwalt Christian Rohnke sagte in Karlsruhe: "Bei einer so schweren Beleidigung muss ich als Verantwortlicher mein Äußerstes tun, um die Wirkung zu beseitigen. Das hat die evangelische Kirchengemeinde aber nicht getan." Im Gegenteil, so Anwalt Rohnke, "der Text auf der Bodenplatte ist wirres Geschwurbel, das niemand versteht." Seit 1988 steht dort: "Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen."

Zudem kritisierte Anwalt Rohnke den Text auf der Informationsstele, auf der es unter anderem heißt: "Schmähplastiken dieser Art, die Juden in Verbindung mit Schweinen zeigen - Tiere, die im Judentum als unrein gelten - waren besonders im Mittelalter verbreitet. Es existieren noch etwa fünfzig derartige Bildwerke." Rohnke hält das für "verharmlosend und relativierend", so als sei derartiges früher eben normal gewesen. Nirgendwo distanziere sich die Kirchengemeinde eindeutig von den Judenverfolgungen und auch vom Antisemitismus Martin Luthers, der einst zur Zerstörung von Synagogen aufgerufen habe.

"Bekenntnis zur Erinnerungskultur"

Für die Kirchengemeinde betonte Anwältin Brunhilde Ackermann, man habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht, das Relief zu belassen. "Das war letztlich aber ein klares Bekenntnis, dass Erinnerungskultur sein muss". Erinnern sei nun mal am eindrücklichsten möglich am historischen Ort. "Wie sollen sich Schulkinder mit der Judenverfolgung auseinandersetzen, wenn sie gar nicht mehr wissen, dass da was war", argumentierte Ackermann.

Es fordere auch niemand, so die Anwältin, antisemitische Stellen aus der Bibel zu streichen. Auch Filme wie "vom Winde verweht", die im Kontext der Sklaverei stehen, würden weiter gezeigt. "Man darf die Erinnerungskultur nicht auf dem Altar des Zeitgeists opfern", forderte Anwältin Ackermann. Die Demokratie lebe vom Diskurs und von der Auseinandersetzung.

Juristisch stellte Ackermann aber vor allem auf eine längere Passage im Urteil des OLG Naumburg ab, in dem der Text des kirchlichen Aufstellers unter der Schmähplastik analysiert wird: "Dieser Informationstext bringt, soweit es bei einem auf Mitteilung objektiver Fakten abzielenden Text möglich ist, unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Beklagte sich von den Judenverfolgungen, den antijudaistischen Schriften Luthers und insbesondere auch von der verhöhnenden und verspottenden Zielrichtung der Schmähplastik distanziert." Ackermann hält dies für eine Tatsachenfeststellung des OLG, die der Revision entzogen ist.

Richtiger Kläger - richtige Beklagte?

Prozessual waren auch die Fragen von Aktiv- und Passivlegitimation von Interesse. Richter Seiters betonte, dass Kläger Düllman durch die Schmäh-Plastik zwar nicht persönlich angesprochen wurde, dass die Rechtsprechung aber die Gruppe der in Deutschland lebenden Juden als durch ein gemeinsames Schicksal - das Überleben des Holocaust - geprägte Gruppe sehe und deshalb von einer kollektiven Beleidigungsfähigkeit ausgehe. Anwältin Ackermann gab zwar zu bedenken, dass es in Wittenberg nicht um den Holocaust gehe, weil die "Judensau" aus dem 13. Jahrhundert stamme. Rohnke entgegnete jedoch: "Die Shoah ist nicht aus dem Nichts gekommen. Das Relief gehört zur langen Geschichte des Antisemitismus."

Bei der Passiv-Legitimation ging es um die Frage, ob die Kirchengemeinde schon deshalb verklagt werden konnte, weil sie die "Judensau"-Plastik nicht entfernt. Richter Seifert deutete an, dass es hierauf nach vorläufiger rechtlicher Prüfung nicht ankomme. Denn die Kirchengemeinde habe 1983 ausdrücklich entschieden, die "Judensau" bei der Sanierung der Kirche am Ort zu belassen und mitzusanieren. So sei sie sogar noch besser erkennbar geworden.

Rohnke und Ackermann verwiesen im Verlauf der Verhandlung immer wieder auf Parallelen aus dem Wettbewerbsrecht, was angesichts des schrecklichen historischen Hintergrunds etwas irritierend wirkte. "Wenn eine aktuelle Verpackungsgestaltung unzulässig ist, kommt es nicht darauf an, ob es eine andere Verpackungsgestaltung geben könnte, die keine irreführende Werbung enthalten würde", argumentierte etwa Anwalt Rohnke.

Die Gemeinde sucht einen neuen Zugang

Nach der Verhandlung sagte der neue Wittenberger Pfarrer Matthias Keilholz: "Der Text der Bodenplatte ist vielleicht zu undeutlich. Wir sehen jetzt, dass man ihn nicht ausreichend versteht". Die Gemeinde denke über eine klarere Botschaft nach. An der evangelischen Akademie Wittenberg wurde jüngst ein Mitarbeiter eingestellt, der Vorschläge für eine zeitgemäßere, insbesondere digitale Information über das "Judensau"-Relief machen soll. "Jede Generation braucht einen neuen Zugang zu diesem Thema", so der Pfarrer.

Kläger Düllmann forderte am Rande des Prozesses, aus der Wittenberger Stadtkirche ein "Museum für christlichen Antisemitismus" zu machen. Der knapp 80-jährige kündigte an, dass er bei einer Niederlage am BGH auch noch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einschalten werde. "Dann entscheiden europäische Richter", sagte er fast drohend.

Zitiervorschlag

BGH verhandelte über Wittenberger "Judensau": "In Stein gemeißelter Antisemitismus" . In: Legal Tribune Online, 30.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48594/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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