Manchmal provoziert die Praxis gemeine Knobelfälle, in denen es auf ganz banale Dinge ankommt. Roland Schimmel mit Gerichtsentscheidungen, deren ebenso fiese Formulierungen diesen Sachverhalten nur gerecht werden.
Was ein paar Jahre Jurastudium – oder ein paar Jahrzehnte beruflicher Praxis – mit dem eigenen sprachlichen Ausdrucksvermögen anstellen, bemerken wir oft erst, wenn Dichterjuristen oder Kabarettisten uns den Spiegel vorhalten. Meist ist nicht schön, was uns dieser Spiegel zeigt. Man muss um die professionelle Deformation fast froh sein, die uns im Alltag solche kleinen Katastrophen übersehen lässt. Es wäre sonst nicht leicht auszuhalten.
Nicht ganz zufällig hängt Juristen der zweifelhafte Ruf an, sie flüchteten sich ins Passiv, bildeten unnötige Schachtelsätze, substantivierten massenweise Verben und bedienten sich überhaupt einer Fachsprache, die auf Verständlichkeit nicht besonders bedacht sei.
Dass der Gesetzgeber sich einer stark abstrahierenden Ausdrucksweise befleißigen muss, um mit endlich vielen Regeln unendlich viele mögliche Konflikte einzufangen – geschenkt. Aber wie steht es mit gerichtlichen Urteilen? Die entscheiden Einzelfälle und können daher etwas konkreter werden. Nicht zuletzt bezahlen die Parteien die Kosten des Verfahrens, also läge eine adressatenorientierte Sprache nicht so fern. Kann klappen, muss aber nicht.
Radfahren ist einfach – darüber zu schreiben nicht
Beispiel: Ein Verkehrsteilnehmer, der immer wieder einmal alkoholisiert fuhr, wollte sich seine Fahrerlaubnis zurückerstreiten. Dazu trug er unter anderem vor, er habe das Fahrrad nicht trunken im Verkehr geführt (§ 316 StGB), weil er zwar darauf gesessen, aber nicht mit beiden Füßen den Kontakt zum Boden verloren habe (auch darauf muss man erst einmal kommen). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof verwirft diesen Ansatz und bestimmt den Begriff des Führens anders. Der gedankliche Ausgangspunkt lautet auf Deutsch:
Was gelenkt werden kann, muss gelenkt werden. Alles andere ist zu gefährlich.
Juristisch formuliert liest sich das im Urteil so:
"Das Sitzen auf einem rollenden Fahrrad stellt ein Führen dieses Fahrrads dar, weil ein rollendes Fahrrad mit einer darauf sitzenden Person offensichtlich des Führens bedarf."
Deutlicher - und etwas weniger zirkulär - wird die Aussage im amtlichen Leitsatz:
"Wer auf einem rollenden Fahrrad sitzt, führt dieses Fahrrad, weil ein rollendes Fahrrad des Lenkens bedarf."
Der Ernst verursacht unfreiwillige Komik
Und wie so oft, wenn etwas eigentlich klar ist, folgt eine umfängliche Begründung:
"Das VG hat hierzu ausgeführt, dies gelte unabhängig davon, ob die Bewegungsenergie aus einem aktuellen Betätigen der Pedale gezogen werde, aus einer vorhergehenden Pedalbewegung herrühre oder etwa nur aus der Schwerkraft beim Befahren einer Gefällstrecke. Kennzeichnend für das Führen eines Fahrzeugs sei, dass die Räder rollten, also ein eigenständiger Bewegungsvorgang des Fahrzeugs ausgelöst worden sei, was bei einem Fahrrad dann anzunehmen sei, wenn sich Fahrer und Fahrrad zusammen bewegten und der Bodenkontakt mit beiden Füßen gelöst sei.
Daran bestehen keine ernstlichen Zweifel. […] Rollt ein Fahrrad mit einer darauf sitzenden Person, ergibt sich damit automatisch, dass der Bodenkontakt mit den Füßen 'gelöst' ist; ansonsten würden die Füße während der Bewegung des Fahrrads auf dem Boden 'schleifen', was zwar möglich ist, aber letztlich dem Führen eines Fahrrads nicht entgegensteht, weil es auch dann noch geführt, also gelenkt werden muss."
Spätestens bei diesen letzten Sätzen seufzt man erleichtert auf. Was den Leser hier unwillkürlich schmunzeln lässt, ist der Versuch, mit allem geschuldeten Ernst eine Selbstverständlichkeit zu begründen. Aber: Je nach Umfang und Substantiierung des Tatsachen- und Rechtsvortrags mag das durchaus geboten erschienen sein. Und richtig laut lachen darf eigentlich auch nur, wer eine weniger geschraubte Alternativformulierung zuwege bringt. Versuchen Sie es mal!
