Wenn es um Terror geht, kann schon eine Reise nach Syrien strafbar sein. Aber auch bei Kiffern, Rasern und nicht ganz idealen Pferden zeigte der BGH sich dieses Jahr streng.
1/9: Raser-Fälle: Künftig keine Bewährungsstrafen mehr?
Als der BGH im Juli 2017 darüber entschied, wie zwei junge Männer zu bestrafen sind, deren Raserei mitten in einer Großstadt einen Menschen das Leben gekostet hat, ging es noch gar nicht um die Frage, ob derartiges Verhalten ein Mordmerkmal erfüllen kann. Diese Rechtsfrage liegt noch in Karlsruhe, nachdem die Verteidiger der sogenannten Ku’Damm-Raser gegen das Mordurteil des LG Berlin Revision eingelegt haben.
Aber schon in seinem Urteil (v. 06.07.2017, Az. 4 StR 415/16) über die Strafen für zwei Kölner, nach deren Autorennen eine Radfahrerin zu Tode gekommen war, hat der BGH neue Wege geebnet. Würde seine Auffassung Schule machen, dürften Bewährungsstrafen für Raser in Innenstädten künftig kaum mehr in Betracht kommen.
Das LG habe nicht hinreichend bedacht, dass Freiheitsstrafen über einem, aber unter zwei Jahren auch bei einer günstigen Legalprognose nur unter besonderen Umständen noch zur Bewährung ausgesetzt werden dürfen (§ 56 Abs. 2 StGB), so der 4. Strafsenat, der das Verfahren deshalb nach Köln zurückverwies.
Zwar hätten die Angeklagten den Tod ihres Opfers fahrlässig herbeigeführt, aber bei dem Rennen gleich mehrere erhebliche Verkehrsordnungswidrigkeiten begangen, u.a. gegen das in der Straßenverkehrsordnung (StVO) geregelte Rennverbot verstoßen und durch ihre aggressive Fahrweise die Gefahrenlage bewusst herbeigeführt. Außerdem sei angesichts vieler Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang aufgrund überhöhter Geschwindigkeit zu prüfen, wie sich eine Strafaussetzung zur Bewährung "auf das allgemeine Rechtsempfinden und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts auswirken würde".
2/9: Tatort-Manier: Beweise aus legendierter Polizeikontrolle verwertbar
Immer diese Strafprozessordnung mit all ihren komplizierten, beschuldigtenfreundlichen Regeln – das muss doch einfacher gehen, dachten sich Polizeibeamte, die Hinweise auf einen Kokaintransport aus den Niederlanden nach Deutschland bekommen hatten. Und anstatt einen Durchsuchungsbeschluss einzuholen, beschlossen sie, sich auf polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlagen zur Gefahrenabwehr zu stützen und diese Erkenntnisse über § 161 Abs. 2 StPO ins Strafverfahren zu transportieren.
Man könnte doch einen Peilsender am Fahrzeug des Verdächtigen anbringen, dieses im Rahmen einer "zufälligen" Verkehrskontrolle anhalten und durchsuchen. Gesagt, getan – und vom BGH abgesegnet mit Urteil vom v. 26. April 2017 (Az. 2 StR 247/16). Der 2. Strafsenat erklärte das Vorgehen für rechtmäßig, sofern die Staatsanwaltschaft, die immerhin "Herrin des Verfahrens" sei und bleiben solle, "zeitnah, wahrheitsgemäß und vollständig über die Hintergründe der polizeilichen Maßnahmen informiert" werde.
Dass die Staatsanwaltschaft zwar Herrin des Verfahrens, aber auch nur bei Gefahr im Verzug zuständig ist für Durchsuchungen, die eigentlich vom Richter angeordnet werden müssen, interessierte Deutschlands höchste Strafrichter dabei offenbar ebenso wenig wie die Beschuldigtenrechte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren: Dem Beschuldigten müsse der "maßgebliche prozessuale Sachverhalt" spätestens mit Anklageerhebung vollständig offen gelegt werden, heißt es in dem Urteil.
3/9: Kiffen: Wann man nicht mehr fahren darf
Eine weitere strafrechtliche Entscheidung aus der Kategorie "muss man einfach wissen" traf der BGH im April dieses Jahres: Wer eine THC-Konzentration von 1,0 ng/ml im Blut hat, darf nicht fahren.
