Per Gesetz nur noch dringende Gerichtstermine zulassen?: Ein­fach wei­ter­ver­han­deln geht nicht mehr

Gastbeitrag von Dr. Michael Selk

22.01.2021

Manche Zivilgerichte heben Termine in der Coronapandemie von sich aus auf, manche verhandeln ganz normal weiter. Der Gesetzgeber muss klarstellen, dass nur dringliche Termine stattfinden sollen, schlägt Rechtsanwalt Dr. Michael Selk vor.

In diesen Wochen erleben wir Seltsames. Manche Zivilgerichte heben auch ohne Antrag Gerichtstermine auf – mit Hinweis auf die COVID-19-Pandemie. Andere lehnen entsprechende Verlegungsanträge ab und erklären, man würde "normal weiterverhandeln", im Übrigen sei durch Lüften, Plexiglasabtrennungen und/oder Maske im Saal keine Infektionsgefahr gegeben.

Die Interessen, warum auch weniger dringliche Sachen weiterverhandelt werden, sind unterschiedliche. Einige Anwältinnen und Anwälte fürchten wohl finanzielle Nachteile – das Aufschieben eines Termins kann vorläufig Einnahmeverluste bedeuten, weil die Terminsgebühr ausfällt. Der Druck vieler Mandanten, die ihre Sache sehr wohl für dringlich erachten, ist oft erheblich. Ein Anwalt, der den Termin vor dem Hintergrund der Pandemie verlegen will, macht sich bei seinen Mandanten meistens nicht unbedingt beliebt. Und Videoverhandlungen nach § 128a Zivilprozessordnung (ZPO) wären zwar eine Alternative – stoßen aber nach wie vor sowohl an den Gerichten wie auch bei der Anwaltschaft auf viele Vorbehalte.

Für Richterinnen und Richter dürfte der Hauptgrund, weiterhin "normal" zu verhandeln, der teilweise gefühlte, teilweise aber reale Erledigungsdruck sein. Zum Glück für diesen Rechtsstaat sind sie oft von dem Ehrgeiz getrieben, ihr jeweiliges Dezernat nicht weiter ansteigen zu lassen, sei es, weil man bei einem bald anstehenden Dezernatswechsel keinen schlechten Eindruck bei der Nachfolgerin bzw. beim Nachfolger hinterlassen will, sei es, weil man sich selbst um den Schlaf bringt. Niemand mag einen vollen Schreibtisch – und es gibt auch in der Justiz Fälle von Burnout oder Depressionen. 

Tatsächlich gibt es über diese Facetten des "Erledigungsdrucks" hinaus auch einen Corpsgeist, der eine Rolle spielt. Spricht man auf dem Flur mit Kolleginnen und Kollegen aus der Richterschaft, so spricht man auch über Vergleichs- und Erledigungszahlen. Und: auch über regelmäßige Beurteilungen, die in manchen Fällen schlechter ausfallen, wenn die Zahlen nicht stimmen. Für Proberichterinnen und Proberichter ist der Druck besonders groß. Aber auch alte Hasen haben es nicht immer einfach bei Hausverfügungen, in denen ein Präsident mehr oder weniger beiläufig mitteilt, er würde "normal weiterverhandeln", obwohl Gegenteiliges sogar vom Ministerium selbst vorgeschlagen wird.

Im Gerichtsflur wird geflüstert und gedrängelt

Dabei gibt es sehr wohl Gründe, über eine Reduzierung der Gerichtstermine in diesen Wochen dringend nachzudenken. Aus Sicht eines Anwalts, der in den letzten Monaten an verschiedensten Gerichten vieles erlebt hat, lautet der Schluss: Macht die Gerichte zu – bis auf dringliche Fälle. 

Ja, die Ziviljustiz ist bemüht. Es gibt Fortschritte bei der Ausstattung der Säle mit Videoanlagen. Man lüftet durchgängig, teilweise auf Stoß, teilweise sogar quer. Es gibt Plexiglaswände. In manchen Verhandlungen werden Masken getragen. Aber es wird übersehen, dass nicht nur die Infektionsgefahr in den Sälen besteht, die sicherlich so verringert wird. 

Gespräche zwischen der geladenen Partei und ihrer Anwältin finden nicht nur am Telefon vor dem Termin, sondern im Gerichtsflur, in den Wartesälen und im Saal selbst statt. Diese Gespräche sind höchst vertraulich – und eine Nähe zum Mandanten lässt sich hier nicht ansatzweise verhindern. Wie oft schon wollte mir ein Mandant während der Verhandlung – völlig verständlich – schnell Dinge zuflüstern, leise. Dann aber schon wegen der Verständlichkeit schnell ohne Maske, hinter die Plexiglasabtrennung rutschend. 

Und es finden sehr wohl Termine mit einer Vielzahl von Parteien und Parteivertretern statt. Eine endlich anberaumte Bausache mit 14 Nebenintervenienten und ihren Anwältinnen und Anwälten zu verschieben – nein, die Verantwortung will niemand übernehmen. Nur: Die Gerichtssäle sind knapp, größere Räume zum Ausweichen gibt es nur sehr selten. Also sitzt man – alles erlebt – in einem ca. 30 Quadratmeter großen Raum mit mindestens 20 Personen, Mindestabstand kaum einzuhalten und stößt auf einen verärgerten Vorsitzenden, wenn man dann auf einem größeren Raum besteht. 

