Anklage gegen Weimarer Familienrichter: Nur ein fal­sches Urteil oder schon Rechts­beu­gung?

Gastbeitrag von Mustafa Enes Özcan

05.06.2022

Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen einen Familienrichter erhoben, der ohne zuständig zu sein die Maskenpflicht an Schulen aufhob. Mustafa Enes Özcan prüft, ob sich der Richter tatsächlich der Rechtsbeugung schuldig gemacht hat.

Es kommt nicht häufig vor, dass ein Familienrichter mit einer Entscheidung bundesweit für Schlagzeilen sorgt. Als im April 2021 das Familiengericht Weimar gleich an zwei Schulen mehrere Corona-Schutzmaßnahmen, u.a. die Maskenpflicht, aussetzte, wurde dies kontrovers diskutiert. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft gegen den Richter sogar Anklage wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) erhoben.

Das lässt aufhorchen. Denn die rechtlichen Konsequenzen wiegen schwer: Weil § 339 StGB eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr vorsieht, endet bereits mit der Rechtskraft des Urteils ipso iure das Richterverhältnis und der Verurteilte darf für fünf Jahre keine öffentlichen Ämter bekleiden (vgl. § 45 StGB, § 24 DRiG).

Richter verschaffte sich Kompetenz und Kläger

Die Staatsanwaltschaft begründet die Anklage wegen Rechtsbeugung in erster Linie damit, dass sich der Richter für die Frage der Aufhebung von Corona-Maßnahmen überhaupt für zuständig erklärte. Der Rechtsweg zu den Familiengerichten sei eine „willkürliche Annahme der Rechtswegzuständigkeit“. Der Richter war der Meinung nach § 1666 IV Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zuständig zu sein, wonach Familiengerichte in Kindeswohlsachen Maßnahmen auch gegenüber Dritten erlassen dürfen. Er ging also davon aus, dass eine Behörde, hier die Schulleitung, auch „Dritte“ im Sinne dieses Gesetzes sein können.

Der Angeklagte beließ es jedoch nicht dabei, die Schutzmaßnahmen nur für die antragstellenden Kinder aufzuheben, sondern hob ohne gesetzliche Grundlage die Maßnahmen gleich für alle Kinder der beiden Schulen auf. Die Begründung dafür fiel denkbar dürftig aus: Da die Mitschüler in gleicher Weise betroffen seien, habe das Gericht eine Entscheidung für diese gleich mit getroffen.

Zudem versuchte der Richter in der Beschlussbegründung auf knapp 180 Seiten mit drei verschiedenen Gutachten darzulegen, dass Maskenpflicht, Abstandsgebot, PCR- und Schnelltests bei der Pandemiebekämpfung ungeeignet seien. Die Anklage wirft ihm ferner vor, aktiv nach Eltern gesucht zu haben, die den Schutzmaßnahmen kritisch gegenüber standen. Auch bei der Suche nach Sachverständigen soll er ergebnisorientiert vorgegangen sein.

Ob diese Kritikpunkte tatsächlich eine Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung stützen, ist nicht einfach nicht zu beantworten. Denn die Rechtsprechung dazu könnte vager kaum sein.

Rechtsbeugung verlangt schweren Rechtsverstoß

Der Wortlaut des § 339 StGB setzt voraus, dass sich ein Richter bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht. Die Tathandlung der Rechtsbeugung ist also denkbar unkonkret.

Der BGH hat über Jahrzehnte versucht, diese Leerformel mit Leben zu füllen. Demnach liegt eine Beugung des Rechts vor, wenn der Richter sich bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt (BGH, Urt. v. 27.1.2016 − 5 StR 328/15). Das heißt, es soll nicht jede unrichtige oder unvertretbare Rechtsanwendung den Tatbestand erfüllen, sondern nur ein elementarer Verstoß sanktioniert werden, damit nicht gleich jede Revision mit einer Strafanzeige endet. 

Aus dieser Definition folgen zwei weitere Merkmale: Die Schwere des Rechtsanwendungsfehlers und das diesbezügliche Bewusstsein.

Da sich das Bewusstsein vor allem auf die Umstände bezieht, die die Schwere des Verstoßes ausmachen, ist das Merkmal der Schwere die zentrale Voraussetzung. Der BGH sieht darin ausdrücklich ein wertendes Element, mit dem die Schwere des Rechtsverstoßes ermittelt werden soll (Urt. v. 18.8.2021 – 5 StR 39/21). In diese Wertung sollen alle Umstände des Falles einbezogen werden, zum Beispiel der grundlegende prozessuale oder materiellrechtliche Charakter der falsch angewendeten Norm, aber auch die Motive des Täters. So würde es etwa für einen schwerwiegenden Verstoß sprechen, wenn dem Angeklagten das grundgesetzlich verankerte Recht auf Gehör verwehrt wird.