Ok, ganz so einfach war es nicht. Aber der 4. Strafsenat hat erstmals deutlich klargestellt, dass der Tatrichter bei der Prüfung, ob ein Angeklagter unter berauschenden Mitteln ein Fahrzeug führte (§ 24a Straßenverkehrsgesetz), allein aus einer THC-Konzentration in dieser Höhe auf ein objektiv und subjektiv sorgfaltswidriges Handeln im Sinne der Norm schließen darf.
Ab diesem Wert ist aus medizinischer Sicht eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit möglich. Das genügt dem BGH, der es mit seinem Urteil für ausdrücklich nicht nötig erklärte, dass der Betroffene spürbare Auswirkungen des konsumierten Cannabis wahrnehmen kann oder zu einer näheren physiologischen oder biochemischen Einordnung der Wirkungen von Cannabis in der Lage ist.
Es bleibt weiterhin möglich, den Rückschluss aus der THC-Konzentration zu entkräften. Das obliegt aber nun eindeutig dem Cannabis-Konsumenten. Natürlich schließen ein unbewusster Konsum und ein erheblicher (!) Abstand zwischen Konsum und Fahrtantritt die subjektive Sorgfaltswidrigkeit auch künftig aus.
Wie genau man letzteres feststellen und den Vorwurf entkräften soll, blieb allerdings auch beim BGH reichlich abstrakt. Vor der Fahrt solle man sich, so der Senat, mit einer "gehörigen Selbstprüfung" vergewissern, den Grenzwert nicht zu überschreiten. Soweit erforderlich, sollte man dazu auch fachkundigen Rat einholen und, wenn man sich nicht sicher ist, lieber nicht ins Auto steigen.
4/9: Terror-Vorbereitung: 89a StGB verfassungsgemäß
Im August 2017 erklärte der 3. Strafsenat, dass er "keine durchgreifenden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit" von § 89a Strafgesetzbuch hat. Er legte die Norm daher nicht dem Bundesverfassungsgericht vor, sondern bestätigte die auf ihrer Grundlage erfolgte Verurteilung eines 27-Jährigen, der versucht hatte, nach Syrien auszureisen.
Die 2009 eingeführte Norm war im Jahr 2015 um den Absatz 2a ergänzt worden, um bereits die bloße Ausreise zum Zweck einer terroristischen Tat bestrafen zu können und damit auch den Sicherheitsbehörden mehr Zugriffsmöglichkeiten zu geben.
Experten hatten aufgrund der deutlichen Vorverlagerung der Strafbarkeit vor die eigentliche Rechtsgutsbeeinträchtigung von Anfang an Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit gehabt. Der BGH billigte den Straftatbestand hingegen bereits im Jahr 2014, also vor seiner Änderung, wenn der Täter zu seiner Ausreise "fest entschlossen" war (Urt. v. 08.05.2014, Az. 3 StR 243/13). Damals wurde das Urteil sowohl in der deutschen Rechtswissenschaft als auch in der Tagespresse empört kommentiert.
Im Jahr 2017 fand die Anschlussrechtsprechung des BGH zwar medial noch Erwähnung, wurde aber offenbar angesichts gefühlter neuer Bedrohungen eher als judikative Kraft des Faktischen akzeptiert. Für Juristen, dogmatisch betrachtet, nichtsdestotrotz ein Must-Know.
5/9: Von Polizei für Attentäter gehalten: Ab jetzt auch Schmerzensgeld für Aufopferung
Begegnet einem in der täglichen juristischen Praxis eher selten, könnte man aber sowohl im Staatsexamen als auch in der Kneipe brauchen: Nimmt der Staat im öffentlichen Interesse die Rechtsgüter von Bürgern über Gebühr in Anspruch, können diese neben Vermögensschäden jetzt auch Schmerzensgeldansprüche geltend machen. Das entschied der BGH im September (Urteil v. 07.09.2017, Az. III ZR 71/17) und gab damit seine bis dahin geltende Rechtsprechung auf.
Anlass dazu gaben hessische Polizeibeamte, die in einer Tankstelle einen Mann zu Boden gebracht und ihm Handschellen angelegt hatten, weil sie ihn für einen Attentäter hielten, der kurz zuvor in der Nähe Schüsse aus einem fahrenden Pkw auf ein Döner-Restaurant abgegeben hatte. Der Mann, der bei der Aktion eine Schulterverletzung erlitt, verlangte neben dem Ersatz des entstandenen Vermögensschadens auch ein Schmerzensgeld.
