Bereits mehr als 200.000 Ostukrainer eingebürgert: Rus­si­sche "Pass­por­ti­sie­rung" auf Hoch­touren

von Johann Verhaelen

02.03.2020

Russland bürgert seit einiger Zeit Ostukrainer im Eilverfahren ein. Es ist bereits das vierte Mal, dass der Staat auf diese Weise verfährt. Wirklich illegal ist das nicht. Die völkerrechtlichen Hintergründe beleuchtet Johann Verhaelen.

Zu Beginn der Völkerrechtsvorlesung lernt der Jurastudent, dass der Staat in drei klassische Merkmale aufgeteilt wird: Staatsvolk, Staatsgebiet und eine funktionierende Staatsgewalt. Aber was ist, wenn einem Staat sein Volk wegläuft? Glaubt man aktuellen Berichten, kann ein Ostukrainer derzeit neben dem allwöchentlichen Großeinkauf kurz noch in der zuständigen Behörde vorbeischauen und sich einen Pass mit dem russischen Doppelkopfadler abholen.

Seit fast drei Jahrzehnten greift die Russische Föderation auf ein seit Sowjetzeiten bekanntes geopolitisches Instrument zurück: die systematische Vergabe von Staatsbürgerschaften an bestimmte Bevölkerungsgruppen. "Passportisierung" wird dies genannt. Bereits seit Mai 2019 läuft eine derartige große Passportisierungs-Kampagne in der immer noch umkämpften Ostukraine.

Die Ostukraine ist Russlands viertes "Passportisierungsprojekt". Bereits Anfang der 1990er Jahre, kurz nachdem die Republik Moldau ihre Unabhängigkeit ausgerufen hatte, erwarben die meisten Bürger der abtrünnigen Region Transnistrien die russische Nationalität. 

Insbesondere Anfang der 2000er verteilten russische Behörden Pässe an Bürger aus Abchasien und Südossetien, den beiden Separatistenprovinzen im Norden Georgiens. Wenig später waren 90 Prozent der Einwohner dieser georgischen Landesteile russische Staatsbürger geworden. 2008 rechtfertigte Russland seine militärische Intervention im Fünf-Tage-Krieg gegen Georgien unter anderem auch damit, dass es seine eigenen Staatsbürger in Südossetien schützen müsste. Damit waren gerade die gemeint, die erst ein paar Jahre vorher Russen geworden waren.

Dieses Muster wiederholte sich 2014 in der Krim-Krise, als Russland erneut mit Art. 61 seiner Verfassung argumentierte, wonach ein militärisches Eingreifen zum Schutz von eigenen Staatsbürgern im Ausland möglich ist. Auch auf der Schwarzmeer-Halbinsel hatten in den Jahrzehnten davor eine Vielzahl der Menschen russische Pässe erhalten. 

Änderung des Einbürgerungsprozesses 

Seit einigen Monaten schaut die ukrainische Regierung relativ machtlos zu, wie die Russische Föderation ostukrainische Bürger im Eilverfahren einbürgert. Im April 2019 erließ der russische Präsident Putin ein Dekret, welches das einschlägige russische Einbürgerungsgesetz deutlich regulierte. Die Bürger der Separatistengebiete Donezk und Luhansk, insgesamt etwa 3,7 Millionen Menschen, konnten von nun an deutlich vereinfacht und schneller die russische Staatsbürgerschaft erhalten: Unter anderem sind Ostukrainer nicht mehr verpflichtet, auf ihre ukrainische Staatsbürgerschaft zu verzichten und der Einbürgerungsprozess soll in nur drei Monaten komplett abgeschlossen sein. Mitte November 2019 sollen bereits 170.000, im Februar 2020 bereits über 200.000 Ostukrainer russische Staatsbürger geworden sein.

Der UN Sicherheitsrat befasste sich noch am 25. April 2019 mit dem Thema. In dieser Sitzung rechtfertigte Russland die Maßnahme mit humanitären Gründen, insbesondere damit, dass Ostukrainer wegen der kriegerischen Zustände keine Hilfe der ukrainischen Regierung mehr bekommen würden und zum Beispiel auch von den Wahlen ausgeschlossen wären. Viele der Sicherheitsrat-Delegierten kritisierten dennoch das russische Manöver.

Verstoß gegen das Völkerrecht?

