Unfallstatistik 2011: Eine Bilanz des Sch­re­ckens

von Prof. Dr. Dieter Müller

15.07.2011

Noch immer werden die alljährlich publizierten statistischen Zahlen der Verkehrsunfälle als Erfolgsbilanzen staatlicher Arbeit für die Verkehrssicherheit betrachtet. Dabei wird umgekehrt ein Schuh daraus. Die Statistik ist eine Bilanz staatlicher und gesellschaftlicher Fehlleistungen im Straßenverkehr. Ein Kommentar von Dieter Müller.

Auf den Straßen in Deutschland verloren im vergangenen Jahr 3.648 Menschen ihr Leben. Zwar waren das 504 oder 12 Prozent Getötete weniger als im Jahr 2009, dennoch besteht kein Grund zu ungetrübter Freude. Auch bei der Anzahl der Verletzten gingen die Zahlen um 6,7 Prozent auf rund 371.170 verletzte Personen zurück. Die Unfallopfer sterben vor allem auf Landstraßen, auf denen 2.207 Menschen zu Tode kamen, während in den Städten und Gemeinden 1.011 und auf den Autobahnen 430 Menschen umkamen. Alarmierend ist der Umstand, dass die Polizei bundesweit rund 2,4 Millionen Unfälle erfasste und damit 4,2 Prozent mehr als im Jahr 2009. So weit die Zahlen, die die am 6. Juli veröffentlichte Unfallstatistik 2011 des Statistischen Bundesamtes hergibt.

Die Gründe für den insgesamt zu verzeichnenden Rückgang der Getöteten und Verletzten im Straßenverkehr liegen aber nicht in staatlicher Arbeit für die Verkehrssicherheit begründet. Vielmehr ist Ursache der im Ergebnis erfreulichen Zahlen vor allem die große Verbreitung und hohe Wirksamkeit unfallvermeidender, weil Fahrfehler korrigierender Fahrerassistenzsysteme (z.B. ABS und ESP).  Auch die stetig verbesserte passive Fahrzeugsicherheit sowie eine qualitativ hochwertige Versorgung durch den Rettungsdienst tragen zur Verringerung der Zahlen bei.

Keiner dieser Gründe aber beruht auf einer Qualitätssteigerung der Arbeit staatlicher Behörden für die Verkehrssicherheit. Vielmehr trifft das Gegenteil zu. Durch Personaleinsparungen in den Länderpolizeien stehen immer weniger Polizeibeamte zur Verfügung, die den Straßenverkehr überwachen. Wer nicht da ist, kann auch nicht präventiv wirken.

Die Hauptursache: Fehlverhalten von Fahrern

Unfälle mit Personenschäden werden weit überwiegend, so die Polizei, durch eine nicht an die Verkehrsverhältnisse angepasste Geschwindigkeit verursacht. An zweiter Stelle stehen Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren sowie Ein- und Anfahren. Auf den weiteren Plätzen des gefährlichen Fehlverhaltens von Autofahrern folgen Verstöße gegen die Vorfahrtsregel und den Sicherheitsabstand.

Nach wie vor steht insbesondere bei schweren Unfällen der Alkoholeinfluss im Fokus. All diese Ursachen können jedoch nur dann erfolgreich bekämpft werden, wenn Verkehrskontrollen stattfinden und das Verkehrsverhalten der Autofahrer auf den Straßen dort beobachtet wird, wo die Fahrfehler passieren.

Die wichtigste Unfallursache wird in ganz Deutschland nicht kontrolliert. Die "nicht an die Verkehrsverhältnisse angepasste Geschwindigkeit" wird überhaupt nicht gemessen, die Überprüfungen beschränken sich aufdie erlaubten Höchstgeschwindigkeiten. Der Polizei wie auch den Kommunen, die  ebenfalls zur Geschwindigkeitsmessung befugt sind, fehlt ein Konzept zur Kontrolle der angepassten Geschwindigkeit.

Statistisch ganz weit vorn: Die "nicht angepasste Geschwindigkeit"

Dabei regelt die Vorschrift des § 3 Abs. 1 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) deutlich, dass Autofahrer sieben Faktoren bei der Wahl ihrer Geschwindigkeit berücksichtigen müssen:

  • Straßenverhältnisse,
  • Verkehrsverhältnisse,
  • Sichtverhältnisse,
  • Wetterverhältnisse,
  • persönliche Fähigkeiten,
  • Eigenschaften des Fahrzeugs und
  • Eigenschaften der Ladung.

Die zulässige Höchstgeschwindigkeit darf nämlich nur dann bis zur Obergrenze ausgeschöpft werden, wenn optimale aktuelle Verhältnisse herrschen. Nicht nur das Verhalten von Verkehrsteilnehmern einschließlich des Fahrers selbst, sondern auch die Beschaffenheit des Verkehrsraumes und schließlich auch die Eigenschaften des Kraftfahrzeugs müssen also bestmöglich sein.

Die angepasste Geschwindigkeit ist nicht nur eine Option

Jeder Autofahrer muss während seiner Fahrt analysieren, ob sich auch nur aus einem dieser genannten Einflussfaktoren konkrete Bedenken bezüglich widriger Verkehrsverhältnisse, liegen keine günstigsten Umstände mehr vor. Der Fahrer muss dann von der zulässigen Höchstgeschwindigkeit Abstand nehmen. Das gilt zum Beispiel bei Fahrbahnen mit zahlreichen Schlaglöchern im Bereich der Fahrlinien der Fahrzeugreifen, aber auch bei Sichtbehinderungen durch starken Nebel, Regen, Hagelschlag oder Schneefall oder stehender Nässe auf der Fahrbahn.

Polizeiliche oder kommunale Geschwindigkeitsüberwachungen nach § 3 Abs. 1 StVO können genau an diesen Orten durchgeführt werden, müssen dabei allerdings vorab die an die Verkehrssituation angepasste Geschwindigkeit ermitteln. Die genaue Festlegung der angepassten Geschwindigkeit erfordert für jede Messstelle vor der ersten Geschwindigkeitsmessung ein Gutachten eines in der Unfallbegutachtung tätigen Ingenieurs, das für verschiedene Fahrbahnbedingungen genormt ist.

Auch Verstöße gegen den Sicherheitsabstand werden vorwiegend auf Autobahnen kontrolliert. Allerdings geschehen dort kaum Verkehrsunfälle, die auf einen nicht genügenden Sicherheitsabstand zurückzuführen sind. Auf den Landstraßen und in den Städten aber, dort also, wo klassisch zu dicht aufgefahren wird,  finden keine vorbeugenden polizeilichen Abstandskontrollen statt. Gefährliche Verstöße bleiben damit unerkannt - und ungeahndet.

Auf dem Land lebt es sich gefährlicher

Betrachtet man die Unfallbilanz in den einzelnen Bundesländern im Vergleich, so sticht ein deutliches Sicherheitsgefälle von West nach Ost ins Auge. Bezogen auf eine Million Einwohner gab es in den beiden Stadtstaaten Hamburg und Berlin, bedingt durch diese Sondersituation kaum vorhandener Landstraßen 12 bzw. 13 im Straßenverkehr getötete Menschen zu beklagen.

Ganz anders sieht dies in den Flächenländern Sachsen-Anhalt (67 Getötete) und Brandenburg mit sage und schreibe 76 Todesopfern im Straßenverkehr je eine Million Einwohner aus. Das Flächenland Nordrhein-Westfalen zeigt mit 31 tödlich Verletzten Unfallopfern und einem fein abgestimmten Sicherheitskonzept, dass der Straßenverkehr auch sicherer organisiert werden kann.

Es steht Politikern unter moralischen Aspekten schlecht zu Gesicht, die Zahlen von Getöteten und Verletzten im Straßenverkehr als Erfolgsbilanzen staatlicher Arbeit darzustellen. Dieser alljährlich zu beobachtende Zynismus ist fehl am Platz. Vielmehr sind diese Zahlen weiterhin erschreckend.

Und sie sollten ein steter Ansporn sein, die staatliche Arbeit im Bereich der Verkehrssicherheit zu verbessern. Personaleinsparungen im Bereich der Verkehrspolizei sind dabei kontraproduktiv. Sie führen dazu, dass der Straßenverkehr nicht vorbeugend überwacht werden kann. Und am Ende können so auch Unfälle nicht verhindert werden.

Der Autor Prof. Dr. Dieter Müller ist Fachbereichsleiter für Verkehrswissenschaften an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH), wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen und Autor zahlreicher Publikationen zum Verkehrsrecht.

 

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Zitiervorschlag

Dieter Müller, Unfallstatistik 2011: Eine Bilanz des Schreckens . In: Legal Tribune Online, 15.07.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3777/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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