Kanzleipflicht und Digitalisierung: Das Kanz­lei­schild hat aus­ge­dient

Gastkommentar von Maximilian von Möllendorff

12.03.2018

Angesichts fortschreitender Digitalisierung erscheinen immer mehr Regelungen wie Relikte aus einer längst vergangenen Zeit. Auch die Kanzleipflicht für Rechtsanwälte gehört auf den Prüfstand, meint Maximilian von Möllendorff.

Die fortschreitende Digitalisierung macht auch vor dem Anwaltsberuf nicht halt. Je nach Perspektive kann dies sowohl Fluch als auch Segen bedeuten. In jedem Fall steht der Berufsstand vor großen Herausforderungen. Man denke etwa an den mehr als nur missglückten Start des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA). Dabei stellt gerade das Vorhaben beA eine zentrale, berufsrechtliche Anforderung in Frage: die Kanzleipflicht.

Die Kanzleipflicht in ihrer heutigen Form ist das Rudiment einer circa 140-jährigen Tradition von Lokalisierungspflichten für Rechtsanwälte. So sah die Rechtsanwaltsordnung (RAO) in ihrer ursprünglichen Fassung von 1878 noch vor, dass der Rechtsanwalt am Gerichtsort seiner Zulassung auch seinen Wohnsitz nehmen muss (sog. Residenzpflicht). Hiervon ließ die Novellierung aus dem Jahre 1923 dann eine Ausnahme zu, wenn der Rechtsanwalt am Gerichtsort wenigstens ein "Geschäftslokal" unterhielt. Nach der schrittweisen Aufgabe von ortsbezogenen Pflichten – wie der Abschaffung der Residenzpflicht im Jahre 1994 oder der Aufgabe des Lokalisationsgebotes und Verbots auswärtiger Sprechtage im Jahre 2007 – verblieb letztlich nur die Kanzleipflicht.

Ihr normativer Ausgangspunkt findet sich in § 27 Abs. 1 BRAO, welcher in seiner heutigen Fassung die Pflicht postuliert, im Bezirk der eigenen Rechtsanwaltskammer eine Kanzlei einzurichten und zu unterhalten. Flankiert wird die BRAO dabei von § 5 BORA, wonach der Rechtsanwalt verpflichtet ist, "die für seine Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen in Kanzlei und Zweigstelle vorzuhalten." Und in genau dieser eher schwammigen Formulierung liegt das Problem: Der Begriff der Kanzlei sowie deren konkrete Anforderungen bedürfen der Auslegung.

Kanzlei-Begriff im Wandel der Zeit

Unter dem Begriff der Kanzlei wird gemeinhin mindestens ein Raum verstanden, in dem der Rechtsanwalt zu angemessenen Zeiten dem rechtssuchenden Publikum zur Verfügung steht und dabei organisatorische Mindestmaßnahmen ergreift, um dies der Öffentlichkeit zu offenbaren. Primär soll damit der Bevölkerung Klarheit über die Kontaktmöglichkeiten des Rechtsanwalts ihrer Wahl verschafft und gleichzeitig Gerichte und Behörden in die Lage versetzt werden, Zustellungen, Mitteilungen und sonstige Nachrichten rechtssicher an den Rechtsanwalt zu richten. Zu den (umstrittensten) organisatorischen Mindestmaßnahmen gehört wohl auch heute noch das klassische Kanzleischild, nach der Praxis verschiedener Kammern aber zumindest ein eindeutiges Klingel- oder Briefkastenschild. Dem Bild des "Zentrums für Kommunikation" folgend bedarf es daneben auch eines Briefkastens, eines Telefon- und Faxanschlusses sowie eines Eintrags im örtlichen Telefonbuch.

Das BVerfG hielt diese Anforderungen auch im Jahr 1986 für verhältnismäßig. Ob jedoch über 30 Jahre später diese Entscheidung noch so ohne weiteres auf die heutige Kommunikationswirklichkeit übertragbar ist, darf bezweifelt werden. Nur zu Erinnerung: Die erste Email Deutschlands wurde am 3. August 1984 empfangen und das Mobilfunknetz D-Netz startete seinen Regelbetrieb erst am 1. Juli 1992.

