Polen: So schwierig wird die Rück­kehr zum Rechts­staat

Gastbeitrag von David Gregosz und Thomas Behrens

08.12.2023

Acht Jahre hatte die PiS, um den Rechtsstaat abzubauen – die neue Mehrheit wird es schwer haben, das zu reparieren. Verfassungsgericht und Präsident bleiben mächtige Gegenspieler. Wie legal umgehen mit verfassungswidrigen Strukturen?

Die Polen haben bei den Parlamentswahlen im Oktober die PiS-Regierung und die illiberale Politik von Jarosław Kaczyński abgewählt. Die künftige proeuropäisch-demokratische Regierungskoalition aus Bürgerkoalition, Drittem Weg und Linke verfügt über eine deutliche Mehrheit im polnischen Parlament, dem Sejm. Und der designierte Ministerpräsident Donald Tusk verspricht nichts weniger als die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Doch dass das kein Selbstläufer wird, zeichnet sich bereits ab. Die Präsidentin des Verfassungsgerichts, Julia Przyłębska, die als konservative und der PiS nahestehende Richterin gilt, nannte die Reformpläne "peinlich". Sie werde die polnische Verfassung gegen solche "Aufrufe zur Gesetzlosigkeit" verteidigen. Welche Korrekturen lassen sich vornehmen, die wirksam sind, aber nicht selbst gegen das Gesetz verstoßen?

Die Auswahl neuer Richter – Reform des Landesjustizrats

Eines der vordringlichsten Projekte zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen bildet die Reform des Landesjustizrates (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS). Gemäß der polnischen Verfassung schlägt dieses Gremium dem Staatspräsidenten Kandidaten zur Ernennung auf Richterposten vor. Während der beiden letzten Legislaturperioden seit 2015 allerdings wurde der KRS sukzessive mit Richtern besetzt, die der PiS als der dominierenden Kraft im Sejm nahestehen. Ebenso wurde eine effektive gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen des Rates systematisch abgeschafft: Zunächst ab 2018, indem Entscheidungen für einen Kandidaten nach dem Gesetz bestandskräftig wurden, wenn nicht alle sonstigen Teilnehmer am Ernennungsverfahren die Entschließung des KRS anfochten. Dann ab 2019 wurden Rechtsbehelfe gegen Kandidatenentscheidungen des KRS gar gänzlich abgeschafft und bereits anhängige Beschwerden von Rechts wegen für erledigt erklärt. Der Landesjustizrat hat durch diese Reformen seine politische Unabhängigkeit verloren. So bestätigt auch national wie supranational in Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wie des polnische Obersten Verwaltungsgerichts.

Wie wird der KRS wieder zu einem verfassungskonformen Gremium? Diskutiert wird aktuell als erster Schritt die Verabschiedung einer Resolution durch den polnischen Sejm. Darin würde das Parlament feststellen, dass Richter zu Unrecht in den Rat gewählt wurden, ohne dass sie jedoch ihren Sitz im KRS verlieren. Diese Entschließung des Parlaments wäre – nicht zuletzt für Brüssel und die EU – ein starkes, unmissverständliches Signal für die rechtsstaatliche Erneuerung Polens. Zugleich könnte der Sejm auf dieser Grundlage einen Gesetzentwurf verabschieden, demzufolge die gesamte richterliche Besetzung des KRS abgeschafft und eine neue Art der Kandidatenwahl festlegt würde. Ein Teil von Rechtsexperten vertritt hingegen die resolutere Lösung, dass Richter des Landesjustizrates auch unmittelbar durch die Resolution des Sejm entlassen werden sollen. Ob letztere Einschätzung verfassungsrechtlich zutrifft und möglich ist, bedarf der Klärung. Ziel der neuen Regierung wird es in jedem Fall sein, die Aktivitäten des KRS zunächst "einzufrieren", damit er in seiner jetzigen, rechtswidrigen Verfasstheit keine juristischen Auswahlverfahren mehr organisiert bzw. keine Richterkandidaten mehr vorschlägt. Längerfristig soll der Rat entpolitisiert und neu besetzt werden – mit unabhängigen Vertretern der Justiz.

Wie weiter mit den 2.000 "Neo"-Richtern?

