Rechtsgeschichte: Fasten war nicht immer Well­ness

von Martin Rath

10.03.2019

Heute gilt Fasten als milde spirituelle Pflicht oder als Teil des persönlichen Wellness-Programms. Doch herrschten in Europa früher geradezu ramadaneske Rechtspflichten zum Fasten – vereinzelt sogar bis 1974.

Manchmal geht es auch im Christentum um die Wurst. Die einschlägigen rechtlichen Regelungen finden sich in den Canones 1250 bis 1253 Codex Iuris Canonici (CIC), dem Gesetzbuch der römisch-katholischen Kirche. Sie gebieten den rund 23 Millionen Katholiken in Deutschland, in der Fastenzeit vor Ostern Buße zu üben. Can. 1252 CIC verpflichtet beispielsweise alle über 14-jährigen Katholiken zur Abstinenz, d.h. dazu, jedenfalls am Aschermittwoch und am Karfreitag kein Fleisch zu verzehren.  Volljährigen Katholiken bis zum Beginn des 60. Lebensjahrs obliegt es zu fasten, also u.a. Zurückhaltung bei der Nahrungsaufnahme an den Tag zu legen.

Für Aschermittwoch und Karfreitag geben die Bischöfe ihren deutschen Glaubensbrüdern und -schwestern strenges Fasten vor: Es soll dann nur eine Mahlzeit zu sich genommen werden. Bis sie in den 1960er und 1990er Jahren abgemildert wurden, galten derart strikte Vorgaben auch für die übrigen 40 Tage der Fastenzeit vor Ostern. So sah die "Fastenordnung für die Bistümer des Deutschen Reiches" aus dem Jahr 1930 die Beschränkung auf eine volle Mahlzeit täglich vor.

Wer sich zu den normativ nervösen Menschen zählt, denen schon die bloße Vorstellung Übelkeit bereitet, sie könnten gegen eine Rechtspflicht verstoßen haben, darf jedoch wenigstens heute aufatmen: Für die Sonntage der Fastenzeit gab und gibt es keine Obliegenheit, sich der Nahrung zu enthalten. Ohne helfende Staatsgewalt setzt zudem inzwischen wohl keine Religionsvereinigung ihre Regeln auf Dauer erfolgreich durch.

Wir fasten, aber hungern nicht

Dass die kirchenrechtlichen Vorschriften zur Buß- und Fastenzeit in den westlichen Gesellschaften heute befremdlich wirken, hat eine lebensweltlich-soziologische und eine rechtshistorische Dimension.

Zur lebensweltlichen Erfahrung zählt, vereinfacht gesagt, dass "echter Hunger" heute einer erfreulich wachsenden Zahl von Menschen in seiner existenziellen Form weitgehend unbekannt ist – also selten in der Weise erlebt wird, dass ein Mensch gestern und heute keine Nahrung gefunden hat und sich darüber bereits so geschwächt fühlt, dass ihm sogar die Hoffnung schwindet, morgen könnte es anders sein.

Ohne diese existenzielle Erfahrung, bald schon keine Kraft mehr aufzubringen, sich jemals wieder den Bauch füllen zu können, fehlt das Verständnis dafür, dass die durch Nahrungsverzicht vermittelte Not veranlassen könnte, über die eigene Position zwischen Leben und Tod, Himmel und Erde, Recht und Unrecht nachzusinnen.

Rechtspflichten wie im Ramadan

Vor diesem Hintergrund wurden religiöse Fastenregeln bis ins 19. Jahrhundert von der Staatsgewalt überwacht, zugleich bediente sie sich selbst in rechtlichen Regelungen der existenziellen Hunger-Erfahrung.

Einen ersten Überblick darüber, wie z.B. das 1918 untergegangene österreichisch-ungarische Imperium in seinen deutschen Landesteilen auf die Sittenlehre der römisch-katholischen Kirche zurückgriff, bietet das "Gesetzlexikon im Geistlichen, Religions- und Toleranzsache, wie auch in Güter-, Stiftungs-, Studien- und Zensursachen für das Königreich Böhmen von 1601 bis Ende 1800" (Prag, 1828).  Es dokumentiert zwar nur das regionale Recht einer Epoche, darf aber angesichts der barocken Regelungsfreude als bemerkenswerte Quelle gelten.