Auch wenn die genannten Minimalanforderungen an eine Kanzlei auf den ersten Blick lapidar klingen mögen, birgt die Kanzleipflicht in ihrer aktuellen Handhabung vor allem für Berufsanfänger in der – zulässigen – "Wohnzimmerkanzlei" Probleme. Denn nicht jeder Vermieter dürfte gewillt sein, ohne Weiteres ein Kanzleischild an seiner Hauswand zu dulden. Zudem stellen zusätzliche Mietkosten und organisatorischer Aufwand auch für viele selbstständige Rechtsanwälte sowie Syndikusrechtsanwälte eine spürbare Belastung dar. Dies gilt bei Syndikusrechtsanwälten insbesondere auch im Hinblick auf mehrere Arbeitsverhältnisse oder eine Doppelzulassung (§ 46c Abs. 4 BRAO).

BRAO nicht mehr up to date

Unweigerlich stellt sich die Frage, ob die Anforderungen des § 27 BRAO (noch) gerechtfertigt sind. Bezogen auf ihren eigentlichen Zweck, also der Sicherstellung von Erreichbarkeit des Rechtsanwalts für das rechtssuchende Publikum und gerichtlichen/behördlichen Zustellungen, fällt die Antwort eindeutig aus: Nein.

Auch ohne funktionierendes beA sind Kanzleischild, regelmäßige Öffnungszeiten sowie Faxanschluss nicht mehr essentiell für eine funktionierende Rechtspflege. Je nach Geschäftskonzept wird schon heute der meiste Mandantenkontakt telefonisch oder per Email abgewickelt. Und neben der immer schneller fortschreitenden Digitalisierung durch den elektronischen Rechtsverkehr (ERV), die elektronische Aktenführung (eAkte), stetig ausgereiftere Anwaltssoftware und eben auch dem beA, wirken die traditionellen Anforderungen eher wie ein Atavismus.

Nicht zuletzt befürwortet auch der Gesetzgeber eine stärkere Nutzung technischer Entwicklungen und fördert die Stärkung des Nutzervertrauens im Umgang mit neuen Kommunikationswegen. Warum dann nicht die Ideen des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10. Oktober 2013 zu Ende denken? Wenn die aktive Teilnahme am ERV schon ab dem 1. Januar 2022 verpflichtend ist und bereits jetzt elektronische Zustellungen an Rechtsanwälte mittels beA – zumindest theoretisch – rechtssicher möglich sind, ist die Idee der Kanzlei als "Zentrum für Kommunikation" nicht mehr zeitgemäß.

Die Pflicht zum Kanzleischild ist heute nicht mehr nachvollziehbar: Denn sofern das rechtssuchende Publikum nicht ohnehin in dem schier endlosen Internetangebot verschiedenster Rechtsdienstleistungen fündig wird, bleibt immer noch das bundesweite amtliche Anwaltsverzeichnis nach § 31 BRAO; zugegebenermaßen eine überraschend unbekannte Einrichtung. Jedenfalls wird kaum ein Bürger verzweifelt durch die Straßen eilen und nur deshalb vom Gang zum Rechtsanwalt abgehalten, weil er kein Kanzleischild finden konnte.

Liberalisierung vorantreiben

Davon abgesehen ist eine Rechtsberatung nach dem gewohnten Ritual des Besuchs beim Rechtsanwalt, der an seinem Schreibtisch vor einer Wand aus Büchern sitzt, vielfach nicht mehr gewünscht. Dies zeigen vor allem vergleichsweise jüngere Rechtsdienstleistungskonzepte wie Online-Rechtsberatungen, automatisierte Vertragsgeneratoren oder Inkassodienstleistungen im Bereich der Fluggastrechte. Nahezu alle Neuerungen auf dem Rechtsmarkt sind um eine möglichst digitale Abwicklung bemüht. Trotz eines gewissen Nachholbedarfs schreitet die Entwicklung bei Legal Tech im Rechtssystem stetig voran.

