Druckversion
Samstag, 24.05.2025, 20:54 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/feuilleton/f/fastenzeit-busse-rechtspflichten-kirche-staat-strafvollzug-ramadan
Fenster schließen
Artikel drucken
34281

Rechtsgeschichte: Fasten war nicht immer Well­ness

von Martin Rath

10.03.2019

Fastenzeit

© nehopelon - stock.adobe.com

Heute gilt Fasten als milde spirituelle Pflicht oder als Teil des persönlichen Wellness-Programms. Doch herrschten in Europa früher geradezu ramadaneske Rechtspflichten zum Fasten – vereinzelt sogar bis 1974.

Anzeige

Manchmal geht es auch im Christentum um die Wurst. Die einschlägigen rechtlichen Regelungen finden sich in den Canones 1250 bis 1253 Codex Iuris Canonici (CIC), dem Gesetzbuch der römisch-katholischen Kirche. Sie gebieten den rund 23 Millionen Katholiken in Deutschland, in der Fastenzeit vor Ostern Buße zu üben. Can. 1252 CIC verpflichtet beispielsweise alle über 14-jährigen Katholiken zur Abstinenz, d.h. dazu, jedenfalls am Aschermittwoch und am Karfreitag kein Fleisch zu verzehren.  Volljährigen Katholiken bis zum Beginn des 60. Lebensjahrs obliegt es zu fasten, also u.a. Zurückhaltung bei der Nahrungsaufnahme an den Tag zu legen.

Für Aschermittwoch und Karfreitag geben die Bischöfe ihren deutschen Glaubensbrüdern und -schwestern strenges Fasten vor: Es soll dann nur eine Mahlzeit zu sich genommen werden. Bis sie in den 1960er und 1990er Jahren abgemildert wurden, galten derart strikte Vorgaben auch für die übrigen 40 Tage der Fastenzeit vor Ostern. So sah die "Fastenordnung für die Bistümer des Deutschen Reiches" aus dem Jahr 1930 die Beschränkung auf eine volle Mahlzeit täglich vor.

Wer sich zu den normativ nervösen Menschen zählt, denen schon die bloße Vorstellung Übelkeit bereitet, sie könnten gegen eine Rechtspflicht verstoßen haben, darf jedoch wenigstens heute aufatmen: Für die Sonntage der Fastenzeit gab und gibt es keine Obliegenheit, sich der Nahrung zu enthalten. Ohne helfende Staatsgewalt setzt zudem inzwischen wohl keine Religionsvereinigung ihre Regeln auf Dauer erfolgreich durch.

Wir fasten, aber hungern nicht

Dass die kirchenrechtlichen Vorschriften zur Buß- und Fastenzeit in den westlichen Gesellschaften heute befremdlich wirken, hat eine lebensweltlich-soziologische und eine rechtshistorische Dimension.

Zur lebensweltlichen Erfahrung zählt, vereinfacht gesagt, dass "echter Hunger" heute einer erfreulich wachsenden Zahl von Menschen in seiner existenziellen Form weitgehend unbekannt ist – also selten in der Weise erlebt wird, dass ein Mensch gestern und heute keine Nahrung gefunden hat und sich darüber bereits so geschwächt fühlt, dass ihm sogar die Hoffnung schwindet, morgen könnte es anders sein.

Ohne diese existenzielle Erfahrung, bald schon keine Kraft mehr aufzubringen, sich jemals wieder den Bauch füllen zu können, fehlt das Verständnis dafür, dass die durch Nahrungsverzicht vermittelte Not veranlassen könnte, über die eigene Position zwischen Leben und Tod, Himmel und Erde, Recht und Unrecht nachzusinnen.

Rechtspflichten wie im Ramadan

Vor diesem Hintergrund wurden religiöse Fastenregeln bis ins 19. Jahrhundert von der Staatsgewalt überwacht, zugleich bediente sie sich selbst in rechtlichen Regelungen der existenziellen Hunger-Erfahrung.

Einen ersten Überblick darüber, wie z.B. das 1918 untergegangene österreichisch-ungarische Imperium in seinen deutschen Landesteilen auf die Sittenlehre der römisch-katholischen Kirche zurückgriff, bietet das "Gesetzlexikon im Geistlichen, Religions- und Toleranzsache, wie auch in Güter-, Stiftungs-, Studien- und Zensursachen für das Königreich Böhmen von 1601 bis Ende 1800" (Prag, 1828).  Es dokumentiert zwar nur das regionale Recht einer Epoche, darf aber angesichts der barocken Regelungsfreude als bemerkenswerte Quelle gelten.