2/2: Juristen lieben Substantive
Hier ein Beispiel aus der Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs (BGH). Der (gewiss auch prüfungstaugliche) Sachverhalt: Ein Tierschutzverein fordert eine Bank auf, die Kontoverbindung eines Interessenverbands von Tierzüchtern wegen der unerfreulichen Haltungsbedingungen der Pelztiere zu kündigen. Das Urteil hat schnell das Schlagwort "Nerzquäler" verpasst bekommen. Der Verband verlangt Unterlassung, was sich – vielleicht – aus §§ 823 I, 1004 BGB begründen lässt. Für die zutreffende rechtliche Einordnung des Konflikts und die Strenge des anzulegenden Maßstabs kommt es darauf an, ob die Äußerung des Tierschutzvereins eine Tatsachenbehauptung oder eine Wertung ist.
Ein gedanklicher Schritt in der Urteilsbegründung des BGH lautet nun:
Um zu entscheiden, ob es sich bei einer Äußerung um eine Wertung handelt oder um eine Tatsachenbehauptung, muss man sie zuerst verstanden haben.
Den Richtern des VI. Zivilsenats erschien die Aussage aber wohl ein wenig zu schmucklos, also fassten sie sie juristischer:
"Die zutreffende Einstufung einer Äußerung als Wertung oder Tatsachenbehauptung setzt die Erfassung ihres Sinns voraus (vgl. Senatsurteile vom 11. März 2008 - VI ZR 7/07, VersR 2008, 793 Rn. 15; vom 22. September 2009 - VI ZR 19/08, VersR 2009, 1545 Rn. 11; vom 16. Dezember 2014 - VI ZR 39/14, VersR 2015, 247 Rn. 9; BVerfGK 10, 485, 489; jeweils mwN)."
Schon die erste Satzhälfte genügt, um Deutschlehrer im ganzen Land in unheilbare Schreikrämpfe ausbrechen zu lassen ("ungungungung!"). Aber auch die zweite Hälfte in der Klammer erzählt einiges über die Art, wie Juristen Urteile begründen. Eine ungefähre Übersetzung lautet: Falls Du uns nicht glaubst, dass Interpretation Verständnis voraussetzt – wir behaupten das schon länger. Und das Bundesverfassungsgericht auch. Ha! Was sagst Du nun?
Rechts überholen oder lieber Vorsortierräume nutzen?
Dass es auch anders geht als durch penetrante Häufungen uneleganter Substantive auf "–ung", beweist ein zu Unrecht in Vergessenheit geratener Klassiker. Die Straßenverkehrsordnung verbietet das Rechtsüberholen (§ 5 I StVO), abgesehen von ein paar Ausnahmen (§ 7 II, IIa StVO). Ein Autofahrer hatte sich rechts an einer langsamen Fahrzeugschlange vorbeigetrickst und dann wieder eingefädelt. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf bestätigte seine Verurteilung. Die im Urteil erforderliche Aussage lautete verständlich ausgedrückt:
Rechts überholen ist verboten.
Das Gericht formulierte sie "etwas" juristischer:
"Wer auf der Autobahn im Bereich von Vorsortierräumen, die durch Aufstellen von fahrstreifengliedernden Vorfahrtsweisern eingerichtet sind, auf der durch eine breite Leitlinie abgetrennten Rechtsabbiegespur an den auf den für den Geradeausverkehr bestimmten Fahrbahnen befindlichen Fahrzeugkolonnen rechts vorbeifährt, ohne nach rechts abbiegen zu wollen, und anschließend nach links in eine Fahrzeuglücke einschert, überholt verbotswidrig rechts."
Dass diesem Satz nicht nur inhaltlich eine tiefe Wahrheit innewohnt, sondern auch sprachlich große Schönheit, erkennt man, wenn man ihn zuerst auswendig lernt – und dann versucht, ihn zu rappen. Wer es mit dem Rap nicht so hat, probiere es mit Simultanübersetzen.
Zur Ehrenrettung des Gerichts ist allerdings festzuhalten: Es ist der Leitsatz. Die Urteilsgründe sind völlig vernünftig geschrieben. Und für Leitsätze gelten andere Maßstäbe. Die Versuchung ist einfach zu groß, den halben Sachverhalt und zwei Drittel der tragenden Entscheidungsgründe in einen einzigen Satz zu quetschen. Für Involvierte und Fachmedien mag das in Ordnung gehen. Aber als Service für den gemeinen Leser? Naja.
Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.
Die Fundstellen zum Nachlesen:
a) BayVGH v. 17.11.2014,11 ZB 14.1755, in: NJW 2015, 1626, zitiert sind Rn. 16-18 und der Leitsatz;
b) BGH v. 19.1.2016, VI ZR 302/15, in: NJW 2016, 1584, zitiert aus Rn. 17;
c) OLG Düsseldorf v. 31. 1.1990, 5 Ss (OWi) 416/89, in: NZV 1990, 281, zitiert ist der Leitsatz.
Roland Schimmel, Juristische Stilblüten: Der Alltag in Gerichtssprache . In: Legal Tribune Online, 29.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20147/ (abgerufen am: 29.03.2024 )
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