Für die dauerhafte Unterhaltung eigener Büroraume gibt es auch keine zwingenden Gründe mehr. Das Argument "Vertraulichkeitsschutz" trägt jedenfalls nicht mehr. Sicherlich wäre das Café um die Ecke nicht der geeignetste Ort für ein vertrauliches Mandantengespräch. Durchgreifende Argumente gegen eine tageweise Anmietung geeigneter Räume, dem klassischen Hausbesuch oder der Unterhaltung mobiler Räume bestehen jedoch dann nicht, wenn die sichere Verwahrung von Unterlagen gewährleistet bleibt. So ließen sich auch innovative Rechtsdienstleistungskonzepte im ländlichen Raum leichter realisieren.

Letztlich ist die Liberalisierung der Kanzleipflicht aber eine Frage des Vertrauens: Vertrauen in die Mündigkeit des rechtssuchenden Publikums, selbst entscheiden zu können, welche Anforderungen es an seinen Rechtsbeistand stellt; aber auch das Vertrauen in die Anwaltschaft, eigenverantwortlich für die Einhaltung elementarer Berufspflichten zu sorgen.

Zeitgemäße Auslegung schafft Erleichterung für Anwälte

Quo vadis, Kanzleipflicht? Mittelfristig am unwahrscheinlichsten wäre sicherlich die schlichte Streichung des § 27 BRAO durch den Gesetzgeber. Denn wie ein Blick in die Geschichte zeigt, erfolgten bisherige Liberalisierungen im anwaltlichen Berufsrecht nicht immer ganz freiwillig und gerade im Hinblick auf die Kanzleipflicht sind gewisse Widerstände nicht zu leugnen.

Aber auch ohne gesetzgeberischen Eingriff erscheinen signifikante Erleichterungen möglich. Die nötigen Mittel stehen Anwaltschaft und Judikative bereits jetzt zur Verfügung. Denn neben der Möglichkeit einer brauchbaren Konkretisierung durch die Satzungsversammlung geben die unscharfen Regelungen in § 27 BRAO und § 5 BORA genug Spielraum für eine zeitgemäße Auslegung. Es verstößt nicht gegen den Wortlaut des § 5 BORA, wenn man den Begriff der Kanzlei funktional betrachtet, den Fokus mehr auf die Worte "seine Berufsausübung" legt und damit dem jeweiligen Rechtsanwalt – immerhin ein unabhängiges Organ der Rechtspflege – eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber einräumt, welchen Anforderungen seine Kanzlei für "seine Berufsausübung" genügen muss. Sofern ein Rechtsanwalt seine Berufspflichten beanstandungsfrei erfüllt, spricht nichts dagegen, auch Sachverhalte zu akzeptieren, bei denen er keine Sprechstunden anbietet und die Kommunikation im Wesentlichen über Emailverkehr abwickelt. Zudem erfüllen Internetseite oder Online-Profil den gleichen Zweck wie ein Kanzleischild, erreichen dabei aber ein wesentlich größeres Publikum. Maßgeblich sollte allein die tatsächliche Erreichbarkeit des Rechtsanwalts sein.

Allerdings wird man auch per Auslegung an dem ganz grundsätzlichen Erfordernis der dauerhaften Unterhaltung von eigenen Räumlichkeiten schwer ohne Verletzung der Wortlautgrenze rütteln können. Diese letzte Hürde zu nehmen bleibt allein dem Gesetzgeber vorbehalten.

Mit anderen Worten: Die Kanzleipflicht ist weitgehend obsolet geworden und sollte auf kurz oder lang weiter liberalisiert werden. Ihre gänzliche Abschaffung ist zwar noch Zukunftsmusik, der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer sowie den einzelnen Kammern und Anwaltsgerichten stehen aber bereits jetzt die nötigen Mittel zur Hand, um die vorhandene Kanzleipflicht zeitgemäß auszugestalten. Es bedarf nur ein wenig Vertrauen in die (eigene) Anwaltschaft.

Der Autor Maximilian von Möllendorff ist Rechtsreferendar beim Kammergericht Berlin und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Londoner Büro von White & Case LLP. 

Zitiervorschlag

Maximilian von Möllendorff, Kanzleipflicht und Digitalisierung: Das Kanzleischild hat ausgedient . In: Legal Tribune Online, 12.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27413/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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