Bevor die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit in den deutschen Staaten ca. seit den 1850er Jahren über den Status von absolutistischen Lippenbekenntnissen hinauskam, zeigte sich der Schulterschluss von Thron und Altar in vielfachen Beispielen wie dem folgenden – eine Wehrrechtsregelung, erlassen im Jahr 1759:

"Rekrutenhebung. Die obrigkeitlichen Beamten sollen bei schärfster Ahndung, auch unter ansonsten zu gewarten habenden Strafe der Galeeren Niemanden an Sonn- und Feyertagen bei dem Kirchengange, noch weniger aber aus denen Kirchen zu Rekruten hinwegnehmen; dabei bleibt jedoch denen obrigkeitlichen Beamten unbenommen, an bemeldten Tagen Nachmittags sich derley tauglich findenden Leuten in denen Wirthshäusern zu versichern; auch jene Pursche vorzüglich auszuheben, welche während des Gottesdienstes muthwilligerweise, oder aus Faulheit, ohne daß ihnen die Haushaltung aufgetragen ist, zu Hause verbleiben."

Wie in vielen anderen Fragen des religiösen Lebens sorgte sich die Staatsgewalt um die Fastenzeit. Zur Wahrung des "Fastengeboths" stellte der böhmisch-deutsche Fürst beispielsweise 1628 fest, dass viele Menschen "überhaupt an allen diesen Fasttägen verschiedene Fleischspeisen genießen, und dieselben öffentlich in den Städten, Marktflecken und andern Orten ohne allen Unterschied und Berücksichtigung der Zeit vor den Häusern auf den Gässen, in Gasthäusern, Garküchen, und an anderen Orten sowohl gekocht als gebraten, oder wie immer sonst zugerichtet, zu großer Aergerniß guter katholischer Herzen ausstellen und verkaufen[.]"

Allen "Kreishauptleuten, Wirthschaftsbeamten, Bürgermeistern, Richtern und Geschworenen, und allen andern in diesem Königreiche Böhmen wohnenden Menschen, wer sie auch immer seyn" befahl der Fürst daher, ordnungsgemäß zu fasten.

Bei Zuwiderhandlung sei dem Täter "nicht nur das Fleisch wegzunehmen, und einem Spitale für die armen Menschen zu geben", sondern auch eine empfindliche Geldstrafe "ohne aller Schonung unnachsichtlich beizutreiben" und er zudem "nach Maßgabe der Nothwendigkeit andern zur Warnung am Leibe zu bestrafen". Das Aufkommen aus den Geldstrafen sei zwischen der Kirchen- und der Ortsgemeinde zu teilen und auch derjenige zu belohnen, der "solches verräth und angibt".

Nahrungsentzug zwischen Strafe und Buß-Obliegenheit

Seit dem 19. Jahrhundert überließ es der Staat allmählich den bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stark konfessionell segregierten Gemeinden und Nachbarschaften, die Einhaltung z.B. der Fastenregeln mittels sozialen Konformitätsdrucks durchzusetzen. Als Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019)  etwa 1964 sein berühmtes Diktum formulierte, war dies etwa noch weitgehend der Fall. Allein die stillen Feiertage, das berüchtigte "Tanzverbot" u.a. am Karfreitag, sind hier als spürbare staatliche Regulative erhalten geblieben.

Bis die Säkularisation auch der Lebenswelt in der Fläche einsetzte, griff der – angeblich längst moderne – Staat zudem auf die Idee der drei abrahamitischen Religionen zurück, dass der Hunger zur einer seelischen Erhebung des darbenden Menschen beitragen müsste.

Vermischt mit ökonomischen Erwägungen und Regelungen dazu, wie die Insassen seiner Zuchthäuser zu foltern seien, findet sich dieses Motiv beispielsweise im Recht des Königreichs Sachsen. § 22 Abs. 1 der "Hausordnung für das Zuchthaus zu Waldheim" sah vor: "Von der Anstalt darf den Züchtlingen nur dasjenige gewährt werden, was zur Erhaltung ihres Lebens, ihrer Gesundheit und Arbeitsfähigkeit nothwendig ist." Eine Nahrungsaufnahme durfte – abgesehen von einem zweiten Frühstück für schwer arbeitende Inhaftierte – ausschließlich bei den drei Hauptmahlzeiten erfolgen. Während der Mahlzeiten war eine "Andachtsübung" zu halten (§ 23). An jedem Werktag waren mindestens 13 Stunden Zwangsarbeit zu leisten (§ 29). § 49 dekretierte: "Jeder nicht ausdrücklich erlaubte sinnliche Genuß ist verboten."

