Neue Geschäftsverteilung am BVerfG: Alle Tro­janer am Ersten Senat

von Dr. Christian Rath

10.01.2023

Jedes Jahr werden die Aufgaben am Bundesverfassungsgericht neu justiert. Diesmal fand der Beschluss besonders großes Interesse. Christian Rath erläutert die Einzelheiten.

Für Verfahren, in denen es um Ermittlungsbefugnisse nach der Strafprozessordnung (StPO) geht, ist künftig der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zuständig. Bislang entschied der Zweite Senat in solchen Verfahren. Es geht dabei um die ganze Palette der Polizeibefugnisse, von der Wohnungsdurchsuchung über die Telefonüberwachung bis zur heimlichen Online-Durchsuchung von Computern.

Am Ersten Senat wird die Verfassungsrichterin Yvonne Ott für die StPO-Ermittlungsbefugnisse zuständig sein. Sie wird damit eine zentrale Rolle in Sachen Innere Sicherheit einnehmen. Denn nach dem baldigen Ausscheiden von Richterin Gabriele Britz wird Ott auch die Zuständigkeit für den Datenschutz in Landesgesetzen übernehmen.

Die Verteilung im Zwillingsgericht

Die grundsätzliche Verteilung der Aufgaben zwischen Erstem und Zweitem Senat ist schon im Gesetz geregelt. Seit 1956 ist der Erste Senat vor allem für Verfassungsbeschwerden zuständig, während staatsorganisatorische Fragen dem Zweiten Senat zugewiesen sind. § 14 Abs. 1 bis 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) regelt das relativ präzise.

Allerdings kann das Plenum des BVerfG eine abweichende Regelung treffen, so § 14 Abs. 4 BVerfGG, "wenn dies infolge einer nicht nur vorübergehenden Überlastung" notwendig ist. Solche Beschlüsse werden inzwischen jährlich vor Beginn des nächsten Geschäftsjahrs getroffen. Dabei geht es immer um die Frage, wie viele der gesetzlichen Materien des Ersten Senats per Plenumsbeschluss auf den Zweiten Senat verlagert werden. Im Detail wandern manche Materien dann aber zwischen den Senaten immer wieder hin und her, gerade so wie es die Geschäftsbelastung erfordert.

Der Zweite Senat war überlastet

Der letzte Plenumsbeschluss zur Verteilung der Aufgaben zwischen Erstem und Zweitem Senat stammt vom 21. Dezember 2022 und wurde wie üblich einige Tage später auf der Webseite des BVerfG veröffentlicht.

Beim aktuellen Plenumsbeschluss wurden insbesondere Materien vom Zweiten auf den Ersten Senat zurückverlagert, weil der Zweite Senat zuletzt besonders überlastet war. Zum einen ist der dortige Richter Ulrich Maidowski seit September schwer erkrankt und monatelang ausgefallen. Zum anderen sind die zahlreichen Organklagen der Alternative für Deutschland (AfD), die grundsätzlich eine mündliche Verhandlung erfordern, eine starke Belastung für den Zweiten Senat. Derzeit sind dort 14 Organklagen der AfD anhängig - drei der Partei und elf der AfD-Bundestagsfraktion, teilweise gemeinsam mit einzelnen AfD-Abgeordneten.

Das besondere Interesse an Trojanern

Mit dieser jüngsten Neu-Justierung wechselte zum Beispiel das Recht des Wohnungseigentums sowie das Dienst- und Werkvertragsrecht vom Zweiten in den Ersten Senat. Das öffentliche Interesse galt jedoch vor allem der Verlagerung der Verfahren "aus dem Rechtsbereich des Ersten Buchs, Achter Abschnitt StPO" in den Ersten Senat. Gemeint sind damit die Ermittlungsmaßnahmen von § 94 bis § 111q StPO. Zum einen ist es immer von besonderem Interesse, wenn sich das BVerfG mit Ermittlungsbefugnissen befasst. Zum anderen ist diese Übertragung im Plenumsbeschluss unter Buchstabe "C" auch besonders hervorgehoben.

Grund für die Extra-Regelung ist, dass bei den StPO-Befugnissen auch bereits anhängige Verfahren vom Zweiten auf den Ersten Senat übergehen. Nur sieben explizit aufgezählte Verfahren bleiben bei Richterin Christine Langenfeld im Zweiten Senat. Dies sind Verfahren, bei denen die Bearbeitung bereits begonnen hat. Überwiegend geht es dabei um Durchsuchungen, etwa in einem Verfahren wegen Adbusting, also wegen der agitatorischen Veränderung von Werbeplakaten.

Quantitativ geht es bei der Verlagerung der StPO-Befugnisse um jährlich rund 70 bis 80 Verfahren (von insgesamt über 5.000 Karlsruher Neueingängen pro Jahr), also ein mittelgroßes Arbeitsfeld des Gerichts.

Auch qualitativ sind einige Verfahren von herausgehobenem Interesse, insbesondere die Klagen gegen die StPO-Reform von 2017, als die Große Koalition mit dem damaligen Justizminister Heiko Maas (SPD) vor der Bundestagswahl hastig noch die Befugnis zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung (§ 100a Abs. 1 S. 2 und 3 StPO) und zur Online-Durchsuchung (§ 100b StPO) in die Strafprozessordnung einführte. In beiden Konstellationen muss die Polizei Spähsoftware (sog. Trojaner) auf Computern bzw. Smartphones installieren. Gegen die Reform klagen u.a. die Vereine Digitalcourage und Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) sowie FDP-Politiker:innen inklusive des heutigen Justizministers Marco Buschmann.

Ist der Erste Senat liberaler?

