Auf die Prognose kommt es an: Wann dürfen pro-paläs­ti­nen­si­sche Demos ver­boten werden?

von Dr. Christian Rath

22.10.2023

Die Beschlüsse der Gerichte zu israelfeindlichen bzw. pro-palästinensischen Kundgebungen sind uneinheitlich. Sind die Demonstrationen so unterschiedlich oder die Maßstäbe so unklar? Christian Rath erklärt die gerichtlichen Kriterien.

In vielen Städten wie Berlin, Frankfurt am Main und Hamburg wurden pro-palästinensische Demonstrationen recht pauschal verboten. Oft wurden danach die Gerichte angerufen. Mal wurden die Verbote gekippt, oft aber auch bestätigt. Die Rechtsprechung wirkt wechselhaft.

Dabei werden die Gerichtsentscheidungen in den Medien meist nur verkürzt wiedergegeben, oft nur das Ergebnis. In der Regel fehlen Pressemitteilungen der Gerichte und es dauert Wochen, bis die begründeten Beschlüsse veröffentlicht sind. Ein verlässlicher Überblick über die bisherige Rechtsprechung zu derartigen Veranstaltungsverboten ist daher im Moment noch nicht möglich.

Immerhin sind inzwischen erste einschlägige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte veröffentlicht, insbesondere aus Berlin (Beschl. vom 11.10.2023, Az.: 1 L 428/23) und Frankfurt am Main (Beschl. vom 13.10.2023, Az.: 5 L 3216/23) und Kassel (Beschl. vom 14.10.2023, Az. 2 B 1423/23). 

Maßstab "öffentliche Sicherheit"

Maßstab für die Gerichte sind die Versammlungsgesetze. Bis zur Föderalismusreform 2006 gab es nur ein Versammlungsgesetz im Bund. Seitdem können die Bundesländer eigene Versammlungsgesetze beschließen, wovon etwa die Hälfte der Länder Gebrauch gemacht hat, unter anderem Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen. In den übrigen Bundesländern gilt weiter das Versammlungsgesetz des Bundes.

Im Kern geht es bei Demonstrationsverboten fast immer um die Frage, ob eine "unmittelbare Gefahr" für die "öffentliche Sicherheit" besteht, das heißt insbesondere, ob mit Straftaten zu rechnen ist. Auch in Ländern, die weitere Verbotsgründe kennen, steht diese Prüfung im Mittelpunkt.

So wäre es "als Billigung von Straftaten" (gem. § 140 Strafgesetzbuch, ((StGB)) strafbar, den Hamas-Terror-Angriff öffentlich zu bejubeln. Die Parole "Bombardiert Tel Aviv" wäre eine "öffentliche Aufforderung zu Straftaten" (§ 111 StGB), der Ruf "Tod den Juden" gilt als Volksverhetzung (§ 130 StGB). Seit 2020 ist auch das Verbrennen israelischer (und anderer ausländischer) Fahnen strafbar (§ 104 StGB). 

Billigung von Straftaten und Volksverhetzung?

Wenn das Existenzrecht Israels verneint wird, etwa durch den Slogan "From the River to the Sea, Palestine shall be free", ist die Strafbarkeit umstritten. Der hessische Justizminister Roman Poseck (CDU) schlägt deshalb vor, das Strafgesetzbuch - ein Bundesgesetz - entsprechend zu ergänzen. Die Berliner Polizei will die Leugnung des Existenzrechts Israels schon heute als Volksverhetzung verfolgen. Dagegen spricht aber, dass sich die Volksverhetzung gegen Teile der inländischen Bevölkerung richten muss. Thomas Fischer vertritt auf LTO die These, der Ausspruch könne in bestimmten Bedeutungszusammenhängen eine Billigung von Straftaten nach § 140 StGB darstellen. Soweit ersichtlich kam es für die Rechtmäßigkeit der Demonstrationsverbote auf die strafrechtliche Einstufung dieser Parole bisher aber nicht an. 

Verfassungsrechtlich heikel könnte vor allem sein, ob aus israelkritischen oder gar israelfeindlichen Äußerungen eine Gefährdung von Juden und Jüdinnen in Deutschland abgeleitet werden kann, die Versammlungsverbote rechtfertigt. Grundsätzlich sind zwar auch israelfeindliche Versammlungen von der Versammlungsfreiheit geschützt; Versammlungen müssen nicht ausgewogen sein und sind nicht der deutschen Staatsräson verpflichtet. Sobald aber die ablehnende Haltung gegenüber Israel in Aggression gegenüber allen Juden und Jüdinnen, auch in Deutschland, umschlägt, sind schnell auch die erwähnten strafrechtlichen Verbote einschlägig. Die Abgrenzung kann sehr schwierig sein, stand bisher aber wohl nicht im Mittelpunkt der gerichtlichen Auseinandersetzungen.