Eng mit der verfassungsgemäßen Neugestaltung des politisierten KRS verknüpft ist die Frage, wie mit so genannten "Neo"-Richtern verfahren wird. Das sind die etwa 2.000 Richter, die während der illiberalen, autokratischen PiS-Regierung rechtsmangelbehaftet ernannt worden sind. Gegenwärtig wird nach einer Lösung gesucht, die allen Rechtsschutzsuchenden und Richterkollegen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Zur Vermeidung einer ausufernden Lähmung der Gerichte wird von einem Teil der Experten vorgeschlagen, alle "Neo"-Richter grundsätzlich in ihre ursprüngliche Instanz vor der Ernennung zurückkehren zu lassen. Sie könnten sich in der Folge neuen Auswahlverfahren vor einem ordnungsgemäß konstituierten Obersten Gerichtshof (Sąd Najwższy, SN) stellen. Von einem solchen Verfahren ausgenommen werden sollen lediglich Richter, die unmittelbar im Anschluss an ihre Ausbildung zu Richtern ernannt wurden. Als Alternative zur generellen Rückversetzung wird eine individuelle Einzelfallüberprüfung diskutiert. 

Die "Richter-Doubles" – Umgang mit dem Verfassungsgericht

Das von der PiS politisierte Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny, TK) wird eine Herausforderung bleiben. Einigkeit besteht unter Experten, dass mittels Sejmresolution die Ungültigkeit der Wahl der drei so genannten "Richter-Double" festgestellt werden kann. Dabei handelt es sich um Richter, die 2015 von PiS besetzt wurden, um von der Mehrheit der Vorgängerregierung (aus PO und PSL) bereits ordnungsgemäß ins TK gewählte Richter zu ersetzen. Ihre Anwesenheit im Gericht ist rechtswidrig; u. a. ist dies Gegenstand eines vor dem EuGH anhängigen Vertragsverletzungsverfahrens. An die Stelle der "Richter-Double" sollten die seinerzeit gewählten Richter treten. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Zusammensetzung der TK- Generalversammlung bis auf Weiteres unkorrigiert bleibt, da eine Entschließung des Sejms rechtlich nicht die Absetzung der von PiS besetzten Richter bewirkt. Entsprechend bezeichnet TK-Präsidentin Julia Przyłębska die Idee einer Sejmresolution als "völliges Missverständnis" und zeigt sich weiter uneinsichtig, es gebe am Gericht absolut keine illegal berufenen Richter.

Umstritten ist aufgrund der "Richter-Double" die Gültigkeit von mehr als 80 Urteilen, die seit 2015 unter Beteiligung dieser Richter erlassen wurden; etwa ein Urteil, das das Abtreibungsrecht im Sinne der Politik der PiS noch verschärfte, aber auch weniger umstrittene Entscheidungen. Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass diese Urteile ungültig sind, aber auf ihrer Grundlage erlassene Einzelurteile gegen Bürger oder Unternehmen in Kraft bleiben. Eine andere Auffassung beharrt darauf, dass kein Staatsorgan sich Urteilen des TK entziehen kann. 

So scheinen an dieser Stelle der künftigen Regierung vorerst die Hände gebunden. Auch hat die Frage der "Richter-Double" derzeit keinen entscheidenden Einfluss auf die Tatsache, dass die TK-Generalversammlung, die als Spruchkörper insgesamt 15 Richter umfasst, derzeit in breiter Mehrheit konservativ besetzt ist. Bis mindestens zum Ende des Vorsitzes von Präsidentin Przyłębska Ende 2024 ist daher nicht damit zu rechnen, dass sich an der politischen, im Sinne der PiS parteinehmenden Rechtsprechung des TK Grundlegendes ändert. Und die Einflussnahme von "Außen" auf die Zusammensetzung des TK als Spruchkörper – sei es durch die Schaffung zusätzlicher Richterposten oder die Reduzierung der Amtszeit von Richtern – kann ebenfalls keine Option sein, bedeutete dies doch faktisch die Gefahr, die bisherigen rechtswidrigen Eingriffe der PiS in den Rechtsstaat durch einen neuerlichen "Rechtsbruch" der nachfolgenden Regierung zu beheben. Dagegen verwahrt sich eine breite demokratische Mehrheit. 

Somit gilt es auszuhalten, dass im polnischen Gesetzgebungsprozess das politisierte TK zumindest für die nächste Zeit ein gewichtiger Veto-Player einer Regierung Tusk bleiben wird (etwa im Wege des Organstreitverfahrens aktiviert durch PiS-Abgeordnete oder aber auch Staatspräsident Duda, der die PiS-Politik unverhohlen gutheißt). Dass hingegen in der Richterschaft am Verfassungsgericht wieder eine Mehrheit erreicht wird, die in Folge auslaufender Amtszeiten durch Neubesetzung seitens der Kräfte der heutigen demokratischen Opposition entstünde, dürfte laut Beobachtern frühestens ab etwa Mitte 2026 eintreten.