In Teilen der Netzöffentlichkeit wurde der Senats-Wechsel dieser Materien als neue Chance für den Datenschutz dargestellt. Nun könnten sich "Bürgerrechtler und Strafverteidiger Hoffnung machen, künftig noch bessere Chancen in Karlsruhe zu haben", orakelte etwa der Grünen-Rechtspolitiker Wilko Zicht aus Bremen, der mit seinen Tweets wohl als erster auf die neue Geschäftsverteilung aufmerksam machte. Schließlich habe der Zweiten Senat traditionell den Ruf, "konservativer" zu sein als der "eher liberale" Erste Senat.

Nun stimmt die Charakterisierung der Senate sicher für den bisherigen Umgang mit manchen gesellschaftspolitischen Themen. Beim Umgang mit homosexuellen Partnerschaften oder mit dem islamischen Kopftuch war jeweils der Erste Senat Motor der Gleichbehandlung, während der Zweite Senat nur zögernd folgte.

Doch gilt dies auch für die Innere Sicherheit? Zwar war es auch hier vor allem der Erste Senat, der Gesetze beanstandete, etwa zur Vorratsdatenspeicherung, zur Rasterfahndung oder zur Anti-Terror-Datei. Dabei wird aber oft übersehen, dass der Erste Senat meist nur kleine Detail-Verschärfungen forderte, während er die neuen Sicherheitsbefugnisse im Kern unangetastet ließ. So hat der Erste Senat schon 2008 (Urt. v. 27. 02.2008, Az. 1 BvR 370/07 u.a. - NRW-Verfassungsschutz) und 2016 (Urt. v. 20.04.2016, Az 1 BvR 966/09 u.a. - BKA-Gesetz) den Einsatz von Staatstrojanern grundsätzlich gebilligt. Auch bei der Vorratsdatenspeicherung übte der EuGH deutlich grundsätzlichere Kritik als der Erste Senat des BVerfG.

Nach den zahlreichen Richterwechseln der letzten und kommenden Jahre wird sich ohnehin neu erweisen, ob die unterschiedliche Charakterisierung der beiden Senate noch fortbestehen kann. Die Vorschlagsrechte nach der Formel 3 - 3 - 1 - 1 (CDU/CSU - SPD - Grüne - FDP) sind inzwischen jedenfalls für beide Senate gleich.

Neue Verteilung im Ersten Senat

Mit dem Wechsel der StPO-Befugnisse vom Zweiten in den Ersten Senat war aber noch nicht geklärt, welches konkrete Dezernat am Ersten Senat die Materie erhält. Die Binnenverteilung in den Senaten ist nicht Gegenstand des Plenums-Beschlusses, sondern erfolgt in jedem Senat getrennt durch Senats-Beschluss.

So hat der Erste Senat, ebenfalls am 21. Dezember 2022, für das Geschäftsjahr 2023 gleich zwei Geschäftsverteilungen beschlossen. Zunächst soll die "Gesamtübersicht A" gelten, nach Ernennung der Nachfolger:innen für die ausscheidenden Verfassungsrichterinnen Susanne Baer und Gabriele Britz kommt dann die "Gesamtübersicht B" zum Einsatz. Ein konkretes Datum hierfür steht noch nicht fest. Zwar ist Baers Nachfolger Martin Eifert bereits gewählt, doch die Nachfolger:in von Britz ist noch nicht bestimmt.

Yvonne Otts neue Kompetenzen

Laut Gesamtübersicht A ist für die StPO-Ermittlungsbefugnisse seit Jahresbeginn die Verfassungsrichterin Yvonne Ott zuständig. Sie war bis 2016 Richterin am 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) und wurde damals auf Vorschlag der SPD ans Bundesverfassungsgericht gewählt. Bisher hatte sie keine feste Zuständigkeit für Themen der Inneren Sicherheit. Nur vereinzelte Verfahren übernahm sie aufgrund von Senatszuweisungen, etwa zur Bestandsdatenauskunft II (Beschl. v. 27.05.2020, Az. 1 BvR 1873/13 u.a.).

Zukünftig soll Ott vom Dezernat Britz auch den öffentlich-rechtlichen Datenschutz übernehmen, soweit es um Landesgesetze geht. Damit sind vor allem die präventiv-rechtlichen Polizei- und Verfassungsschutzgesetze der Länder gemeint. Da viele Polizeibefugnisse sowohl in der StPO als auch in Polizeigesetzen geregelt sind, ist es sicher sinnvoll, wenn beides künftig im gleichen Dezernat bearbeitet wird. Im Gegenzug wird Ott das "Recht der freien Berufe" (also z.B. das Anwaltsrecht) an das Dezernat der Britz-Nachfolger:in abgeben.

Noch ist aber Gabriele Britz in Karlsruhe und will noch möglichst viele ihrer Verfahren zu Ende bringen, zum Beispiel die jüngst verhandelten Klagen gegen die Präventions-Software Gotham der US-Firma Palantir.

Und auch zukünftig kommen nicht alle Verfahren zur Inneren Sicherheit zu Yvonne Ott. Denn für den Datenschutz auf Grundlage von Bundesgesetzen bleibt weiterhin Richterin Ines Härtel zuständig. Die ostdeutsche Rechtsprofessorin war 2020 von der SPD als Nachfolgerin von Johannes Masing nominiert worden. Bei Härtel bleiben zum Beispiel Klagen gegen die strategische Fernmeldeüberwachung im G-10-Gesetz oder neue Regelungen zur Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung im BKA-Gesetz.

Trojaner-Fälle sind künftig also stets im Ersten Senat angesiedelt, dort aber bis auf weiteres in unterschiedlichen Dezernaten.

Zitiervorschlag

Neue Geschäftsverteilung am BVerfG: Alle Trojaner am Ersten Senat . In: Legal Tribune Online, 10.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50705/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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