Abbruch der Behandlung unheilbar Kranker: Das Recht der so genannten Sterbehilfe

von Prof. Dr. iur. Wolfram Höfling

01.06.2010

Eine grundlegende Entscheidung des BGH zu Rechtsfragen des Abbruchs und der Unterbrechung der Behandlung eines unheilbar erkrankten und selbst nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten steht bevor. Prof. Dr. Wolfram Höfling präzisiert Begrifflichkeiten und Voraussetzungen – und plädiert für eine sorgfältige und konkret individuelle Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens.

Das Recht der so genannten Sterbehilfe wird bis heute geprägt durch begriffliche und dogmatische Unschärfen sowie eine inkonsistente Judikatur. Das juristische 'Kategoriengeklapper' (Engisch) – passive Sterbehilfe, quasi-passive Sterbehilfe, aktiv-indirekte Sterbehilfe, aktiv-direkte Sterbehilfe, Hilfe beim Sterben, Hilfe zum Sterben usw. – führt nicht selten zu einem für viele Ärzte, Pflegende und Betroffene unverständlichen Stimmen- und Meinungsgewirr.

Will man dieses entwirren, ist es angezeigt, sich der verfassungsrechtlichen Grundwertungen zu vergewissern, denen alle Entscheidungen am Lebensende verpflichtet sind: Selbstbestimmung und körperliche Integrität. Sie sind nicht nur grundrechtliche Schutzgüter, sondern auch zentrale Maßstabskriterien des ärztlichen Handelns. Orientiert man sich hieran, so lassen sich folgende Klarstellungen treffen:

Kein medizinischer Eingriff ohne informierte Einwilligung des Patienten

Die Bedeutung des Selbstbestimmungsaspekts zeigt sich darin, dass jede medizinische Intervention neben einer Indikationsstellung der informierten Einwilligung bedarf. Verweigert ein einsichtsfähiger Patient seine Zustimmung zu einem Eingriff, darf er nicht (weiter) behandelt werden.

Dies gilt auch dann, wenn Folge der Nicht(weiter)behandlung der Todeseintritt ist. Insofern kommt es – entgegen immer noch verbreiteten Vorstellungen – nicht darauf an, ob der Arzt "aktiv" handelt (Beispiel: Abstellen des Beatmungsgeräts) oder "passiv" unterlässt (Beispiel: keine Antibiotikabehandlung). Die verweigerte Zustimmung bedeutet, dass der Patient das Behandlungsmandat des Arztes beendet.

Valide Patientenverfügung ermöglicht Festlegung von (Nicht-) Einwilligung im Voraus

Das im September 2009 in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz stellt sicher, dass entsprechende Festlegungen für die Vornahme oder Nichtvornahme bestimmter medizinischer Maßnahmen auch im Vorhinein für Konstellationen späterer Entscheidungsunfähigkeit getroffen werden können.

Eine valide Patientenverfügung i.S.v. § 1901a Abs. 1 BGB, deren Formulierung faktisch in aller Regel eine fachkundige Beratung voraussetzt, bindet die an der konkreten Entscheidungssituation Beteiligten.

Auch in diesem Fall ist es eher verwirrend, von (aktiver oder passiver) Sterbehilfe zu sprechen; es geht vielmehr erneut um die Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten.

Indizierte palliativmedizinische Intervention zulässig und geboten

Neben dem informierten Willen des Patienten bedarf jede ärztliche/pflegerische Intervention einer Indikation. Befindet sich ein Patient in der Sterbephase, so ist die kurative Medizin an ihre Grenzen gelangt. Das Ziel der ärztlichen Tätigkeit ändert sich. Therapiebegrenzung und Übergang zu palliativer Versorgung sind nunmehr angezeigt, um ein möglichst erträgliches Sterben zu ermöglichen.

Dies gilt auch für jene Fallgestaltungen, die – wiederum missverständnisträchtig – als indirekte Sterbehilfe bezeichnet werden. Hierunter wird eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation verstanden, durch die – unbeabsichtigt, aber in Kauf genommen – als unvermeidbare Nebenfolge der Todeseintritt beschleunigt werden kann.