Zu Recht, entschied der für öffentlich-rechtliche Ersatzleistungen zuständige III. Zivilsenat. Von einem Willen des Gesetzgebers, die Ersatzpflicht bei Eingriffen in immaterielle Rechtsgüter grundsätzlich auf daraus folgende Vermögensschäden zu beschränken, könne nicht mehr ausgegangen werden, so die Karlsruher Richter. Diesen Grundsatz, der Grundlage der bisherigen, auf einem Urteil aus dem Jahr 1956 basierenden Rechtsprechung war, habe der Gesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002) verlassen. Infolge der Änderung des § 253 BGB habe sich der Schmerzensgeldanspruch ausgeweitet.
6/9: Mängelgewährleistung im Kaufrecht: Das ideale Pferd
Ist das Pferd das neue Auto? Nein, es geht nicht um den in 2017 alles beherrschenden Diesel-Skandal, sondern um die Weiterentwicklung des Kaufrechts. Auch der BGH hatte im Oktober über einen Fall zu entscheiden, der geeignet ist, die Augen des Zivilrechtlers zum Leuchten zu bringen.
Der Käufer hatte für 500.000 Euro einen zehnjährigen Hannoveraner Wallach erworben, um ihn bei Grand-Prix-Turnieren einzusetzen. Der Verkäufer, ein selbstständiger Reitlehrer und Pferdeausbilder, hatte das Tier selbst ausgebildet. Das Pferd wurde vor dem Vertragsschluss Probe geritten und tierärztlich in einer Klinik untersucht. Doch wenige Monate nach der Übergabe stellte ein Tierarzt einen Röntgenbefund zwischen zwei Halswirbeln fest. Hierauf führt der Käufer das Lahmen des Pferds und seine Widersetzlichkeit gegenüber Reitern zurück und trat vom Vertrag zurück.
Ob er zum Rücktritt berechtigt ist, hat der BGH noch nicht final entschieden, sondern die Sache zurückverwiesen (Urt. v. 18.10.2017, Az. VIII ZR 32/16). Aber einige Dinge haben die Bundesrichter schon klargestellt: Ein bloßer Befund ist noch kein Mangel, solange das Pferd klinisch unauffällig ist und sich zum Reiten eignet. Ebenso wenig gehört es, so der VIII. Zivilsenat, zur üblichen Beschaffenheit eines Tieres iSd § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGH), dass es in jeder Hinsicht einer biologischen oder physiologischen "Idealnorm" entspricht. Dass ein Tier in jeder Hinsicht der physiologischen Norm entspreche, könne ein Käufer nicht erwarten. Eine Normabweichung ist also nicht an sich ein Mangel – auch nicht bei einem Dressurpferd, das - trotz hohen Preises und seines vorgesehenen gewinnbringenden Einsatzes - doch ein Tier bleibt und kein genormtes Industrieprodukt.
Wunderbar in der mündlichen Prüfung abzuprüfen wäre übrigens eine weitere Frage, die der BGH – im Gegensatz zur Vorinstanz - verneint hat: Der Reitlehrer ist nach Ansicht der Karlsruher Richter kein Unternehmer iSv § 14 BGB, der "allenfalls äußerliche" Zusammenhang zwischen seiner beruflichen Tätigkeit als Reitlehrer und Pferdeausbilder einerseits und der Ausbildung und dem Verkauf des Pferds andererseits reichte dem Senat nicht aus, um eine selbständige berufliche Tätigkeit anzunehmen, die Voraussetzung einer Anwendbarkeit der Regelungen des Verbrauchsgüterkauf und damit auch der Vermutungsregel in § 476 BGB gewesen wäre.
7/9: Familie: Mehr Wechselmodell bei der Kinderbetreuung
Weniger juristisch, dazu aber umso mehr gesellschaftlich relevant war eine Entscheidung des BGH zum Familienrecht im Februar. Wer sein Kind nach der Trennung im gleichen Umfang betreuen will wie der Ex-Partner, kann diesen Wunsch künftig unter Umständen auch gegen dessen Willen durchsetzen. Nach dem Beschluss des BGH spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass Familiengerichte ein solches "Wechselmodell" anordnen, wenn das dem Kindeswohl am besten entspricht (Beschl. v. 01.02.2017, Az. XII ZB 601/15). Das kann zum Beispiel so aussehen, dass das Kind eine Woche bei der Mutter lebt und dann für die nächste Woche beim Vater einzieht.