Zusätzlich wird in der aktuellen Debatte oft vergessen, dass schon der Weg zum und im Gericht oft mit Kontakten verbunden ist. Anreisen zu Gerichtsterminen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, oft enge Gerichtsflure, auf denen sich die Parteien und die Prozessbeteiligten drängeln – all das ist kontraproduktiv, wenn es um eine Reduzierung von Kontakten geht.

Letztlich leidet auch die Qualität der juristischen Arbeit. Beweisaufnahmen, in denen man frierend hofft, die Vernehmung des Zeugen, den man wegen des Verkehrslärms ohnehin kaum versteht, möge schnell vorbeigehen, dienen zwar dem gesundheitlichen Aspekt, nicht aber unbedingt der Wahrheitsfindung. 

Das Schwarze-Peter-Spiel muss der Gesetzgeber beenden

Es bedarf schon deshalb einer gesetzlichen Regelung, um das Schwarze-Peter-Spiel zu beenden. Momentan schieben sich die Prozessbeteiligten wechselseitig die Verantwortung zu, wenn es um das Aufheben und Verschieben von Terminen geht. 

Klar ist auch, dass man nicht alle Termine aufheben kann. Dringliche Sachen müssen dringlich behandelt werden. Teilweise sieht der Gesetzgeber sie selbst, wie etwa Räumungsklagen in § 272 IV ZPO oder neuerdings auch streitige Verfahren zur Gewerbemiete in Coronazeiten, § 44 Einführungsgesetz ZPO (EGZPO). In Familiensachen wird oft eine Dringlichkeit evident vorliegen. Auch Verfahren, die schon Jahre bei einem Zivilgericht anhängig und endlich terminiert worden sind, kann man dann als dringlich einstufen. Andererseits werden Zahlungsklagen (etwa Verkehrsunfälle) nicht immer dringlich sein, und auch manche Nachbarschaftsstreitigkeiten können sicherlich warten.

Will man also die Termine auf "dringliche" beschränken, so muss klar sein, dass es sich hier um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt und es ureigene Aufgabe der Tatrichterin bzw. des Tatrichters ist, die Dringlichkeit zu beurteilen. Die Parteien und die Parteivertreter sollten also ggf. zur Dringlichkeit vortragen und diese notfalls glaubhaft machen. 

Eine solche Regelung könnte so lauten: 

§ 45 EGZPO

Mündliche Verhandlungen und/oder Beweisaufnahmen sind in dem vom Bundestag gem. § 5 I IfSG festgestellten Zeitraum nur noch in dringlichen Fällen durchzuführen. Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung i.S.d. § 128a ZPO genießen den Vorrang. 

Videoverhandlungen und schriftliches Verfahren gehen vor

Es ist bekannt, dass es Parteien gibt, die an einer weiteren Verzögerung eines Verfahrens oft auch aus finanziellen Gründen ein erhebliches Interesse haben. Insofern kann diese Regelung, liegen keine dringlichen Fälle vor, zu einer Benachteiligung von Gläubigern führen. Diese Benachteiligungen sind grundsätzlich vor dem Hintergrund des Infektionsrisikos jedoch hinzunehmen – wie andere Nachteile, die eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen in diesen Monaten erleben, meist getragen von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, auch. Man kann auch darüber diskutieren, ob die Ablehnung von Videoverhandlungen dafür sprechen könnte, die fehlende Dringlichkeit zu vermuten.

Die vorgeschlagene Regelung greift in den Justizgewährleistungsanspruch ein. Dieser wird teilweise aus Art. 2 I GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip, teilweise auf Art. 19 IV GG hergeleitet. Der Eingriff ist aber vergleichsweise gering. Im Regelfall wird eine Verschiebung des Termins um Monate erfolgen. Kompensiert wird dies bei Zahlungsklagen durch den in der heutigen Zeit vergleichsweise hohen steigenden Zinsanspruch. 

Unter Umständen können auch Entschädigungsansprüche gem. §§ 198 ff (Gerichtsverfassungsgesetz) GVG etwas kompensieren. Dringliche Fälle werden weiterverhandelt. Möglichkeiten gem. § 128a ZPO bestehen – hier müssen sich viele Prozessbeteiligte nur überwinden. Ja, es sind nicht alle Verfahren für eine Videoverhandlung geeignet. Manche Sachen lassen sich aber auch im schriftlichen Verfahren gem. § 128 II ZPO entscheiden. Damit wird der Justizgewährungsanspruch erkennbar eingeschränkt, aber nicht ausgeschlossen. Im Interesse des Infektionsschutzes ist dies sinnvoll.

In der Pandemie geht es vor allem um den Faktor Zeit. Dies erleben wir seit Monaten permanent, zuletzt nun bei der Frage der Impfungen und der Beschleunigung. In der Justiz geht es immer auch um Schnelligkeit. Der Gesetzgeber sollte ein Zeichen setzen, dass manchmal Gesundheitsschutz auch vor Schnelligkeit geht. 

Dr. Michael Selk ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht, für Bau- und Architektenrecht sowie für Strafrecht bei Weiland Rechtsanwälte in Hamburg.

Zitiervorschlag

Per Gesetz nur noch dringende Gerichtstermine zulassen?: Einfach weiterverhandeln geht nicht mehr . In: Legal Tribune Online, 22.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44038/ (abgerufen am: 19.03.2024 )

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