Interview zur Gewaltenteilung und Selbstverwaltung der Justiz: "Deut­sch­land würde heute nicht mehr in die EU auf­ge­nommen"

Interview von Dr. Markus Sehl

02.07.2018

Zu viel Politik im Spiel? Der ehemalige LG-Präsident Hans-Ernst Böttcher über die Idee einer selbstverwalteten Justiz, einflussreiche OLG-Präsidenten und darüber, warum in der deutschen Justiz-Hierarchie immer noch das Führerprinzip wirkt.

LTO: Herr Böttcher, haben wir in Deutschland ein Gewaltenteilungsproblem?

Hans-Ernst Böttcher: Ja, und zwar ein ganz erhebliches – nur, es fällt uns Juristen weder im Studium noch im Referendariat noch später im Beruf so richtig auf: In Deutschland ist die Judikative keine selbstverwaltete Staatsgewalt. Dabei würde kein Mensch auf die Idee kommen, in Deutschland das Parlament durch einen "Parlamentsminister" verwalten zu lassen oder ein "Parlamentsministerium" einzurichten. Die Verwaltung des Parlaments liegt in den Händen des Parlamentspräsidenten, in der Exekutive ist das sowieso klar. Nur in der Justiz ist das anders, hier steht der Judikative die Exekutive vor.

Wie äußert sich das ganz konkret in der Justiz?

Die Verwaltung der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist streng hierarchisch geordnet: Ganz oben das Ministerium, dann die OLG-Präsidentin, die den LG-Präsidenten vorgesetzt ist, und so weiter. Und die Verwaltung der Gerichte betreffen ganz wesentliche Fragen wie etwa Haushalt oder Personalentscheidungen in der Justiz selbst.

Sind das denn wirkmächtige Hebel, die aus Ihrer Sicht geeignet sind, die Entscheidungen der Richter selbst zu beeinflussen?

Die Justizminister greifen natürlich nicht in den Kernbereich der Entscheidung selbst ein, da sind die Richter geschützt. Studien etwa aus der Rechtssoziologie und -psychologie zeigen uns aber, dass man sich zwar noch unabhängig fühlen mag. Zugleich kann da jedoch unterschwellig ganz vieles hineinwirken: Wer entscheidet zum Beispiel über die Einstellung, die "Beförderung", Gehalt, Leitungsämter? Und wie wird die Justiz finanziell ausgestattet und wie wirkt sich das letztendlich auch auf die Arbeitsbelastung am Gericht aus?

Als LG-Präsident mehr Beamter als Richter

Wie steht denn die deutsche Justiz damit im Vergleich zu den anderen Staaten in Europa da?

In Europa haben wir dazu Standards. Sie kommen zum Zug, wenn etwa ein neuer Staat in die EU aufgenommen wird, und sie werden auch durch die Venedig-Kommission genutzt, wenn die kritisch zu Mitgliedstaaten Stellung bezieht. Diese europäischen Standards besagen ganz klar, dass die Justiz durch Organe verwaltet werden soll, die von Exekutive und Legislative unabhängig sind.

Trifft das also Deutschland?

Ja, von diesen Vorgaben weichen in Europa nur ab: Österreich, die tschechische Republik und Deutschland. Wenn Deutschland heute der EU beitreten wollte, würde es nicht mehr aufgenommen.

Herr Böttcher, Sie waren über zwanzig Jahre Präsident des Landgerichts Lübeck. Wie ist Ihnen die Abwesenheit der Selbstverwaltung dort begegnet?

Als Präsident eines Gerichts ist man eigentlich ein merkwürdiges Zwitterwesen. Einerseits spricht man als Richter Recht, andererseits ist man für die Verwaltung des Gerichts verantwortlich. Als Präsident ist man aber genau genommen eine Art Präfekt des Landesjustizministers, man ist mehr Beamter als Richter.

Wie könnte denn ein Alternativmodell dazu aussehen?

