Verfassungsgericht entzieht sich der EMRK: "Pol­ni­sche Staats­räson"

Gastbeitrag von Dr. Claudia Kornmeier

04.12.2021

Auf Antrag des polnischen Justizministers erklärt das dortige Verfassungsgericht, es sei kein Gericht im Sinne der EMRK. Es stellt damit die Geltung des Rechts auf ein faires Verfahren in Frage - eine der zentralen Säulen des Rechtsstaats.

Vor 30 Jahren trat Polen dem Europarat und damit auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei. Die polnische Vertretung beim Europarat verkündet zum Jubiläum vor wenigen Tagen offiziell: "So wie vor 30 Jahren ist  
auch heute eine aktive Mitgliedschaft im Europarat Teil der polnischen Staatsräson." Der polnische Ministerpräsident reist auch sodann nach Straßburg zu einem Besuch inklusive photo op vor den Insignien des Europarats und Versprechungen zur Rechtsstaatlichkeit.

Einen Tag später erklärt das polnische Verfassungsgericht, was es von dieser Staatsräson und den Versprechungen zur Rechtsstaatlichkeit hält, und urteilt: Es widerspreche der polnischen Verfassung, das Verfassungsgericht als Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK zu verstehen (Urt. v. 24.11.2021, Az. K 6/21). Mit anderen Worten: Das Verfassungsgericht erklärt, es sei kein Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK -  der Vorschrift, die das Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet und damit zentral ist für einen Rechtsstaat.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts erging - wohlgemerkt - auf Antrag des polnischen Justizministers. 

Europarat: Ein "beispielloses" Urteil

Die Mitgliedschaft im Europarat - sprich die "polnische Staatsräson" - bedeutet eine Verpflichtung zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat. Mitgliedstaaten sind dazu verpflichtet, die Rechte und Freiheiten der EMRK zu wahren und Urteile des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) umzusetzen. 

Beim Europarat heißt es, man habe aus den Medien von der Entscheidung erfahren. "Das heutige Urteil des polnischen Verfassungsgerichts ist beispiellos und lässt ernsthafte Befürchtungen aufkommen", teilte die Generalsekretärin des Europarats, Marija Pejcinovic Buric, noch am Tag der Entscheidung mit. "Wir werden sorgfältig die Begründung des Urteils und seine Auswirkungen bewerten."

Zum ersten Mal sei man damit konfrontiert, dass eine Unvereinbarkeit zwischen nationaler Verfassung und EMRK festgestellt wurde, erklärt der Sprecher des Europarats, Daniel Höltgen, weiter. Das sei auch im Vergleich zum Vorgehen des russischen Verfassungsgerichts "beispiellos". Seit Ende 2015 gilt nämlich in Russland ein Gesetz, das es dem dortigen Verfassungsgericht erlaubt, die Umsetzung von Urteilen des Menschenrechtsgerichtshofs zu überprüfen.

Diese Kompetenz des russischen Verfassungsgerichts unterscheidet sich aus Sicht des Europarats, da nicht automatisch eine Unvereinbarkeit mit der EMRK festgestellt werde. Für verfassungswidrig erklärt werden könne lediglich die Umsetzung von EGMR-Urteilen. In so einer Konstellation sollte es potenziell möglich sein, einen Weg zu finden, ein Urteil verfassungskonform umzusetzen. 

Streit um Besetzung des polnischen Verfassungsgerichts

Hintergrund der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts ist eine Verurteilung Polens durch den EGMR wegen der umstrittenen Neubesetzung von frei gewordenen Richterstellen am Verfassungsgericht im Jahr 2015 (Az. 4907/18).

Damals hatte die liberalkonservative Mehrheit kurz vor der Wahl, bei der sie zu verlieren drohte, drei Richter neu gewählt. Doch der aus den Reihen der nationalkonservativen PiS stammende Präsident Andrzej Duda weigerte sich, die Richter zu vereidigen. Nachdem die PiS die Wahl - wie erwartet - gewonnen hatte, erklärte sie die drei Richterwahlen für ungültig und wählte eigene Kandidaten, die der Präsident anschließend vereidigte. Das polnische Verfassungsgericht erklärte dieses Vorgehen später für rechtswidrig.

Dieser Auffassung schloss sich der EGMR im Mai 2021 an und stellte fest, dass die Besetzung des Gerichts gegen Art. 6 EMRK verstoße. Soweit einer der drei nicht rechtmäßig gewählten Richter an einer Entscheidung beteiligt sei, entscheide kein "auf Gesetz beruhendes Gericht", wie es Art. 6 EMRK fordere. 

Was kann der Europarat tun?

Aus Sicht von Europarat-Sprecher Höltgen ist es nun zunächst und zuallererst an Polen, die Auswirkungen der Entscheidung zu bewerten und den Europarat sowie alle anderen Mitgliedstaaten zu informieren. Der EGMR werde weiter über Beschwerden gegen Polen entscheiden und der Ministerrat werde weiter überwachen, dass die Urteile umgesetzt werden.

