Grundsatzentscheidung des BGH zum Suizid steht an: Sie wollten nicht gerettet werden

Gastkommentar von Prof. Dr. Henning Rosenau und Dipl.-Jur. Henning Lorenz, M.mel.

03.07.2019

1984 entschied der BGH, ein Hausarzt sei verpflichtet, seinen Patienten nach einem Suizidversuch zu retten. Nun kommt die Gelegenheit zur Abkehr von dieser Rechtsprechung. Die ist lange überfällig, meinen Henning Rosenau und Henning Lorenz.

Fast auf den Tag genau vor 35 Jahren fällte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) im Fall Wittig ein zweifelhaftes Urteil. Dem Hausarzt Wittig wurde vorgeworfen, dass er nach dem freiverantwortlichen Suizidversuch seiner langjährigen Patientin keine Rettung eingeleitet hatte. Die 76 Jahre alte Frau war gesundheitlich stark angeschlagen gewesen. Sie hatte in früheren Gesprächen mehrfach ihren Wunsch zu sterben geäußert und das auch schriftlich festgehalten.

Als der Arzt sie eines Tages leblos zuhause vorfand, nachdem sie eine Überdosis Morphium und Schlafmittel genommen hatte, unternahm er keinen Rettungsversuch, sondern blieb in der Wohnung und stellte am nächsten Morgen ihren Tod fest. Nachdem das Landgericht den Arzt freigesprochen hatte, erhielt der BGH dieses Urteil zwar aufrecht, allerdings nur deshalb, weil die Frau ersichtlich nur noch mit schweren Dauerschäden ins Leben hätte zurückgeholt werden können (Urt. v. 04.07.1984, Az. 3 StR 96/84).

Dieses Urteil galt landauf, landab als überholt. Staatsanwaltschaften und Untergerichte haben es nicht mehr angewendet. Dann kam es 2015 zur Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Förderung des Suizids durch § 217 Strafgesetzbuch (StGB). Zwei Oberlandesgerichte holten daraufhin die alte Position wieder aus der strafrechtlichen Mottenkiste.

Heute steht die Wittig-Rechtsprechung auf dem Prüfstand. Der 5. Strafsenat des BGH in Leipzig verhandelt über zwei Fälle, die ihm die Gelegenheit geben, seine alte Rechtsprechung endgültig ad acta zu legen (Az. 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18).

Zwei Suizidfälle stehen zur Entscheidung an

In einem Hamburger Fall (5 StR 123/18) hatten zwei geistig fitte und rüstige Rentnerinnen nach reiflicher Überlegung beschlossen, ihr Leben zu beenden. Sie wandten sich dafür an die Sterbehilfeorganisation Sterbehilfe e.V. Der Angeklagte, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, begutachtete für den Verein die beiden Damen. Er stellte fest, dass beide einsichts- und urteilsfähig und ihre Sterbewünsche wohlerwogen waren. Später wohnte er der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente bei. Ihm wird vorgeworfen, nichts zur Rettung der Frauen unternommen zu haben, als beide bewusstlos wurden.

Der zweite Fall (5 StR 393/18) stammt aus Berlin. Dort hatte sich eine 44-jährige Frau das Leben genommen. Sie litt an mehreren, allerdings nicht tödlichen Krankheiten. Ihr Arbeits- und Sozialleben war seit vielen Jahren massiv beeinträchtigt. Einige Suizidversuche lagen hinter ihr.

Sie bat ihren langjährigen Hausarzt, sie beim Suizid zu unterstützen. Der Angeklagte wusste um die Leidensgeschichte seiner Patientin und die erfolglosen, vollständig ausgeschöpften Therapiemöglichkeiten und stand ihr schließlich im Sterben bei. Ohne seine Unterstützung wäre sie wohl von einem Hochhaus gesprungen oder hätte sich vor einen Zug geworfen.

Der Arzt stellte ihr Rezepte über ein Mittel aus, das Phenobarbital enthält und zu der Gruppe der Barbiturate zählt. Es kann in hoher Dosis einen komatösen Zustand und lebensgefährlichen Atemstillstand verursachen. Aufgrund dieser Eigenschaften wird es häufig bei Suiziden verwendet. Später nahm die Frau eine große Zahl der Tabletten in ihrer Wohnung ein. Sie informierte ihren Hausarzt per SMS und verabschiedete sich von ihm.

Absprachegemäß suchte der Arzt seine inzwischen bewusstlose Patientin in den folgenden Tagen wiederholt auf und überwachte den Sterbeprozess. Erst am dritten Tag nach der Einnahme stellte er ihren Tod fest. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, Rettungsmaßnahmen unterlassen zu haben. Er hatte zudem Medikamente gegen Erbrechen und Rasselatmung gespritzt und Angehörige und Freunde telefonisch von einer Rettung abgehalten. Dieses aktive Verhalten hat das LG Berlin zu Recht als straflos eingestuft. In der heutigen Revision spielt es keine Rolle mehr.