Wir bräuchten Selbstverwaltungsorgane der Justiz im Bund und in den Ländern – und dort vom Amtsgericht bis zu den Obergerichten. In der Hinsicht ist Spanien ein sehr gutes Beispiel. In Deutschland haben sich nur das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte ihre Selbstverwaltung in den 1950-er Jahren erkämpft.

Wie würde sich die Selbstverwaltung darstellen?

Statt der Justizminister würden dann sogenannte Oberste Justizräte, also selbstständige Richter, der Justiz vorstehen. Der Vorteil wäre: Die Justiz hätte eine eigene Stimme. Und am Ende wird vielleicht auch besser verwaltet, wenn die darüber entscheiden, die von den Auswirkungen selbst betroffen sind.

Aber steht nicht auch dann zu befürchten, dass solche Obersten Justizräte an der Spitze der Justiz letztendlich sich vom Ideal der Repräsentation auch wieder entfremden könnten?

Natürlich birgt das auch Gefahren und sowas kann eine Eigendynamik entfalten. Solche Obersten Justizräte führen sich dann manchmal eher auf wie Regenten und nicht wie Repräsentanten, dazu gibt es Beispiele aus Serbien oder auch aus der Türkei. Der Justizverwaltungsrat dort spielt nicht die beste Rolle.

"Das Führerprinzip wirkt in der Gerichtsverfassung fort"

Wie könnte man in Deutschland so eine Reform umsetzen?

Wir haben in Deutschland bereits eine ganze Reihe von positiven Elementen, demokratie-adäquat, die man zu einem größeren Ganzen zusammenfügen könnte.

Zum Beispiel?

Zum einen sind das die Richterwahlausschüsse, die parlamentarische Richterwahl liefert die Grundlage für die Legitimation zur Ausübung des Richteramtes. Allerdings hatte man die leider bei der Schaffung des Grundgesetzes nur für den Bund vorgesehen, in den Ländern fehlen sie nach Art. 97, 98 GG. Weiterhin haben wir etwas, wofür uns unsere europäischen Nachbarn beneiden: das Präsidium am Gericht. Es wird von den Richtern gewählt und verwaltet gemeinsam mit dem Präsidenten die Zusammensetzung der Spruchkörper sowie die Verteilung der Akten. Das Präsidium sichert so auch die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.

Ein weiterer ganz zentraler Aspekt: die Disziplinargerichte. Die Präsidenten an den Gerichten können nur Verweise aussprechen. Alle anderen Sanktionen und gewichtigere Disziplinarmaßnahmen können nur durch unabhängige Disziplinargerichte ausgesprochen werden, die wiederum auch aus Richtern bestehen. Das ist eine wirksame Selbstkontrolle. Das vierte Element ist die spezifische Form der Mitbestimmung durch Richterräte und Präsidialräte.

Sie haben bereits erwähnt, dass vielen deutschen Juristen dieser Systemunterschied gar nicht so bewusst sein dürfte. Wann und wie ist Ihnen dieser Unterschied bewusst geworden?

Als junger Richter habe ich mich über manche Strukturen nur gewundert. Ich habe mich gefragt, warum eigentlich der OLG-Präsident in allen Ländern so eine mächtige Figur ist. Er ist für die Einstellung, die Referendarausbildung und die Richterverteilung zuständig. Ich habe dann hinterfragt: Wo steht das eigentlich in den Gesetzen, wo kommen diese Strukturen im deutschen Justizsystem historisch her?

Und was haben Sie gefunden?

Ich habe eine Verordnung vom März 1935 gefunden, die Gerichtsverfassungsverordnung, GVVO. Sie organisierte nach dem Gesetz über den Neuaufbau des Reiches, dass die Verwaltung der Gerichte Sache des Reichsjustizministers sei. Die Justiz war jetzt Reichssache, die OLG-Präsidenten waren jetzt die direkt dem Reichsjustizminister nachgeordnete Behörden. Dort hat diese Über- und Unterordnung der Gerichte ihren Ursprung, es steckt das Führerprinzip dahinter.

