Tag des Grundgesetzes 2021: Hält das Wunder aus dem Bonner Natur­kun­de­mu­seum?

von Alexander Thiele

23.05.2021

Europäische Integration, Klimawandel, Migration oder Coronakrise: Der demokratische Verfassungsstaat und damit auch das GG stehen vor einer Reihe von Herausforderungen. Wie sie zu bewältigen sind, erläutert Alexander Thiele:

Das Grundgesetz (GG) ist eine erfolgreiche Verfassung. Seit nunmehr 72 Jahren bildet es die politische und gesellschaftliche Rahmenordnung, seit dem 3. Oktober 1990 werden auch die fünf "neuen" Bundesländer der ehemaligen DDR von seinem Geltungsbereich erfasst. Rückblickend war diese Zeit geprägt von einer beeindruckenden (nicht zuletzt ökonomischen) Entwicklung, die am 23. Mai 1949 nicht vorherzusehen war. Die zweite Demokratie auf deutschem Boden steht heute auf einem soliden Fundament.

Natürlich war es nicht das GG allein, das diese Stabilität garantierte. Wie der Untergang der Weimarer Republik zeigt, kann eine Verfassung gegen zu starke antidemokratische Kräfte (vor allem in ökonomisch aufgewühlten Zeiten) aus sich heraus nicht ankommen. Die Rahmenbedingungen und das Verhalten der politischen, kulturellen und ökonomischen Eliten spielen gerade in der Anfangszeit einer politischen Ordnung eine bedeutende Rolle.

Das erkannte schon Benjamin Franklin als er im Jahr 1775 auf die Frage danach, was die amerikanische Verfassung errichtet habe, antwortete: "A republic, if you can keep it." Während der Präsidentschaft Donald Trumps wurde erkennbar, was der Mitverfasser der Unabhängigkeitserklärung damit zum Ausdruck bringen wollte: Ob die amerikanische Verfassungsordnung eine zweite Amtszeit Trumps überstanden hätte, ist eine offene, glücklicherweise aber rein theoretische Frage.

"Nicht in selbstgefällige Genügsamkeit verfallen"

Insofern waren es auch die veränderten Umstände nach der Kapitulation, das geschickte Vorgehen der Alliierten, die erste Generation der politischen Entscheidungsträger und die positive wirtschaftliche Entwicklung, die zum demokratischen Erfolg maßgeblich beigetragen haben. Auch auf eine gewisse demokratische Tradition konnte das GG bauen.

Und dennoch: Das, was die Frauen und Männer des Parlamentarischen Rates im Bonner "Naturkundemuseum Alexander Koenig" unter den Blicken der dort ausgestellten präparierten Giraffe erarbeiteten und in Kraft setzten, war angesichts der unmittelbaren deutschen Vorgeschichte gewiss auch ein Wunder.

Gerade deshalb kann und darf eine demokratische Ordnung niemals in selbstgefällige Genügsamkeit verfallen. Das Alter einer demokratischen Ordnung ist kein Indikator für ihre Zukunftsfähigkeit. Das zeigt sich in den USA, partiell auch in Großbritannien. Für jüngere Demokratien (Ungarn, Polen) gilt das ohnehin. Demokratische Ordnungen bedürfen der steten Pflege. Sie erhalten sich nicht von selbst.

Europäische Integration als Herausforderung

Veränderte Umstände, aktuell die Bewältigung der Globalisierung, der Klimakrise und der Corona-Pandemie, stellen die demokratische Verfassungsordnung vor neue Herausforderungen. Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind wir in Deutschland zwar weit entfernt von Weimarer Verhältnissen. Wir haben, wie die Historikerin Birte Förster es formuliert, "eigene Probleme, die wir mit unseren heutigen Mitteln bewältigen müssen". Vor diesen Problemen dürfen wir aber die Augen nicht verschließen, wenn wir das GG behalten und unter ihm leben wollen.

Dabei geht es auch um die Frage, wie wir uns die Zukunft des GG im Prozess der Europäischen Integration vorstellen. Diese, in Art. 23 GG zum Staatsziel erklärt, ist eine Herausforderung für jede nationalstaatliche Verfassung und nimmt für sich in Anspruch, die Staatsgewalt umfassend zu regeln. In den letzten Jahrzehnten wurden jedoch immer mehr Kompetenzen auf die EU übertragen. Welcher Hoheitsgewalt wir unter welchen Voraussetzungen ausgesetzt sind, lässt sich dem GG damit nicht mehr abschließend entnehmen.

Weil die EU nicht selbst über den Umfang ihrer Kompetenzen entscheidet, fehlt ihr die Verfassungsautonomie. Sie hat daher keine formelle Verfassung und ist auch noch kein Staat. Ihr Einfluss auf das tägliche Leben ist gleichwohl beachtlich, im Grundsatz genießt ihr Recht Vorrang vor nationalem Recht. Wie aber lässt sich die EU damit staats- und verfassungstheoretisch fassen? Und was heißt das für das GG?

"Verfassungstheoretische Neuerungen nicht ausgeschlossen"

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Staatenverbund als neue staatstheoretische Kategorie eingeführt und damit die Zwischenstellung der EU zwischen losem Staatenbund und festem Bundesstaat sprachlich treffend erfasst. Allein: Wie geht es weiter? Das GG verpflichtet die Bundesrepublik dazu, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.