Unvereinbarkeit der Wittig-Rechtsprechung mit dem selbstbestimmten Sterben

Kernfrage der Hauptverhandlung vor dem BGH wird sein, ob eine konkrete Pflicht beider Ärzte bestand, ihre Patienten entgegen deren Willen zu retten. Vorweg: Nur der freiverantwortliche Wille ist damit gemeint. Der Suizident muss einsichts- und urteilsfähig sein. Möchte sich etwa ein an Schizophrenie Leidender aus einer Wahnvorstellung heraus das Leben nehmen, ist die Pflicht des Arztes zur Rettung unbestritten. Der Willen der drei verstorbenen Frauen hingegen war nach rechtlichen Maßstäben frei. So haben es die Landgerichte Hamburg und Berlin festgestellt.

Nach dem Fall Wittig bestünde grundsätzlich eine Rettungspflicht, die nur in Ausnahmefällen entfällt. Damit werden der freie Wille des Suizidenten und das Selbstbestimmungsrecht im Grundsatz für unbeachtlich erklärt. Dieses Verständnis von Selbstbestimmung war schon im Jahr 1984 verfehlt. Seit jener Zeit ist die Relevanz des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende ständig gewachsen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das in mehreren Urteilen festgehalten: Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährt jeder Person "das Recht zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben beendet werden soll."

Auch der BGH hat die Selbstbestimmung im Sterben anderenorts gestärkt und erweitert. Im Fall Putz ebnete der 2. Strafsenat die alten Kategorien der aktiven und passiven Sterbehilfe ein und fasste unter dem Oberbegriff des Behandlungsabbruchs verschiedene aktive und passive Verhaltensweisen zusammen. Sie sind straflos, wenn sie dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechen. Der freie Wille des Patienten hat damit hohe Wirkkraft. Er rechtfertigt den aktiven Abbruch einer bereits begonnenen, lebenserhaltenden Behandlung durch den Arzt. Die Kehrseite dieser Medaille: Die Weiterbehandlung gegen den Willen des Patienten ist als Zwangsbehandlung eine strafbare Körperverletzung.

Mit diesen knappen Überlegungen ist die Entscheidung im Fall Wittig nicht vereinbar. Ein Suizident, der sich freiverantwortlich das Leben nehmen will, übt sein Selbstbestimmungsrecht aus. Er möchte nicht gerettet werden. Die beiden Fälle, die der BGH verhandeln wird, zeigen dies in aller Deutlichkeit. Wer diesen Willen übergeht, macht sich wegen Körperverletzung strafbar. An der Wittig-Entscheidung festzuhalten führte zu einem Zwei-Klassen-Selbstbestimmungsrecht: eines der "Normalpatienten" und eines der Suizidenten. Es liefe auf eine Pflicht zum Leben hinaus für diejenigen, die sich selbst das Leben nehmen wollen. Dem steht das heute weithin akzeptierte Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende diametral entgegen. Die Landgerichte Hamburg und Berlin haben das erkannt und die Ärzte zutreffend gegen die Ansicht ihrer Oberlandesgerichte freigesprochen.

Obiter dictum zu § 217 StGB?

Es bleibt zu hoffen, dass der BGH die ihm sich bietende Gelegenheit nutzt und die Entscheidung Wittig endlich in den Orkus verquerer Rechtsansichten verweist. Er könnte zugleich in einem obiter dictum eine neue Unsicherheit beseitigen. Für Fälle nach 2015 nämlich könnte § 217 StGB theoretisch eine Rettungspflicht der Ärzte aufgrund von rechtswidrigem Vorverhalten (sog. Ingerenz) begründen, was zur Folge hätte, dass sie sich nicht nur wegen § 217, sondern z.B. auch wegen eines Totschlags durch Unterlassen strafbar machten.

§ 217 StGB aber sperrt die Anwendung der Tötungsdelikte, denn er will die Selbstbestimmung des Sterbewilligen gerade schützen. Er taugt damit nicht als Ersatz für die überholte Wittig-Rechtsprechung, was der BGH klarstellen sollte. Dann wird die anstehende Entscheidung eine Sternstunde im Recht der Sterbehilfe markieren.

Der Autor Henning Rosenau ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht und Direktor des Interdisziplinären Wissenschaftlichen Zentrums Medizin - Ethik - Recht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Der Autor Henning Lorenz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl.

Zitiervorschlag

Grundsatzentscheidung des BGH zum Suizid steht an: Sie wollten nicht gerettet werden . In: Legal Tribune Online, 03.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36237/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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