Dieser strukturelle Missstand wirkt bis heute fort, natürlich völlig unreflektiert. Und natürlich nicht zur Verwirklichung eines autoritären nationalsozialistischen Staates, sondern als eine Art "heimliche Gerichtsverfassung" der Bundesrepublik.

In Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gibt es neugefasste Justizgesetze, wo viele Fragen der Justizverwaltung, die bislang noch gar nicht gesetzlich geregelt waren, festgeschrieben wurden - was unter dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung eigentlich ja gar nicht ginge. Dort findet sich wieder, was auch in der Gerichtsverfassungsverordnung von 1935 schon enthalten war. Das macht die Sache eigentlich nur noch schlimmer.

Polens Gegenkritik an der deutschen Justiz: Fehlende Selbstverwaltung

Die EU hat wegen umstrittener Justizreformen gegen Polen ein Art.-7-Verfahren eingeleitet. Am vergangenen Wochenende hat der Verein Forum Justizgeschichte, bei dem Sie Mitglied sind, zu seiner 20. Jahrestagung eingeladen. Thema: "Unabhängige Justiz?" Gekommen sind auch Vertreter der polnischen Regierung. 

Ja, der Besuch war hochinteressant. Ein Mitarbeiter aus dem Stab des Ministerpräsidenten, eine Hochschuldozentin und ein Richter aus dem deutsch-polnischen Grenzort Slubice, der auch in Selbstverwaltungsorganen der polnischen Justiz tätig ist, sind gekommen.

Mit welcher Perspektive sind die Gäste aus der polnischen Justiz zur Veranstaltung gekommen?

Ich kann das nur vermuten. Aber die in Polen regierende PiS-Partei weist immer wieder gerne darauf hin, dass in Deutschland die Judikative keine selbstverwaltete Staatsgewalt ist. Sie rechtfertigt damit ihre systematische Schleifung von Gewaltenteilung und richterlicher Unabhängigkeit in ihrem Land. Sie sagen: Ihr regt euch darüber auf, was in Polen passiert, dabei ist das nur eine geringfügige Veränderung an einem System, das ihr in Deutschland noch nicht mal habt.

Diese Woche musste sich Polen dazu vor den EU-Staaten in Luxemburg rechtfertigen

Wir beobachten über die Jahrhunderte immer wieder die Versuchung der anderen Gewalten - vor allem der Exekutive -, dort, wo die Justiz Entscheidungen trifft, die die anderen Gewalten in ihrer Macht beschränken könnten, im Gegenzug die Justiz einzuschränken.

Gab es denn in Deutschland mal rechtspolitische Anläufe, die Selbstverwaltung der Justiz bundesweit einzurichten?

In den späten 2000-er Jahren gab es einen Vorstoß der Justizminister von Hamburg und Brandenburg, später auch mit Schleswig-Holstein. Und auf Bundesebene hat die Fraktion der Partei Die Linke einen Antrag dazu eingebracht, der Inhalt kam von der Neuen Richtervereinigung. Das ganze Projekt wurde im Bundestag schnell beerdigt.

Dass sich an der Lage bis heute nichts geändert hat, kann man sich eigentlich nur mit der historischen Tradition in Deutschland erklären. Ich habe früher gedacht, ich erlebe während meiner aktiven Dienstzeit die Einführung einer selbstverwalteten Justiz noch. Seit 2009 bin ich pensioniert. Jetzt hoffe ich, dass ich es noch zu Lebzeiten mitbekomme. Ich glaube da an die Vernunft.

Hans-Ernst Böttcher, war von 1974 bis 2009 Richter, zunächst in Bremen (am Amtsgericht und ab 1984 am Hanseatischen Oberlandesgericht), seit 1991 als Präsident des Landgerichts in Lübeck. Von 1980 bis 1983 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesverfassungsgericht, von 1979 bis 1991 stv. Mitglied des Bremischen Staatsgerichtshofes.

Zitiervorschlag

Markus Sehl, Interview zur Gewaltenteilung und Selbstverwaltung der Justiz: "Deutschland würde heute nicht mehr in die EU aufgenommen" . In: Legal Tribune Online, 02.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29475/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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