Viel tun kann der Europarat am Ende allerdings nicht: Er ist abhängig vom politischen Willen der Mitgliedstaaten, sich an die vereinbarten Pflichten zu halten. Eine rechtliche Möglichkeit sehen die Konvention und die Satzung des Europarats zwar vor: Nach Art. 46 Abs. 4 und 5 EMRK kann ein Verfahren vor dem Gerichtshof eingeleitet werden, mit dem gerichtlich überprüft wird, ob ein Mitgliedstaat ein Urteil umgesetzt hat. Und im Zusammenhang damit kann nach Art. 8 der Satzung des Europarats ein Ausschlussverfahren eingeleitet werden. Am Ende geht es aber auch bei diesen rechtlichen Instrumenten um politischen Druck.

Ein Verfahren nach Art. 46 EMRK wurde 2017 das erste Mal angewandt - gegen Aserbaidschan wegen der Nicht-Freilassung des Oppositionsführers Ilgar Mammadov. Im Ergebnis mit Erfolg: Mammadov wurde freigelassen. Auch gegen die Türkei soll ein solches Verfahren eingeleitet werden, wie der Europarat am Freitag mitteilte, weil sich das Land trotz EGMR-Verurteilung weigert, den Kulturmäzen Osman Kavala freizulassen.

Verfassungsrechtler fürchtet "chilling effect"

Ein Ausschluss aus dem Europarat würde aber auch bedeuten, dass sich Menschen - ob nun aus Polen, Russland, der Türkei oder Aserbaidschan - nicht mehr an den EGMR wenden können, um dort Menschenrechtsverletzungen feststellen zu lassen, eine Entschädigung oder gar eine Freilassung aus der Haft zu erstreiten.

Der polnische Verfassungsrechtler Jakub Jaraczewski von der Organisation "Democracy Reporting International" befürchtet schon jetzt einen "chilling effect" durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts: "Die Menschen in Polen könnten zurückhaltend werden, beim EGMR Beschwerden einzulegen", da die Regierung klar signalisiert habe, dass sie bereit sei, Entscheidungen aus Straßburg, die ihr nicht gefallen, zu ignorieren. Das sei eine "sehr gefährliche Entwicklung". 

"Der Europarat sollte genau beobachten, wie die polnische Regierung sich verhalten wird, wenn nationale Gerichte in die Konfliktsituation geraten, entweder dem Verfassungsgericht oder dem EGMR zu folgen", sagt Jaraczewski.

"Ananaspizza verfassungswidrig"

In Polen flüchtet man sich derweil auch in Witze und Memes. Auf Twitter wird ein  Bild der Gerichtspräsidentin geteilt, über dem steht: "Ich stelle fest, dass Ananaspizza teilweise unvereinbar ist mit der Verfassung." "Der polnischen Gesellschaft ist die Komik daran nicht entgangen, dass hier ein Verfassungsgericht in eigener Sache entscheidet und dabei sagt, es selbst sei kein Gericht", kommentiert Verfassungsrechtler Jaraczewski.

Aber die Sache ist ernst. Der Konflikt zwischen dem polnischen Verfassungsgericht und dem EGMR wird vermutlich kein isolierter Einzelfall bleiben. Straßburg hat Polen nicht nur wegen der Besetzung des Verfassungsgerichts, sondern auch bereits mehrfach wegen einzelnen Teilen der Justizreform verurteilt. Zahlreiche weitere Beschwerden sind anhängig, die in Straßburg mit Priorität behandelt werden.

Keine schriftliche Begründung in Sicht

Man hoffe, dass Polen seine Position klarstellt, und strebe an, die notwendigen Erklärungen so schnell wie möglich zu bekommen, heißt es beim Europarat. Die Analyse der Angelegenheit solle aber nicht "übereilt" stattfinden. In einem ersten Schritt müsse die vollständige Begründung der Entscheidung vorliegen. Man hoffe, dass das Verfassungsgericht diese in den kommenden Tagen oder Wochen veröffentliche.

Veröffentlicht wurde vergangenen Freitag allerdings lediglich die Entscheidung als solche im Gesetzblatt. Eine schriftliche Begründung hat das polnische Verfassungsgericht - soweit ersichtlich - bisher nicht veröffentlicht. Im Übrigen auch nicht zu der umstrittenen Entscheidung zur Unvereinbarkeit von Teilen des EU-Rechts mit der polnischen Verfassung (Urt. 07.10.2021, Az. K 3/21).

Angekündigt sind dagegen bereits zwei weitere Verfahren, in denen es um die Vereinbarkeit von Entscheidungen der beiden europäischen Gerichte mit der polnischen Verfassung geht: Az. K 8/21 zu vom EuGH verhängten Sanktionen sowie Az. K 7/21 zur Verurteilung durch den EGMR wegen der Besetzung der Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof (Az. 43447/19). 

Auch Jaraczewski weist auf Twitter schon auf diese "nächste Episode der Geschichte" hin - die übrigens wiederum auf Antrag des Justizministers vor dem Verfassungsgericht landete. Polnische Staatsräson scheint aktuell eher eine aktive Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit zu sein - auf nationaler sowie auf europäischer Ebene.

Zitiervorschlag

Verfassungsgericht entzieht sich der EMRK: "Polnische Staatsräson" . In: Legal Tribune Online, 04.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46835/ (abgerufen am: 27.03.2024 )

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