Bevor die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in den deutschen Staaten ca. seit den 1850er Jahren über den Status von absolutistischen Lippenbekenntnissen hinauskam, zeigte sich der Schulterschluss von Thron und Altar in vielfachen Beispielen wie dem folgenden – eine Wehrrechtsregelung, erlassen im Jahr 1759:

"Rekrutenhebung. Die obrigkeitlichen Beamten sollen bei schärfster Ahndung, auch unter ansonsten zu gewarten habenden Strafe der Galeeren Niemanden an Sonn- und Feyertagen bei dem Kirchengange, noch weniger aber aus denen Kirchen zu Rekruten hinwegnehmen; dabei bleibt jedoch denen obrigkeitlichen Beamten unbenommen, an bemeldten Tagen Nachmittags sich derley tauglich findenden Leuten in denen Wirthshäusern zu versichern; auch jene Pursche vorzüglich auszuheben, welche während des Gottesdienstes muthwilligerweise, oder aus Faulheit, ohne daß ihnen die Haushaltung aufgetragen ist, zu Hause verbleiben."

Wie in vielen anderen Fragen des religiösen Lebens sorgte sich die Staatsgewalt um die Fastenzeit. Zur Wahrung des "Fastengeboths" stellte der böhmisch-deutsche Fürst beispielsweise 1628 fest, dass viele Menschen "überhaupt an allen diesen Fasttägen verschiedene Fleischspeisen genießen, und dieselben öffentlich in den Städten, Marktflecken und andern Orten ohne allen Unterschied und Berücksichtigung der Zeit vor den Häusern auf den Gässen, in Gasthäusern, Garküchen, und an anderen Orten sowohl gekocht als gebraten, oder wie immer sonst zugerichtet, zu großer Aergerniß guter katholischer Herzen ausstellen und verkaufen[.]"

Allen "Kreishauptleuten, Wirthschaftsbeamten, Bürgermeistern, Richtern und Geschworenen, und allen andern in diesem Königreiche Böhmen wohnenden Menschen, wer sie auch immer seyn" befahl der Fürst daher, ordnungsgemäß zu fasten.

Bei Zuwiderhandlung sei dem Täter "nicht nur das Fleisch wegzunehmen, und einem Spitale für die armen Menschen zu geben", sondern auch eine empfindliche Geldstrafe "ohne aller Schonung unnachsichtlich beizutreiben" und er zudem "nach Maßgabe der Nothwendigkeit andern zur Warnung am Leibe zu bestrafen". Das Aufkommen aus den Geldstrafen sei zwischen der Kirchen- und der Ortsgemeinde zu teilen und auch derjenige zu belohnen, der "solches verräth und angibt".

Nahrungsentzug zwischen Strafe und Buß-Obliegenheit

Seit dem 19. Jahrhundert überließ es der Staat allmählich den bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stark konfessionell segregierten Gemeinden und Nachbarschaften, die Einhaltung z.B. der Fastenregeln mittels sozialen Konformitätsdrucks durchzusetzen. Als Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019)  etwa 1964 sein berühmtes Diktum formulierte, war dies etwa noch weitgehend der Fall. Allein die stillen Feiertage, das berüchtigte "Tanzverbot" u.a. am Karfreitag, sind hier als spürbare staatliche Regulative erhalten geblieben.

Bis die Säkularisation auch der Lebenswelt in der Fläche einsetzte, griff der – angeblich längst moderne – Staat zudem auf die Idee der drei abrahamitischen Religionen zurück, dass der Hunger zur einer seelischen Erhebung des darbenden Menschen beitragen müsste.

