Der BGH hat seine Rechtsprechung zur Reichweite der Vermutung in § 476 BGB europarechtskonform ausgelegt – und damit zugunsten der Käufer. Roland Schimmel meint, dass das dem alltäglichen Leben nur gerecht wird.
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat am Mittwoch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Anlass genommen, seine bisherige Rechtsprechung zum Umfang der Vermutung des § 476 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu ändern. Mit Blick auf die EuGH-Entscheidung legt der BGH den § 476 BGB nun richtlinienkonform aus und erweitert dessen Anwendungsbereich in zweierlei Hinsicht.
Zum einen muss der Käufer künftig nur noch einen vertragswidrigen Zustand der Sache behaupten und beweisen, der sich binnen sechs Monaten nach Übergabe herausgestellt hat. Der Käufer kann sich also auf ein Mangelsymptom beschränken, auch wenn dieses bei Übergabe noch nicht aufgetreten ist. Zum anderen wird nun vermutet, dass das Mangelsymptom seine Ursache im Grundmangel habe, der bereits bei Gefahrübergang bestanden habe (Urt. v. 12.10.2016, Az. VIII ZR 103/15).
Im zugrunde liegenden Fall stritten die Parteien um Gewährleistung für einen gebrauchten PKW. Fünf Monate nach Übergabe stellte das Automatikgetriebe seine Funktion in Teilen ein. Nach sachverständigem Urteil konnte der dafür ursächliche Schaden am Drehmomentwandler sowohl auf zuvor bestehende mechanische Mängel bei Gefahrübergang als auch auf einen Bedienungsfehler des Käufers nach dem Kauf zurückgehen. Da die Funktionseinschränkungen des Getriebes bei Übergabe unstreitig noch nicht erkennbar waren, hatten die Vorinstanzen in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats die auf Kaufpreisrückzahlung gerichtete Klage abgewiesen.
Hintergrund: § 476 BGB und seine Intention
Um das BGH-Urteil einordnen zu können, muss man sich die Idee des § 476 BGB vor Augen führen. Das Problem ist ziemlich alltäglich: Der gekaufte Gegenstand erweist sich schon nach wenigen Monaten als defekt und ist schlimmstenfalls überhaupt nicht mehr benutzbar. Die dem Käufer zustehenden Mangelgewährleistungsrechte (§ 437 BGB) gegen den Verkäufer setzen voraus, dass die Sache schon bei Gefahrübergang – also regelmäßig bei Besitzübertragung, § 446 BGB – mangelhaft war.
Weil der Verkäufer meist von der Mangelfreiheit überzeugt ist, muss im Streit der Käufer den Mangel darlegen und beweisen. Hierfür fehlt ihm oft die Sachkunde, was sich etwa bei technisch komplexen Produkten wie Autos, Computern und Telefonen zeigt. Um die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits beurteilen zu können, muss der Käufer also einen zeitlichen und finanziellen Aufwand betreiben (etwa einen Gutachter beauftragen), der ihn meist von der Wahrnehmung seiner womöglich begründeten Gewährleistungsrechte Abstand nehmen lässt. Bei Verbrauchsgüterkäufen (§ 474 BGB) hilft dem Käufer die Vermutung in § 476 BGB, der zufolge ein Mangel, der sich innerhalb der ersten sechs Monate nach Übergabe zeigt, bereits bei Gefahrübergang vorlag.
Differenzierung zwischen Grundmangel und Mangelsymptom
Allerdings hilft die Vermutung des § 476 BGB bei Weitem nicht immer. Manchmal ist sie von vornherein nicht anwendbar, weil sie mit der Art der verkauften Sache nicht vereinbar ist, etwa beim Kauf lebender Tiere. Nicht zuletzt ist die Vermutung widerleglich, so dass der Verkäufer – wenn auch oft nur mit einiger Mühe – den Beweis erbringen kann, dass der Defekt auf einen Bedienungsfehler des Käufers zurückzuführen ist.
Die wichtigste Einschränkung besteht aber darin, dass der Umfang der Vermutung sich nach dem Wortlaut der Vorschrift gerade nicht das Bestehen eines Sachmangels erfasst, sondern nur den Zeitpunkt betrifft, zu dem dieser bereits (unerkannt) vorgelegen hat. Das Bestehen eines Mangels muss der Käufer also immer noch selbst darlegen und beweisen.