Nach §§ 52, 53 der Hausordnung, einer grauenhaften  Sammlung von Foltermethoden (Dunkelhaft, Fesselung in gekrümmter Körperposition, mit Ketten und Gewichten u. v. a.), war auch die "Kostschmälerung verschiedener Grade" als Disziplinarstrafe zulässig – bis zu dreißig Mal für einen Verstoß. Zwar war der Beschuldigte anzuhören, jedoch blieb auch die stellvertretende Bestrafung einzelner, unschuldiger "Züchtlinge" wegen "hartnäckigen Verschweigens des oder der eigentlich Schuldigen" zulässig.

Diese Regelungen wurden im aufgeklärten Jahr 1850 erlassen und in den Folgejahren noch verfeinert – beispielsweise hinsichtlich der Qualität der Werkzeuge, mit denen in sächsischen Zuchthäusern die Körperstrafen ausgeführt werden sollten. Kein Wunder, dass noch Anfang des 20. Jahrhunderts deutsche Strafrechtsgelehrte dafür plädierten, die Todesstrafe beizubehalten, um Kriminellen diese Torturen zu ersparen.

Fasten-Tage im österreichischen Strafvollzug

Mochte sich die deutsche Strafrechtspflege nicht ganz darauf festlegen, ob Hunger nun eher als Sanktion oder eher als Mittel der seelischen Erhebung zu betrachten sei, regelte der österreichische Staat diese Frage gleich auf der Ebene des materiellen Strafrechts.

Nach § 19 Strafgesetz (StG) vom 1. September 1852 konnte die Kerkerstrafe – das kakanische Zuchthaus – u.a. durch "Einzelnhaft" oder "die einsame Absperrung in dunkler Zelle", schließlich auch durch Fasten "noch verschärft" werden. Hierzu gab § 20 StG vor: "Der erste und zweite Grad der Kerkerstrafe kann durch Fasten dergestalt verschärft werden, daß der Sträfling an einigen Tagen nur bei Wasser und Brot gehalten werde. Doch soll dieses wöchentlich nicht über drei Mal, und nur in unterbrochenen Tagen geschehen."

Österreich sollte dieses archaische Strafrecht erst zum 31. Dezember 1974 außer Kraft setzen.

Den Zusammenhang zwischen Fasten und Buße im durchaus spirituellen Sinn stellten die österreichischen Gerichte mit der hergebrachten Formel her, dass der Verurteilte jeweils an einem Fastentag pro Monat bei "hartem Lager" und jeweils am Jahrestag seiner Tat in Dunkelhaft bei Wasser und Brot zu fasten habe – so beispielsweise seit 1966 der womöglich psychisch kranke Kindsmörder Josef Weinwurm während der ersten acht Jahre seiner Haft.

Kein Anlass vielleicht, von Fastenzeiten und Diäten abzusehen, aber es sollte Grund genug sein, das Fasten nicht allein aus der "Darm mit Charme"-Perspektive oder als abendlandsfremde ramadanistische Provokation zu betrachten.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist.

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 10.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34281 (abgerufen am: 24.05.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Strafrecht
    • Gesellschaft
    • Islam
    • Karneval
    • Kirche
    • Rechtsgeschichte
Der Eingang der Notaufnahme des einst evangelischen Teils des Klinikums in Lippstadt. 22.05.2025
Schwangerschaftsabbruch

Konfessionelle Klinik verbietet Schwangerschaftsabbrüche:

Ein Che­f­arzt gegen die Kirche

Rund 13 Jahre nahm ein Chefarzt bei medizinischer Indikation Schwangerschaftsabbrüche vor. Dann fusionierte sein Arbeitgeber mit einem katholischen Krankenhaus und untersagte ihm das – sogar für seine Privatpraxis. Ist das rechtens?

Artikel lesen
Ein blauer und cremefarbener Oldtimer parkt auf einem Parkplatz, umgeben von anderen Fahrzeugen. Nostalgische Fahrzeugästhetik. 18.05.2025
Rechtsgeschichte

Als das BAG Lackpflege-Hinweise erteilte:

Schwarzer Himmel über der Ruhr

Steht einem Arbeiter Schadensersatz zu, weil sein Auto unter Emissionen aus dem Betrieb seines Arbeitgebers gelitten hat? Ein BAG-Urteil aus dem Jahr 1965 steht am Ende einer Epoche, in der die Schlote noch äußerst kräftig rauchen durften.