Vermischt mit ökonomischen Erwägungen und Regelungen dazu, wie die Insassen seiner Zuchthäuser zu foltern seien, findet sich dieses Motiv beispielsweise im Recht des Königreichs Sachsen. § 22 Abs. 1 der "Hausordnung für das Zuchthaus zu Waldheim" sah vor: "Von der Anstalt darf den Züchtlingen nur dasjenige gewährt werden, was zur Erhaltung ihres Lebens, ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit nothwendig ist." Eine Nahrungsaufnahme durfte – abgesehen von einem zweiten Frühstück für schwer arbeitende Inhaftierte – ausschließlich bei den drei Hauptmahlzeiten erfolgen. Während der Mahlzeiten war eine "Andachtsübung" zu halten (§ 23). An jedem Werktag waren mindestens 13 Stunden Zwangsarbeit zu leisten (§ 29). § 49 dekretierte: "Jeder nicht ausdrücklich erlaubte sinnliche Genuß ist verboten."

Nach §§ 52, 53 der Hausordnung, einer grauenhaften  Sammlung von Foltermethoden (Dunkelhaft, Fesselung in gekrümmter Körperposition, mit Ketten und Gewichten u. v. a.), war auch die "Kostschmälerung verschiedener Grade" als Disziplinarstrafe zulässig – bis zu dreißig Mal für einen Verstoß. Zwar war der Beschuldigte anzuhören, jedoch blieb auch die stellvertretende Bestrafung einzelner, unschuldiger "Züchtlinge" wegen "hartnäckigen Verschweigens des oder der eigentlich Schuldigen" zulässig.

Diese Regelungen wurden im aufgeklärten Jahr 1850 erlassen und in den Folgejahren noch verfeinert – beispielsweise hinsichtlich der Qualität der Werkzeuge, mit denen in sächsischen Zuchthäusern die Körperstrafen ausgeführt werden sollten. Kein Wunder, dass noch Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Strafrechtsgelehrte dafür plädierten, die Todesstrafe beizubehalten, um Kriminellen diese Torturen zu ersparen.

Fasten-Tage im österreichischen Strafvollzug

Mochte sich die deutsche Strafrechtspflege nicht ganz darauf festlegen, ob Hunger nun eher als Sanktion oder eher als Mittel der seelischen Erhebung zu betrachten sei, regelte der österreichische Staat diese Frage gleich auf der Ebene des materiellen Strafrechts.

Nach § 19 Strafgesetz (StG) vom 1. September 1852 konnte die Kerkerstrafe – das kakanische Zuchthaus – u.a. durch "Einzelnhaft" oder "die einsame Absperrung in dunkler Zelle", schließlich auch durch Fasten "noch verschärft" werden. Hierzu gab § 20 StG vor: "Der erste und zweite Grad der Kerkerstrafe kann durch Fasten dergestalt verschärft werden, daß der Sträfling an einigen Tagen nur bei Wasser und Brot gehalten werde. Doch soll dieses wöchentlich nicht über drei Mal, und nur in unterbrochenen Tagen geschehen."

Österreich sollte dieses archaische Strafrecht erst zum 31. Dezember 1974 außer Kraft setzen.

Den Zusammenhang zwischen Fasten und Buße im durchaus spirituellen Sinn stellten die österreichischen Gerichte mit der hergebrachten Formel her, dass der Verurteilte jeweils an einem Fastentag pro Monat bei "hartem Lager" und jeweils am Jahrestag seiner Tat in Dunkelhaft bei Wasser und Brot zu fasten habe – so beispielsweise seit 1966 der womöglich psychisch kranke Kindsmörder Josef Weinwurm während der ersten acht Jahre seiner Haft.

Kein Anlass vielleicht, von Fastenzeiten und Diäten abzusehen, aber es sollte Grund genug sein, das Fasten nicht allein aus der "Darm mit Charme"-Perspektive oder als abendlandsfremde ramadanistische Provokation zu betrachten.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist.

Zitiervorschlag

Rechtsgeschichte: Fasten war nicht immer Wellness . In: Legal Tribune Online, 10.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34281/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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