Indes: Eine solche Sicht der Dinge transportiert verbreitete Vorurteile und verfehlt die normativen Wertungen. Zunächst wird ein Befund aus der Frühzeit der Schmerztherapie vorgetragen, der mit der – arztrechtlich geschuldeten! – kunstgerechten modernen Palliativmedizin kaum noch etwas zu tun hat. Nach neueren Erkenntnissen verlängert eine derartige Behandlung eher die Lebenszeit des Betroffenen; nur in ganz seltenen Fällen kann es zu einem unwesentlich früheren Todeseintritt kommen. Doch dieses Risiko ist das Risiko jeder medizinischen Intervention.

Deshalb ist hervorzuheben: Eine indizierte palliativmedizinische Intervention setzt bei der Krankheit des Betroffenen und ihren Symptomen an und ist unmittelbar therapeutisch motiviert. Sie ist zulässig und geboten. Eine unzureichende palliative Versorgung kann unter Umständen sogar eine Körperverletzung darstellen.

Dilemma: Patientenwille bei möglicher Lebenserhaltung durch indizierte Maßnahme nicht ermittelbar

Oft genug sind die Entscheidungskonflikte am Lebensende aber dadurch gekennzeichnet, dass eine bestimmte Maßnahme zwar medizinisch indiziert ist, um das Weiterleben des Patienten zu ermöglichen, aber nicht (mehr) ermittelt werden kann, ob die Behandlung vom Patientenwillen getragen wird. Beispielhaft sei der Fall eines Menschen im so genannten Wachkoma genannt, der keine Patientenverfügung formuliert hat.

Hier soll nun der Rückgriff auf den so genannten mutmaßlichen Willen (siehe § 1901a Abs. 2 BGB) der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Dieser muss aber – dies bedarf nachdrücklicher Hervorhebung – auf den konkreten Betroffenen bezogen sein; seine Ermittlung darf sich nur auf individuelle Kriterien stützen, nicht aber auf vermeintlich allgemeine Wertvorstellungen, auf die der Bundesgerichtshof (BGH) in Strafsachen noch im sog. Kemptener Fall hilfsweise rekurrieren wollte.

Nur eine sorgfältige und konkret individuelle Ermittlung des mutmaßlichen Willens kann der Gefahr vorbeugen, dass der Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen weniger Ausdruck der Respektierung von Selbstbestimmung ist als vielmehr fremdbestimmende Mutmaßung Dritter über das menschenwürdige Dasein von Kranken und Behinderten. Letzteres aber wäre mit der grundgesetzlichen Integritäts- und Würdegarantie nicht vereinbar. Diese spricht in den angedeuteten Dilemmasituationen – entweder behandelt der Arzt weiter, ohne hierzu ausdrücklich legitimiert zu sein, oder er verzichtet auf eine (weitere) Behandlung und führt damit den Tod herbei, ohne sich hierbei auf einen Patientenwillen stützen zu können – für eine vorsichtige, den Integritätsschutz bewahrende Position.

Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes garantiert allen Menschen, unabhängig von ihrem Status und ihrem jeweiligen pathophysiologischen Zustand die Anerkennung als gleichwürdige Mitglieder der Rechtsgemeinschaft. Mit dieser Grundentscheidung wäre es nicht vereinbar, die eben skizzierte Dilemmasituation auf der Grundlage von Drittbewertungen zu Lasten des auch für die Würde fundamentalen Lebensrechts aufzulösen.

Der Autor Prof. Dr. iur. Wolfram Höfling, M. A. ist Direktor des Instituts für Staatsrecht der Universität zu Köln und Leiter der Forschungsstelle für das Recht des Gesundheitswesens, die sich schwerpunktmäßig mit ethisch umstrittenen Fragen der Medizin und der Biowissenschaften beschäftigt.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. iur. Wolfram Höfling, Abbruch der Behandlung unheilbar Kranker: Das Recht der so genannten Sterbehilfe . In: Legal Tribune Online, 01.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/626/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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