Der BGH hat damit die bis dahin umstrittene Frage, ob die Gerichte die abwechselnde Betreuung auch dann anordnen dürfen, wenn die Eltern sich nicht einigen können, zugunsten des Wechselmodells beantwortet. Das Gesetz orientiere sich zwar am in Deutschland häufiger praktizierten Residenzmodell, bei dem das Kind hauptsächlich bei einem Elternteil lebt und den anderen Elternteil besucht, gebe damit aber kein Leitbild vor.
Die geteilte Betreuung durch beide Eltern müsse allerdings im Vergleich mit anderen Betreuungsmodellen dem Kindeswohl am besten entsprechen. Der Senat wies darauf hin, dass die Organisation höhere Anforderungen an alle Beteiligten stelle. Wenn die Ex-Partner stark zerstritten seien, dürfte das Modell deshalb in aller Regel nicht im Interesse des Kindes liegen.
Entscheidend ist dem Beschluss zufolge außerdem, wie das Kind selbst gerne leben möchte - je älter es sei, desto wichtiger würden seine Wünsche und Vorstellungen.
8/9: Richter: Wer zu langsam arbeitet, darf gerügt werden
Als Jurist - zumindest als in der Justiz tätiger - kam man um eine Entscheidung im Jahr 2017 kaum herum: Der BGH entschied über den Fall Schulte-Kellinghaus – und befand, dass ein Richter auch ermahnt werden darf, wenn er viel weniger Fälle erledigt als andere Richter (BGH, Beschl. v. 07.09.2017, Az. RiZ (R) 2/15 u.a.).
Unzulässig wäre es nur, wenn einem Richter ein Pensum abverlangt würde, das allgemein, also auch von anderen Richtern, nicht mehr "sachgerecht" erledigt werden kann. Dafür wiederum könne die durchschnittliche Arbeitsleistung aller Richter eines Gerichts zumindest ein Anhaltspunkt sein.
Verloren hat Schulte-Kellinghaus seinen Zug durch die Instanzen noch nicht, der BGH verwies zurück an den Dienstgerichtshof in Stuttgart. Der muss nun klären, ob die durchschnittlichen Erledigungszahlen zutreffend ermittelt worden sind oder ob es bei der Ermittlung – wie von Schulte-Kellinghaus bemängelt – methodische Mängel gegeben habe, etwa wegen einer unterschiedlichen Zählweise bei den verschiedenen Senaten.
An einer Verfassungsbeschwerde ist der streitbare Richter am OLG Karlsruhe damit bis auf Weiteres gehindert. Dabei geht er davon aus, dass sich das BVerfG zu seinem Fall anders verhalten könnte, als es der BGH getan hat.
9/9: Anwälte: Kostenlose Erstberatung zulässig
Auf ein ziemlich gemischtes Echo vor allem in der Anwaltschaft stieß eine Entscheidung des BGH, die im August bekannt wurde. Ein Rechtsanwalt, der seinen Mandanten eine kostenlose Erstberatung anbietet, verstößt nicht gegen die Grundsätze anwaltlichen Gebührenrechts, urteilte der Anwaltssenat (am 20.07.2017, Az. AnwZ (Brfg) 42/16).
Er gab damit einer Sozietät Recht, die mit einer kostenlosen Erstberatung nach Verkehrsunfällen geworben hatte. Die Argumentation der zuständigen Anwaltskammer, ein vollständiger Verzicht auf Gebühren für anwaltliche Leistungen sei wegen § 4 Abs. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz unzulässig, teilten die Bundesrichter nicht.
Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 RVG sei auf Gebührenvereinbarungen nach § 34 Abs. 1 Satz 1 RVG überhaupt nicht anwendbar, entschied der BGH. Zwar sollten Rechtsanwälte bei der Beratung in n außergerichtlichen Angelegenheiten auf eine Gebührenvereinbarung hinwirken, wenn keine Gebühren bestimmt sind, befanden auch die Richter. Wenn aber keine Vereinbarung getroffen wird, erhielten Rechtsanwälte Gebühren nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts, also in der Regel nach § 612 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch.
Da das RVG keine bestimmte Gebühr für die Erstberatung vorsehe, gebe es somit auch keine Mindestgebühr, die unter Verstoß des anwaltlichen Gebührenrechts unterschritten werden könne. außergerichtlichen Angelegenheiten auf eine Gebührenvereinbarung hinwirken, wenn keine Gebühren bestimmt sind, befanden auch die Richter.
Pia Lorenz, Sollte man kennen: Neun wichtige BGH-Entscheidungen aus 2017 . In: Legal Tribune Online, 22.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26171/ (abgerufen am: 11.12.2023 )
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