Problematisch wird dies in den häufigen Fällen des sogenannten Grundmangels. Unterscheidet man nämlich zwischen diesem, etwa einer Materialermüdung, und dem bloßen Mangelsymptom, etwa dem Zerbrechen eines Bauteils, so erstreckt sich die Vermutung des § 476 BGB gerade nicht auf den Grundmangel. Diesen Standpunkt hatte der BGH bisher aber eingenommen – mit der Folge, dass der Käufer von der verbraucherschützend konzipierten Vermutung keinen Nutzen hat.
2/2: EuGH beginnt mit weiter Auslegung
Trotz begründeter Kritik im Schrifttum war das bis zum vergangenen Jahr der Stand der Dinge. Mitte 2015 hat aber der EuGH den Anwendungsbereich des Art. 5 III der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie (1999/44/EG) eher weit bestimmt (Urt. v. 4.6.2015, Az. C 497/13). Insbesondere hat das Gericht erklärt, dass die Vermutung nur dann nicht gelten solle, wenn "[…] der Verkäufer rechtlich hinreichend nachweist, dass der Grund oder Ursprung der Vertragswidrigkeit in einem Umstand liegt, der nach der Lieferung des Gutes eingetreten ist" (Rn. 75).
Der Ausgangssachverhalt für die Entscheidung des EuGH stammte aus den Niederlanden und betraf den Kauf eines gebrauchten Pkw, der vier Monate nach Übergabe während der Fahrt Feuer fing und ausbrannte.
Nachdem der BGH mit seiner aktuellen Entscheidung seine Rechtsprechung geändert hat, bezieht sich die Vermutung des § 476 BGB nicht mehr nur auf die zeitliche Komponente, sondern erhält eine neue Qualität: Widerleglich vermutet wird nun ein "latenter" Mangel, den der nicht sachkundige Käufer oft gar nicht richtig bezeichnen kann, dessen Vorhandensein er aber aufgrund des Mangelsymptoms argwöhnt.
Gut für Käufer = schlecht für Verkäufer?
Aus der Perspektive des Verbrauchers ist dieser Richtungswechsel zu begrüßen. Nicht nur, weil sich nun die rechtlich richtige Lesart des § 476 BGB derjenigen eines Laien annähert, sondern in erster Linie, weil die technische Komplexität des Kaufgegenstands und damit die schwierige Aufklärung des Mangelverursachungsverlaufs nunmehr im Wesentlichen ein Problem des Verkäufers ist.
Nun kann man umgekehrt kritisieren, dass eine weite Interpretation des Anwendungsbereichs von § 476 BGB zu einer quasi garantieähnlichen Haftung des Verkäufers in den ersten sechs Monaten nach Übergabe führt. Der EuGH schätzt die Folgen angesichts der übersichtlichen Zeitspanne aber als nicht zu gravierend ein. Und wenn man in Rechnung stellt, dass die Regelung nur bei Verbrauchsgüterkäufen anwendbar ist, mutet das Ergebnis auch finanziell nicht allzu schwerwiegend an: Ein wirtschaftlich denkender Verkäufer wird ein daraus resultierendes zusätzliches Gewährleistungs-Kostenrisiko in den Preis einkalkulieren.
Das wiederum weiß der Käufer, der den Gebrauchtwagen mit guten Gründen nicht "von privat", sondern von einem Händler kauft. Zudem bleibt dem Verkäufer, der seiner Sache sicher ist, immer die Widerlegung der Vermutung. Wenn die ziemlich feinsinnig anmutende Unterscheidung zwischen Grundmangel und Mangelsymptom zumindest im Recht des Verbrauchsgüterkaufs in die zweite Reihe tritt, wird man sie kaum vermissen.
Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main
Roland Schimmel, Rechtsprechungsänderung im Verbrauchsgüterkaufrecht: BGH legt Mangelvermutung zugunsten von Käufern aus . In: Legal Tribune Online, 13.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20853/ (abgerufen am: 01.10.2023 )
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