Artikel lesen
Öffnung der Holzkisten in den Räumen des Obersten Gerichts 14.05.2025
Nationalsozialismus

Historischer Fund in Argentiniens höchstem Gericht:

83 Holz­kisten voller NS-Pro­pa­ganda

Postkarten, Mitgliedsausweise, Propagandamaterial: Bei einem Umzug im Corte Suprema sind über 80 Jahre alte NS-Dokumente aufgetaucht – und zwar kistenweise. Fachleute erhoffen sich davon neue Erkenntnisse über das NS-Regime.

Artikel lesen
Museum Berlin-Karlshorst 08.05.2025
Rechtsgeschichte

Der 8. Mai 1945:

Bedin­gungs­lose Kapi­tu­la­tion und Unter­gang des Deut­schen Rei­ches?

Über die Bedeutung des 8. Mai 1945 ist in Deutschland viel gestritten worden: Befreiung oder Niederlage? Auch die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit diskutierte. Sebastian Felz erinnert an die Positionen von Hans Kelsen und Günter Dürig.

Artikel lesen
Albert Kesselring (1953) 01.05.2025
Rechtsgeschichte

Protest gegen den "Stahlhelm" in Betriebsversammlung:

Legitime Ein­mi­schung oder Störung des Betriebs­frie­dens?

Am 4. Mai 1955 bestätigte das Bundesarbeitsgericht den Ausschluss von drei Betriebsratsmitgliedern einer Bremer Werft. Vorgeworfen wurde ihnen, durch eine politische Resolution unzulässig Unruhe in den Betrieb getragen zu haben.

Artikel lesen
Das Bild zeigt eine Frau im Niqab, die am Steuer sitzt. Das Verbot betrifft Sichtbarkeit und Sicherheit beim Autofahren. 29.04.2025
Nachrichten

OVG Berlin-Brandenburg bestätigt Verbot:

Kein Niqab am Steuer

Kann ein Niqab am Steuer ausnahmsweise für muslimische Frauen zugelassen werden? Die Frage ist seit Jahren umstritten. Das OVG Berlin-Brandenburg nimmt dazu Stellung und bleibt auf der Rechtsprechungslinie anderer Oberverwaltungsgerichte.

Artikel lesen
logo lto karriere
TopJOBS
Logo von Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg
Staats­an­wäl­tin (Rich­te­rin auf Pro­be) / Staats­an­walt (Rich­ter auf Pro­be)...

Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg , Frank­furt (Oder)

Logo von Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg
Staats­an­wäl­tin (Rich­te­rin auf Pro­be) / Staats­an­walt (Rich­ter auf Pro­be)...

Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg , Pots­dam

Logo von Wolters Kluwer
Ju­rist als Pro­dukt­ma­na­ger Print & On­li­ne (m/w/d)

Wolters Kluwer , Hürth

Logo von ADVANT Beiten
Re­fe­ren­da­re (w/m/d) - Wirt­schafts­straf­recht & Com­p­li­an­ce

ADVANT Beiten , Düs­sel­dorf

Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Frank­furt am Main

Logo von Oppenhoff
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) al­le Fach­be­rei­che

Oppenhoff , Köln

Logo von GvW Graf von Westphalen
Re­fe­ren­da­re (m/w/d) Stand­ort Stutt­gart

GvW Graf von Westphalen , Stutt­gart

Logo von Evangelische Hochschule Freiburg
Pro­fes­sur für Recht in der So­zia­len Ar­beit (m/w/d)

Evangelische Hochschule Freiburg , Frei­burg im Breis­gau

Mehr Stellenanzeigen
logo lto events
RAV-Kongress: AufRecht. Solidarisch in autoritären Zeiten

13.06.2025, Leipzig

Unternehmensumwandlungen: Umwandlung eines Einzelunternehmens in eine GmbH

03.06.2025

Logo von Deutscher Anwaltverein
Deutscher Anwaltstag 2025 in Berlin

02.06.2025, Berlin

Logo von Hengeler Mueller
LL.M. Farewell Dinner

03.07.2025, Frankfurt am Main

Der AI Act – aktueller Stand der Regulierung Künstlicher Intelligenz

04.06.2025

Mehr Events
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH