Pflichtverteidigung: Nie­mand will mehr, alle müssen

Die mutmaßliche IS-Terroristin Jennifer W. muss ihre Anwälte behalten. Wie im NSU-Verfahren, als sich Beate Zschäpe mit drei Verteidigern überwarf, zeigt sich: Über deren Bestellung und Abberufung sollte nicht das Gericht entscheiden.

Die mutmaßliche IS-Terroristin Jennifer W. muss weiterhin mit ihren Strafverteidigern auskommen, obwohl sie mit ihnen nicht mehr zusammenarbeiten will, weil gegen beide ein Ermittlungsverfahren läuft. Das hatte das OLG München kürzlich entschieden. Auch ein Antrag der Anwälte auf Entpflichtung war abgelehnt worden.

Im NSU-Prozess war es ähnlich: Beate Zschäpe und die drei (von ihr benannten) Pflichtverteidiger Wolfgang Heer, Anja Sturm und Wolfgang Stahl verfolgten im Laufe des Prozesse völlig unterschiedliche Strategien und mussten schließlich Monate im Gerichtssaal miteinander verbringen, obwohl sie kein Wort mehr miteinander wechselten.

Beide Fälle zeigen: Die Zuständigkeit für die Bestellung und Abberufung von Verteidigern in die Hände der beteiligten Richter und Staatsanwälte zu legen, kann nicht gut gehen. Und das ist nicht das einzige, was hier neu gestaltet werden muss.

Wie kommt der Beschuldigte zu seinem Strafverteidiger?

Normalerweise wird der Verteidiger in Fällen der notwendigen Verteidigung von einem Richter beigeordnet – in der Regel ist das der Vorsitzende des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist. In besonders eiligen Fällen kann auch die Staatsanwaltschaft über die Bestellung entscheiden.

Vorab erhält der Beschuldigte die Gelegenheit, einen Verteidiger zu benennen – sprechen keine wichtigen Gründe dagegen, wird dieser Verteidiger bestellt. In der Praxis heißt das: Ist der Beschuldigte ein Profi, der schon eine einschlägige Karriere hinter sich gebracht hat und die Verteidiger-Landschaft hinreichend kennt, um selbst jemanden zu benennen, so bekommt er meistens den Anwalt seiner Wahl.

Jemand, der zum ersten Mal bei etwas erwischt wird, hat sich aber meistens noch keine Gedanken gemacht, wen er im Falle eines Falles als Strafverteidiger benennen könnte. Dann gilt: Der Richter urteilt nicht nur über die Taten des Beschuldigten, sondern bestimmt auch gleich noch über die Person, die ihn auf dem Wege zum Urteil berät und vertritt.

Anstrengender vs. angenehmer Prozess

Rechtsanwälte sind parteiisch: nur an der Seite ihres Mandanten, hier also des Beschuldigten, den man später den Angeklagten nennt. Der Richter hat dagegen die Aufgabe, das Verfahren zu führen. Was wird er also tun?

Wird er einen klugen, überlegenen, einen brillanten Kopf auswählen, einen Verteidiger, der anstrengt, einen, der erfolgreich Beschwerde und Berufung einlegt, einen, der Zeit und Nerven kostet? Einen, der Befangenheitsanträge stellt, im schlimmsten Fall erfolgreiche? Einen, der politisch agitiert, wenn er im Gerichtssaal die Gelegenheit wittert, sich in Szene zu setzen, Öffentlichkeit zu erzeugen, Stimmung zu machen, Druck zu erhöhen? Einen, der ideologisch verbohrte Argumente vorbringt, die mit dem Buchstaben des Gesetzes rein gar nichts mehr zu tun haben oder zumindest auf den ersten Blick zu haben scheinen?

Der normal, nicht masochistisch veranlagte Richter wird sich das nicht antun. Er wird einen nüchtern denkenden, unkomplizierten Rechtsanwalt nehmen, der Prozesse effizient begleitet, sein Argumentationsarsenal zurückhaltend einsetzt, Zeit spart und nicht verschwendet, einen, der nett ist, die richterliche Autorität achtet, der Respekt bekundet, einen, der Zeugen nicht scharf angeht, sondern sich auf die Vollständigkeit richterlicher Befragung im Wesentlichen verlässt.

Damit stehen aber offenkundig nicht allein die Interessen des Beschuldigten im Zentrum. Die optimale Verteidigungslinie kann durchaus die anstrengende sein, die für alle Beteiligten unangenehme. Es bedürfte der Fähigkeit zu übermenschlicher Selbstleugnung, würden Richter und Staatsanwälte bewusst die Weichen in diese Richtung stellen.

Mit angezogener Handbremse verteidigen?

Nicht besser steht es um die Abberufung eines Pflichtverteidigers von diesem Amt. Abberufen wird ein Pflichtverteidiger gemäß § 143a Strafprozessordnung (StPO) in einigen konkret normierten Fällen, insbesondere, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist.

Diese Aufhebungsgründe sind in der Praxis immer wieder ein Thema. Im NSU-Prozess hatte Beate Zschäpe sich auf unterschiedliche Strategien von ihr und ihren Verteidigern berufen. Das OLG München wies alle Anträge zurück, bestellte einen vierten Pflichtverteidiger und sah sich mit einem neuen Wahlverteidiger konfrontiert.