Trennung von Generalstaatsanwalt und Justizminister

Polen ist das einzige EU-Land, in dem der Justizminister gleichzeitig auch der Generalstaatsanwalt ist. Die Korrektur der Personalunion beider Ämter hingegen scheint möglich. Die Trennung wäre bedeutend, da eine durch einen Politiker des Regierungslagers geleitete Staatsanwaltschaft extrem politisiert und für politische Zwecke missbraucht werden kann; viele Beobachter werten dies seit 2016 in der Person von Zbigniew Ziobro bereits heute als gegeben. Ein Entwurf zur Wiederauftrennung der beiden Ämter liegt nun vor. Wie bei allen Gesetzesänderung steht jedoch auch dieses Reformprojekt grundsätzlich unter schwierigen Vorzeichen. Denn sie alle müssen vom polnischen Staatsoberhaupt, dem aus dem PiS-Lager stammenden Andrzej Duda, unterzeichnet werden. Ohne seine Absegnung, keine Reformen. Seine Amtszeigt läuft noch bis 6. August 2025.

Während also bei allen Gesetzesreformen mit einem Veto des Präsidenten zu rechnen ist, könnte gerade für die Trennung von Generalstaatsanwalt und Justizminister etwas anderes gelten. So dürfte Duda kein Interesse daran haben, dass mit einem neuen Justizminister aus der bisherigen Opposition auf einen Schlag auch das Amt des Generalstaatsanwalts mitwechselt.

Ausblick

Die skizzierten Herausforderungen lassen für die kommende Regierung die Aussicht erkennen, die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in Polen zeitnah und grundlegend einzuleiten. Nach dem Wahlerfolg haben die koalierenden Partner KO, Dritter Weg und Linke sowie zahlreiche unabhängige Organisationen – vor allem  die polnische Richtervereinigung "IUSTITIA", die Vereinigung der Staatsanwälte "Lex Super Omnia" oder NGO wie "Wolne Sądy" (Freie Gerichte), die "Helsinki Foundation for Human Rights" oder die "Batory Foundation" – effektive Reformvorschläge vorbereitet, um die polnische Justiz wieder rechtsstaatlich zu gestalten.

Eine Umsetzung rascher, tiefgreifender Reformen ist allerdings nicht absehbar. Zu schwer wiegt trotz des Wahlsiegs der demokratischen Kräfte die verbliebene Macht des Verfassungsgerichts, etwa im Organstreitverfahren zwischen den Gewalten, sowie des verbleibenden Staatspräsidenten Duda als Veto-Player der Regierung im polnischen Gesetzgebungsprozess.

Die Koalition wird daher voraussichtlich zunächst Legislativmaßnahmen ergreifen, die der EU und den polnischen Bürgerinnen und Bürgern (eventuelle unter Einbeziehung positiver Stellungsnahmen der Venedig-Kommission) signalisieren, dass Polen von nun an die Regeln der Rechtsstaatlichkeit respektieren und die Unabhängigkeit der Gerichte achten wird. Ferner wird die Regierung die Spannungen zwischen Exekutive und Judikative zu verringern suchen. Sie wird die Verfolgung von Richtern wegen der Anwendung von EU-Recht stoppen. Und sie wird gegenüber dem mit Veto-Recht ausgestatteten Staatspräsident Duda bemüht sein, diesen weitmöglichst in Gesetzesvorhaben einzubinden. Sollte Letzteres keinen Erfolg zeigen, bleibt der Regierung als letztes Mittel nur, über die öffentliche Debatte zusätzlichen Druck auf den Präsidenten zu erzeugen oder auf neue politische Rahmenbedingungen nach Ende seiner Präsidentschaft zu setzen. Die PiS hatte acht Jahre Zeit, den polnischen Rechtsstaat zu desavouieren und zu beschädigen – es wird Jahre benötigen, die juristische Zeitenwende zu einem guten Ende zu bringen.

David Gregosz ist Volkswirt und Politikwissenschaftler. Er leitet seit 2020 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau/Polen.

Thomas Behrens ist Politikwissenschaftler. Er arbeitet seit 2019 als Projektkoordinator im Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau/Polen.

Zitiervorschlag

Polen: So schwierig wird die Rückkehr zum Rechtsstaat . In: Legal Tribune Online, 08.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53371/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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