Rechtlich gesehen verteilt Russland in der Ostukraine nicht nur Reisepässe, sondern vergibt auch die russische Staatsbürgerschaft, zwei im Grunde genommen verschiedene Rechtsakte. Wie bereits der Internationale Gerichtshof im bekannten Nottebohm Fall klarstellte, bezeichnet der Begriff Staatsangehörigkeit das rechtliche und politische Verhältnis zwischen einem Staat und einer Person.

Wenn sich – wie in diesem Fall – keine eindeutige Verbotsnorm finden lässt, ergibt sich, dass die Vergabe von Pässen an Bürger eines anderen Landes völkerrechtlich per se nicht illegal sein kann. Ein Blick in das relevante Völkerrecht zeigt, dass die Ukraine kein relevantes Mitspracherecht in dieser Fragestellung hat. Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sagt allein, dass niemandem seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden darf, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln. 

Auch wenn die Normen in dieser Hinsicht bei weitem nicht eindeutig sind, etwa Art. 52 ff. der Haager Landkriegsordnung von 1907 oder Art. 47 der Genfer Konvention von 1949, will die Literatur ebenfalls erkennen, dass sich aus dem Humanitären Völkerrecht das Verbot für Staaten ergeben würde, Personen eine Nationalität aufzuzwingen. Es gibt allerdings keine Berichte, dass Russland die Einwohner der Ostukraine zur Annahme der Nationalität zwingen würde. 

Das Nottebohm Urteil des Internationalen Gerichtshofs zeigt als weiteres Erfordernis auf, dass es eine gewisse faktische Verbindung zwischen dem die Nationalität vergebenden Staat und der beantragenden Person geben muss. Während eine solche Verbindung sicher am besten noch immer durch einen langfristigen Wohnort im Staat begründet werden kann, dürfte es aufgrund geschichtlicher, sprachlicher und kultureller Erwägungen bezüglich Ostukrainer dennoch keine größeren Argumentationsprobleme geben.

Denn schon die Staatenpraxis zeigt, dass eine solche faktische Verbindung nicht besonders weitreichend sein muss. Passportisierungsaktionen gibt es, wenn auch nicht so massiv beworben und umgesetzt, in Ungarn oder Rumänien zu beobachten. Faktisch kann ein Moldauer heute ohne unüberwindbare Schwierigkeiten die rumänische und damit die EU-Staatsbürgerschaft erwerben. Auch in anderen Ländern lässt sich die Praxis, Staatsbürgerschaften an "Gebietsfremde" zu vergeben, beobachten. Spanien oder Portugal vergaben in der Vergangenheit Pässe an die Nachkommen sephardischer Juden. Nicht zuletzt hat Deutschland seit den 1990er Jahren sogenannte Spätaussiedler im großen Stil eingebürgert.

Der herausragende Unterschied zwischen den genannten Beispielen und der russischen Passportisierung in der Ostukraine ist, dass Russland mehr als offensichtlich außenpolitischen Ziele, wenn nicht gar territoriale Expansionswünsche, verfolgt. Mit vergleichsweise wenig aufwendigen Methoden werden geopolitische Fakten geschaffen. 

Nationale Gegenmaßnahmen 

Ein Blick in das Völkerrecht zeigt, dass die Ukraine insoweit keinen bindenden Schutz gegen die Passportisierungsaktivitäten Russlands genießt. Letztlich kann – solange kein Zwang auf die Individuen ausgeübt wird – jeder Staat darf selbst entscheiden, wer seine Staatsbürgerschaft erhält. Die Frage der Staatsbürgerschaft ist eines der seltenen Themen des Völkerrechts, bei dem Staaten weitgehend sich selbst überlassen sind. 

Der Ukraine bleiben jedoch rechtlich durchsetzbare nationale Gegenmaßnahmen. Die Annahme der russischen Staatsbürgerschaft könnte etwa durch einen entsprechenden Verlust von bestimmten Rechten oder mithilfe einer zu zahlenden Verwaltungsstrafe unattraktiv gemacht werden. Ein erster Schritt ist jedenfalls dahingehend getan, als dass die ukrainische Regierung verlautbaren ließ, dass sie diese russischen Pässe nicht anerkennen wird. Als ultima ratio käme in Betracht, Personen auszubürgern, welche die russische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Willkürlich im Sinne von Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wäre ein solcher Entzug nicht.

Der Verfasser des Artikels verwendet ein Pseudonym. Er ist der LTO-Redaktion bekannt.
 

Zitiervorschlag

Bereits mehr als 200.000 Ostukrainer eingebürgert: Russische "Passportisierung" auf Hochtouren . In: Legal Tribune Online, 02.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40573/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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