Gesetz könnte willkürlich Willkür bestrafen

Schwieriger wird es, wenn eine Vorschrift Interpretationsspielraum einräumt. Hier schreibt der BGH vor, dass die Grenze des Vertretbaren klar überschritten sein muss. Das heißt die Entscheidung darf nicht einfach „nur“ unvertretbar sein, vielmehr muss sich der Richter in elementarer und völlig unvertretbarer Weise über Rechtsregeln hinwegsetzen. Ob diese Grenze klar oder doch nur rudimentär überschritten wurde, sei ebenfalls im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln. 

Wichtig für die Beurteilung der Schwere des Rechtsanwendungsfehlers ist auch das Schutzgut des § 339 StGB. Da vor allem das Vertrauen der Bevölkerung in die Unparteilichkeit und Willkürfreiheit der Gerichte geschützt werden soll, muss sich die Entscheidung für einen objektiven Betrachter als Willkürakt darstellen. 

Viel weiter konkretisiert der BGH seine Vorstellung vom Tatbestand aber nicht. In der Literatur wird diese äußerst wertende Linie damit kritisiert, dass ein Verbrechenstatbestand nicht derart abhängig von normativen Erwägungen sein kann. Dadurch dass wertende Gesichtspunkte ins Zentrum der Rechtsbeugung gestellt werden, wird ironischerweise der Willkür Tür und Tor geöffnet, obwohl diese gerade bestraft werden soll.

Annahme der Zuständigkeit als schwerwiegender Fehler? 

Für die Frage, ob die Annahme der Zuständigkeit im Beschluss des AG Weimar eine Rechtsbeugung darstellt, ist also maßgeblich, ob es ein schwerwiegender Fehler ist, Behörden als "Dritte" im Sinne des § 1666 IV BGB zu sehen.

§ 1666 IV BGB meint eigentlich, dass Anordnungen gegenüber Privaten, beispielsweise dem Lebenspartner der Kindesmutter, getroffen werden können. Dass Träger hoheitlicher Gewalt, wie z.B. die Schulleitung, davon nicht erfasst sind, findet im Schrifttum nicht einmal Erwähnung. Hintergrund ist, dass es zum juristischen Einmaleins gehört, dass Maßnahmen gegenüber Behörden grundsätzlich – bis auf wenige ausdrückliche Ausnahmen – von den Verwaltungsgerichten erlassen werden. Entsprechend kann der Familienrichter auch in seinem Beschluss keine Rechtsprechungs- oder Literaturquelle nennen, die seine Entscheidung stützt.

Familiengerichte sind nicht einmal befugt, das Jugendamt zu einer bestimmten Leistung zu verpflichten, obwohl dieses sogar zwingend an Verfahren nach § 1666 BGB zu beteiligen ist (§ 162 II FamFG). Wenn nicht einmal das Jugendamt bei Kindeswohlsachen verpflichtet werden kann, was in der Sache durchaus naheliegen würde, gilt dies erst recht für Maßnahmen gegenüber Schulen.

Schließlich wird dem Kindeswohl auch auf dem Verwaltungsrechtsweg genügend Rechnung getragen. Denn auch Schulen sind über die Grundrechte verpflichtet, das Kindeswohl zu schützen. Das Thüringer OLG hob mit eben dieser Begründung die Entscheidung des AG auf.

Daher ist die Auffassung des AG Weimar eindeutig unvertretbar, wie auch das VG Weimar und der VGH München festgestellt haben ("offensichtlich rechtswidrig" bzw. "ausbrechender Rechtsakt"). Auch etliche andere Familiengerichte haben ähnliche Anträge von Sorgeberechtigten wegen Unzuständigkeit abgelehnt.

Auch Gefahr einer konkret falschen Entscheidung?

Nach der Rechtsprechung reicht jedoch die willkürliche Annahme einer Zuständigkeit für eine Rechtsbeugung nicht aus. Der BGH macht hier vielmehr in seiner wertenden Gesamtbetrachtung plötzlich erstaunlich konkrete Vorgaben. So soll die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung hinzutreten, um den Tatbestand zu erfüllen (Urt. v. 20. 9. 2000 - 2 StR 276/00). Wenn ein unzuständiger Richter eine Sache an sich zieht, um alle (Verfahrens-)Vorschriften einzuhalten, weil er z.B. seinen Kolleg:innen nicht vertraut, ist es noch keine Rechtsbeugung. Die Gefahr einer bewussten Manipulation liegt aber jedenfalls in solchen Fällen vor, in denen der Richter aus sachfremden Motiven die Zuständigkeit an sich zieht, um der einen Prozesspartei einen Gefallen zu tun.

Führt man sich hier die Beschlussbegründung vor Augen, liegt die Annahme nahe, dass der Richter seine Zuständigkeit konstruiert hat, um die angebliche Unwirksamkeit und Schädlichkeit der Corona-Schutzmaßnahmen öffentlichkeitswirksam kundzutun. Hinzu kommt, dass er aktiv nach Eltern gesucht haben soll, die kritisch gegenüber der Maskenpflicht an Schulen standen. Er hat seine Zuständigkeit also willkürlich begründet, um nebenbei auch noch den von ihm erlesenen Prozessparteien einen Gefallen zu tun. Denn ihm wird nicht entgangen sein, dass die meisten anderen Gerichte, so wahrscheinlich auch das zuständige Verwaltungsgericht, die Schutzmaßnahmen nicht für unwirksam halten. Das birgt nicht nur die Gefahr einer Befangenheit, sondern erst recht die Gefahr einer bewussten Manipulation des Entscheidungsprozesses.

