Juristische Stilblüten: Der Alltag in Gerichts­sprache

von Prof. Dr. Roland Schimmel

29.07.2016

Manchmal provoziert die Praxis gemeine Knobelfälle, in denen es auf ganz banale Dinge ankommt. Roland Schimmel mit Gerichtsentscheidungen, deren ebenso fiese Formulierungen diesen Sachverhalten nur gerecht werden.

Was ein paar Jahre Jurastudium – oder ein paar Jahrzehnte beruflicher Praxis – mit dem eigenen sprachlichen Ausdrucksvermögen anstellen, bemerken wir oft erst, wenn Dichterjuristen oder Kabarettisten uns den Spiegel vorhalten. Meist ist nicht schön, was uns dieser Spiegel zeigt. Man muss um die professionelle Deformation fast froh sein, die uns im Alltag solche kleinen Katastrophen übersehen lässt. Es wäre sonst nicht leicht auszuhalten.

Nicht ganz zufällig hängt Juristen der zweifelhafte Ruf an, sie flüchteten sich ins Passiv, bildeten unnötige Schachtelsätze, substantivierten massenweise Verben und bedienten sich überhaupt einer Fachsprache, die auf Verständlichkeit nicht besonders bedacht sei.

Dass der Gesetzgeber sich einer stark abstrahierenden Ausdrucksweise befleißigen muss, um mit endlich vielen Regeln unendlich viele mögliche Konflikte einzufangen – geschenkt. Aber wie steht es mit gerichtlichen Urteilen? Die entscheiden Einzelfälle und können daher etwas konkreter werden. Nicht zuletzt bezahlen die Parteien die Kosten des Verfahrens, also läge eine adressatenorientierte Sprache nicht so fern. Kann klappen, muss aber nicht.

Radfahren ist einfach – darüber zu schreiben nicht

Beispiel: Ein Verkehrsteilnehmer, der immer wieder einmal alkoholisiert fuhr, wollte sich seine Fahrerlaubnis zurückerstreiten. Dazu trug er unter anderem vor, er habe das Fahrrad nicht trunken im Verkehr geführt (§ 316 StGB), weil er zwar darauf gesessen, aber nicht mit beiden Füßen den Kontakt zum Boden verloren habe (auch darauf muss man erst einmal kommen). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof verwirft diesen Ansatz und bestimmt den Begriff des Führens anders. Der gedankliche Ausgangspunkt lautet auf Deutsch:

Was gelenkt werden kann, muss gelenkt werden. Alles andere ist zu gefährlich.

Juristisch formuliert liest sich das im Urteil so:

"Das Sitzen auf einem rollenden Fahrrad stellt ein Führen dieses Fahrrads dar, weil ein rollendes Fahrrad mit einer darauf sitzenden Person offensichtlich des Führens bedarf."

Deutlicher - und etwas weniger zirkulär - wird die Aussage im amtlichen Leitsatz:

"Wer auf einem rollenden Fahrrad sitzt, führt dieses Fahrrad, weil ein rollendes Fahrrad des Lenkens bedarf."

Der Ernst verursacht unfreiwillige Komik

Und wie so oft, wenn etwas eigentlich klar ist, folgt eine umfängliche Begründung:

"Das VG hat hierzu ausgeführt, dies gelte unabhängig davon, ob die Bewegungsenergie aus einem aktuellen Betätigen der Pedale gezogen werde, aus einer vorhergehenden Pedalbewegung herrühre oder etwa nur aus der Schwerkraft beim Befahren einer Gefällstrecke. Kennzeichnend für das Führen eines Fahrzeugs sei, dass die Räder rollten, also ein eigenständiger Bewegungsvorgang des Fahrzeugs ausgelöst worden sei, was bei einem Fahrrad dann anzunehmen sei, wenn sich Fahrer und Fahrrad zusammen bewegten und der Bodenkontakt mit beiden Füßen gelöst sei.

Daran bestehen keine ernstlichen Zweifel. […] Rollt ein Fahrrad mit einer darauf sitzenden Person, ergibt sich damit automatisch, dass der Bodenkontakt mit den Füßen 'gelöst' ist; ansonsten würden die Füße während der Bewegung des Fahrrads auf dem Boden 'schleifen', was zwar möglich ist, aber letztlich dem Führen eines Fahrrads nicht entgegensteht, weil es auch dann noch geführt, also gelenkt werden muss."

Spätestens bei diesen letzten Sätzen seufzt man erleichtert auf. Was den Leser hier unwillkürlich schmunzeln lässt, ist der Versuch, mit allem geschuldeten Ernst eine Selbstverständlichkeit zu begründen. Aber: Je nach Umfang und Substantiierung des Tatsachen- und Rechtsvortrags mag das durchaus geboten erschienen sein. Und richtig laut lachen darf eigentlich auch nur, wer eine weniger geschraubte Alternativformulierung zuwege bringt. Versuchen Sie es mal!

Zitiervorschlag

Roland Schimmel, Juristische Stilblüten: Der Alltag in Gerichtssprache . In: Legal Tribune Online, 29.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20147/ (abgerufen am: 27.03.2024 )

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