Es hat dadurch von Anfang an versucht, wie der ehemalige Richter des BVerfG, Udo Di Fabio, es formuliert, "auf eine innovative Art das Innen und das Außen neu zu verbinden". In welcher Form das zu geschehen hat, wie diese "offene Staatlichkeit" umgesetzt wird, ist verfassungsrechtlich aber nicht vorgegeben, sondern dem politischen Prozess überlassen. Verfassungstheoretische Neuerungen sind in Zeiten eines solchen "Verfassungspluralismus" nicht ausgeschlossen.

Verfassungsverständnis im Wandel

Ich glaube, dass der demokratische Verfassungsstaat, das Ergebnis jahrhundertelanger Verfassungskämpfe, weiterhin das grundsätzliche Organisationsmodell der Zukunft sein kann. Staatenübergreifende Herausforderungen wie Klimawandel, Migration oder Corona wird dieser demokratische Verfassungsstaat allein natürlich nicht meistern können. Es geht heute also um internationale Kooperation und Zusammenarbeit, mithin um einen international integrierten demokratischen Verfassungsstaat, der in wechselseitiger Bedingtheit zu inter- und supranationalen Institutionen steht. Damit unterliegt auch das historisch gewachsene Verfassungsverständnis einem Wandel, wie mein Kollege, Christoph Gusy betont: "Neue Kooperations- und Verflechtungsformen brauchen neue Rechtsformen."

Bei der EU geht es dann aber nicht vorrangig um den möglichen Finalzustand der Integration, sondern darum, jeder Ebene im "dualistischen Herrschaftsmodell" diejenigen Zuständigkeiten zuzuweisen, die sie sinnvoll wahrnehmen kann, um eine möglichst hohe Verbundlegitimität zu generieren. Wir neigen dazu, ambivalente Zustände vereindeutigen zu wollen und sehnen uns danach, auch der EU alsbald einen klaren Status zuzuweisen: Staat oder Nicht-Staat. Die Zukunft der EU und diejenige der integrierten Mitgliedstaaten mit ihren Verfassungen liegt aber möglicherweise – zumindest für einen gewissen Zeitraum – in ihrer staats- und verfassungstheoretischen Unbestimmtheit.

Eine solche (temporäre) Ambivalenz muss nicht als verfassungstheoretische Verfallsgeschichte interpretiert werden. Verfassungen sind entgegen ihrem eigenen Anspruch stets nur "provisorische Ordnungen" (Christoph Möllers). Sich in Ruhe und ohne verfrühte Festlegungen Gedanken über den Übergang und eine mögliche neue Ordnung zu machen, kann daher nur richtig sein. Diese Debatten gilt es nun zu führen – für die EU hat die Zukunftskonferenz soeben begonnen.

"Auch das GG ist vergänglich"

Wer dabei moniert, dass es sich um "Elitendebatten" handelt und das europäische Integrationsprojekt als Elitenprojekt diffamiert, hat sich mit der jüngeren Verfassungsgeschichte vermutlich nie ernsthaft beschäftigt. Verfassungs- und Demokratisierungsschübe wurden immer von Eliten getragen, die sie teilweise gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung durchsetzten. Das hat zuletzt die Historikerin Hedwig Richter treffend herausgearbeitet. Was waren die USA und ihre Verfassung anderes, als das Projekt einer sozio-ökonomischen Elite? Reformen von oben waren mittelfristig auch meist erfolgreicher, als revolutionäre Ausbrüche und das gilt bis heute. Erkenntnisse der Verfassungsgeschichte können damit in vielfältiger Weise für aktuelle Debatten nützlich sein zu einem besseren Verständnis der Gegenwart beitragen und Konzeptideen für die Zukunft liefern.

Dieser Blick zurück lehrt aber vor allem, dass politische Systeme zwar den Anspruch erheben, langfristig zu bestehen, dass ihnen das aber nur selten gelungen ist. Abgesehen von den USA (deren politisches System aktuell ebenfalls unter Druck steht) und Großbritannien, sind alle anderen demokratischen Verfassungsordnungen vergleichsweise jungen Alters. Es spricht wenig dafür, dass diese Errichtungs- und Verfallsgeschichte, das stete Auf und Ab, heute zu Ende ist. Warum auch?

Die Staatenlandschaft ist in ständiger Bewegung, neue Staaten entstehen, andere Staaten gehen unter oder unterliegen grundlegenden politischen Reformen. Der verfassungsgeschichtliche Blick zurück mahnt, sich dieser Vergänglichkeit politischer Ordnungen immer wieder zu vergewissern und nicht der Hybris zu unterliegen, dass die aktuelle Verfassungsordnung ohne weiteres bis in alle Ewigkeit bestehen wird. Ein Ende der Geschichte ist nicht in Sicht. Auch das Grundgesetz ist vergänglich.

Das verfassungsrechtlich normierte Leben in demokratischer Freiheit und Gleichheit, wie es unter dem GG möglich ist, ist weder historisch noch im internationalen Vergleich eine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil. Der Blick in die Verfassungsgeschichte zeigt aber auch warum es sich lohnt, sich für den demokratischen Verfassungsstaat einzusetzen. Wenn wir das gemeinsam tun, kann das GG noch lange unseren politischen und gesellschaftlichen Rahmen formen.

Prof. Dr. Alexander Thiele vertritt zurzeit einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der LMU in München. Er ist Autor diverser Bücher zum Staats- und Verfassungsrecht. Zuletzt erschien im Campus-Verlag "Der konstituierte Staat – Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit".

Zitiervorschlag

Tag des Grundgesetzes 2021: Hält das Wunder aus dem Bonner Naturkundemuseum? . In: Legal Tribune Online, 23.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45032/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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