Erstreckung des Beschlusses auf alle Schüler ist klarer Gesetzesverstoß

Anders als bei der Zuständigkeit kann sich der Beschluss bei seiner Reichweite nicht auf eine "nur" unvertretbare Auslegung des Gesetzes berufen. Er verstößt sogar eindeutig gegen gesetzliche Vorgaben.

Denn nach § 7 II Nr. 1 FamFG müssen diejenigen, die von dem Beschluss unmittelbar betroffen sind, am Verfahren beteiligt werden. Familiengerichtliche Entscheidungen wirken also auch nur zwischen den Beteiligten. Wie das Gericht auf die Idee kommt, den Beschluss auch auf unbeteiligte Kinder zu erstrecken, ist schlicht nicht nachvollziehbar. Es stellt sich daher als vollständig willkürliche Erweiterung des Beschlusses dar.

Man könnte an dieser Stelle auch fragen, wieso der Beschluss nur für diese zwei Schulen gilt. Denn wenn der Richter sich befugt sah, die Maskenpflicht auch für andere Kinder aufzuheben, hätte er in den Beschluss doch genauso alle Schulen, die sich in seinem örtlichen Zuständigkeitsbereich befinden, einbeziehen können – oder sogar müssen. Scheinbar reichte jedoch seine angemaßte Befugnis (bzw. seine Willkür) nicht so weit. 

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein (mittlerweile ebenso aufgehobener) Beschluss des AG Weilheim. Auch dort setzte eine Familienrichterin die Maskenpflicht an einer Realschule aus – sogar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Weimarer Beschluss. Sie sah jedoch explizit davon ab, die Reichweite des Beschlusses auf die gesamte Schule auszudehnen. Bemerkenswert an diesem Fall: Die Staatsanwaltschaft München II sah bei ihr keinen Anfangsverdacht der Rechtsbeugung.

Da die Motive des Weimarer Richters an dieser Stelle wohl so ähnlich sein werden, wie bei der Annahme der Zuständigkeit, liegt auch hier ein schwerwiegender Verstoß nahe.

Abwegige Rechtsansicht allein bedeutet noch keine Rechtsbeugung

Auf die Frage, ob auch die materielle Entscheidung, also die Aussetzung der Corona-Maßnahme an sich, eine Rechtsbeugung darstellt, dürfte es daher streitentscheidend nicht mehr ankommen. Sie ist auch kniffliger zu beantworten. Auch wenn die Entscheidung inhaltlich eine völlig andere Linie fährt als der Großteil der Gerichte, stellt dieser Umstand – für sich genommen – noch keinen schwerwiegenden Verstoß dar. Vielmehr müsste die Auswahl der Sachverständigen grob fehlerhaft sein oder das Gutachten bewusst missinterpretiert werden. Sollte einem Gutachten nur die Glaubwürdigkeit fehlen, sind Rechtsmittel der Weg, um die Entscheidung anzugreifen.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Richter hier vor, er habe sichergestellt, „dass die Ergebnisse der später in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten seinen Vorstellungen entsprechen." Was genau sie damit meint, ist bislang unklar. Grobe Fehler bei der Auswahl der Sachverständigen lassen sich hier aber nur schwerlich begründen, da es sich – zumindest ihrer Qualifikation nach – um Fachleute handelte. Anders wäre es, wenn der Angeklagte die Sachverständigen etwa bestochen hätte.

Daher kann die Begründung des Beschlusses lediglich dazu dienen, die Motive des Täters bei der Annahme der Zuständigkeit und der Reichweite des Beschlusses zu ermitteln. Kurz: Hätte ein zuständiger Richter auf Grundlage eben dieser Gutachten entschieden, dann hätte deswegen kaum jemand den Vorwurf der Rechtsbeugung erhoben, sondern nur auf Rechtsmittel verwiesen.

Rechtsbeugung liegt im Ergebnis vor

Während die falsche Entscheidung in der Sache wohl keine Verwirklichung des § 339 StGB darstellt, erfüllen die willkürliche Annahme der Zuständigkeit und die Ausweitung der Reichweite gepaart mit der sachfremden Motivation den Tatbestand der Rechtsbeugung. Nach einer Veurteilung bliebe dem dann Ex-Richter nur noch der (zweifelhafte) Heldenstatus in der Querdenker-Szene.

Mustafa Enes Özcan ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht bei Prof. Dr. Thomas Rönnau an der Bucerius Law School. 

Zitiervorschlag

Anklage gegen Weimarer Familienrichter: Nur ein falsches Urteil oder schon Rechtsbeugung? . In: Legal Tribune Online, 05.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48665/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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