Man muss sich die Situation konkret vorstellen: Zschäpe wollte möglicherweise aussagen, sah sich aber durch den (womöglich berechtigten) Widerstand ihrer Pflichtverteidiger daran gehindert und sollte nun bei dem Richter, der über ihren Fall zu entscheiden hatte, ihre Gründe für den Auswechselungsantrag offenlegen. Wie hätte sie dies tun können? Indem sie gleich die Aussage macht, um die es geht, und dadurch im Grunde das vorträgt, was sie nach dem Rat ihrer Verteidiger nicht sagen sollte, und das alles ohne (neuen) Verteidiger? In diesem  "Zwischenverfahren" der Anwaltsablösung muss dem Richter Entscheidendes offenbart werden, obgleich er das zu diesem Zeitpunkt, zu dem die Angeklagte situativ ohne rechtlichen Beistand ist, eigentlich nicht hören sollte.

Der Fall Jennifer W. ist nicht besser gelagert. Ihre Pflichtverteidiger Ali Aydin und Seda Basay-Yildizn hatten in dem Verfahren Zitate aus einem anderen Prozess, nämlich einem nicht-öffentlichen Islamismus-Verfahren vor dem OLG Düsseldorf, gebracht, offenbar um damit Beweisanträge im zu unterlegen. Diese Zitate haben den Verteidigern inzwischen ein Ermittlungsverfahren wegen illegaler Veröffentlichung eingetragen. Jennifer W. argumentierte gegenüber dem Gericht, ihre Verteidiger seien „eingeschüchtert“, deren Handlungsspielraum sei nun stark eingeschränkt, eine "sachgerechte Verteidigung nicht mehr gesichert". Auch die beiden Anwälte selbst hatten ihre Entbindung von dem Mandat beantragt, weil sie sich in dessen Wahrnehmung gehemmt fühlten. Das Gericht lehnte jedoch ab, ihnen das Mandat zu entziehen – die Verteidiger hätten sich keiner schweren Pflichtverstöße schuldig gemacht, das Vertrauen zu ihrer Mandantin sei nicht erschüttert.

Das OLG München findet es offenbar nicht allzu problematisch, wenn die Anwälte mit angezogener Handbremse weiterfahren. Ob das Kalkül war? Jedenfalls taugte die Verfolgung des Geheimnisbruchs offenbar auch zur Disziplinierung der beiden Anwälte. So schnell nämlich werden sie keinen Beweisantrag mehr stellen. Rechtsanwälte, die nicht mehr alle Kraft in die Verteidigung des Angeklagten setzen können, weil sie auf einmal fühlbar in eigener Person bedroht sind, haben jedoch ihre Unabhängigkeit substanziell eingebüßt.

Strafverteidiger in finanzieller Abhängigkeit

Hinzu kommt in der Praxis noch ein ganz anderer Aspekt: Strafverteidiger erhalten zusätzlich zur täglichen, überschaubaren Pflichtverteidigervergütung die sog. Pauschgebühr. Pauschgebühren sind nach § 51 RVG Honorare, die über die Gebühren nach dem Vergütungsverzeichnis hinausgehen, wenn die dort bestimmten Gebühren wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit nicht zumutbar sind. Im NSU-Prozess hatte einer der drei Zschäpe-Verteidiger für die Vorbereitung des Verfahrens 77.000 Euro beantragt, das heißt  770 Stunden zu 100 Euro. Für ein Verfahren mit tausenden von Aktenordnern Material und schließlich sechs Jahren Prozessdauer sind das ziemlich wenige Stunden und ein ziemlich niedriger Stundensatz.

Das OLG München, das heißt eben der Vorsitzende Richter, der das Verfahren leitete, billigte dem Verteidiger 5000 Euro zu. Aber: Auszahlung erst nach rechtskräftigem Abschluss der Angelegenheit (nicht absehbar) oder nach Darlegung, welche privaten Ausgaben und Ausgaben er monatlich hätte, um die Notwendigkeit eines Vorschusses zu rechtfertigen. So hält man Strafverteidiger am finanziellen Gängelband. Dieser Verteidiger wird sich in Zukunft auch überlegen, welche Anträge er stellt und wie man sich mit einem Vorsitzenden zu verhalten hat, um dessen Wohlwollen zu gewinnen. Oder er wird sich weiterhin unabhängig verhalten und nach einem Nebenjob Ausschau halten.

Die Bestellung und Abberufung von Pflichtverteidigern muss dringend in die Hände unbeteiligter Richter gelegt werden. Noch besser wäre es, wenn eine andere Gerichtsbarkeit – etwa die Verwaltungsgerichte – darüber entscheiden würde. Dort sollte auch über die Vergütung befunden werden.

Anwälte dürfen weder direkt noch indirekt der Disziplinargewalt der Richter unterliegen. Die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte ist ein hohes, in § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung programmatisch gleich zu Anfang gesetztes Gut. Im Bereich der Strafverteidigung harrt es seit 1878 (als die Unabhängigkeit in das Gesetz Einzug hielt) weiterhin der Umsetzung.

Der Autor Prof. Dr. Volker Römermann ist Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG, Direktor des Forschungsinstituts für Anwaltsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und President der German Speakers Association (GSA).

Zitiervorschlag

Pflichtverteidigung: Niemand will mehr, alle müssen . In: Legal Tribune Online, 10.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40211/ (abgerufen am: 17.04.2024 )

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