Worauf sich die Prognose stützt

Da es bei den Verboten um in Kürze erst anstehende Demonstrationen geht, müssen die Gerichte eine Prognose über deren wahrscheinlichen Ablauf treffen. Wenn schon der Aufruf zur Demonstration strafbar ist, fällt die Prognose leicht. Ansonsten wird oft auf ähnliche Veranstaltungen desselben oder anderer Veranstalter abgestellt. 

Welche Prognosen aus früheren Ereignissen abgeleitet werden können und dürfen, ist oft umstritten. Kann der Verlauf einer Kundgebung in Berlin durch einen anderen Veranstalter ein Verbot in Frankfurt am Main tragen? Wohl vor allem aus diesen Schwierigkeiten bei der Prognose kommen die Gerichte so häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Das Bundesverfassungsgericht, das früher mit dem Verweis auf Präzedenzfälle sehr zurückhaltend umging, hält solche retrospektiven Indizien inzwischen jedoch für zulässig: "Für die Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen." (BVerfG-Kammer-Beschl. vom 12.5.2010, Az.: 1 BvR 2636/04, Rn. 17)

Auflagen als milderes Mittel

Das präventive Verbot einer Kundgebung muss jedoch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit immer das letzte Mittel sein. Insoweit spielt das Verfassungsrecht stets in die Anwendung des Versammlungsrechts hinein. 

Als milderes Mittel kommen Auflagen an die Veranstalter in Betracht, etwa dass der Veranstalter mit seinen Ordnern dafür sorgen muss, strafbare Transparente zu entfernen und strafbare Sprechchöre zu unterbinden. 

Ob den Veranstaltern die Durchsetzung solcher Auflagen zugetraut wird, hängt auch von deren Verhalten ab. Wer verspricht, Straftäter aus der Kundgebung auszuschließen, kann im Streitfall seine Demonstration eher durchführen als ein Veranstalter, der jegliche Beschränkungen von pro-palästinensischen Kundgebungen als "rassistisch" bezeichnet. 

Bisherige Entscheidungen

Die beiden bisher veröffentlichten Entscheidungen kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das Verwaltungsgericht Berlin hat ein Versammlungsverbot bestätigt, die Gefahrenprognose konnte auf die Erfahrungen mit früheren Versammlungen des gleichen Veranstalters gestützt werden (Beschl. vom 11.10.2023, Az.: 1 L 428/23). 

Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat ein Versammlungsverbot als "offensichtlich rechtswidrig" beanstandet, die Gefahrenprognose könne nicht auf Ereignisse bei Kundgebungen der gleichen Veranstalterin in Berlin gestützt werden. Allerdings wurde diese Entscheidung des VG Frankfurt am Main durch eine Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel (Beschl. vom 14.10.2023, Az.: 2 B 1423/23) aufgehoben. Die Gefahrenprognose habe doch auf die "Vorerfahrungen" in Berlin gestützt werden können. Außerdem wurden der Antragstellerin öffentliche Äußerungen zu Last gelegt, die sie nach dem Verwaltungs-Beschluss machte. Sie hatte dabei unter anderem bestritten, dass die Hamas eine Terrororganisation ist.

Verwaltungsgerichte statt Bundesverfassungsgericht

Die Demonstrationsverbote sind Verwaltungsakte oder Allgemeinverfügungen. Deshalb entscheiden die Verwaltungsgerichte. In der Regel handelt es sich dabei um Eilverfahren, weil ja noch vor einer konkret geplanten Kundgebung entschieden werden muss. Deshalb können die Gerichte hier nur eine "summarische" (das heißt grobe) Prüfung vornehmen. Wenn das Verbot wahrscheinlich rechtswidrig ist, kann die Demonstration stattfinden. Wenn das Verbot der Kundgebung wahrscheinlich rechtmäßig ist, bleibt es wirksam.

Im Eilverfahren stehen zwei Instanzen zur Verfügung. Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann die unterliegende Seite (Behörde oder Veranstalter) das Oberverwaltungsgericht bzw. den Verwaltungsgerichtshof anrufen. 

Da hier auch die Versammlungsfreiheit betroffen ist, könnte ein Veranstalter nach einer ablehnenden verwaltungs- bzw. oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidung auch noch zum Bundesverfassungsgericht gehen. Rechtsradikale Kundgebungsveranstalter nutzen diesen Weg seit Jahrzehnten regelmäßig. Bis zum Wochenende ist allerdings noch kein einziger Eilanatrag pro-palästinensischer Veranstalter in Karlsruhe eingegangen. 

Zitiervorschlag

Auf die Prognose kommt es an: Wann dürfen pro-palästinensische Demos verboten werden? . In: Legal Tribune Online, 22.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52973/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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