Markus Söder will Impfpflicht nicht vollziehen: Kann der Bund Söder zur Ver­fas­sungs­treue zwingen?

Gastbeitrag von Dr. Patrick Heinemann

08.02.2022

Der bayerische Ministerpräsident hat angekündigt, die Impfpflicht im Freistaat nicht zu vollziehen. Es geht nicht nur um eine Machtfrage, sondern um einen Verfassungskonflikt. Patrick Heinemann erklärt, welche Möglichkeiten der Bund hat.

Übereinstimmenden Medienberichten zufolge kündigte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder am vergangenen Dienstag in einer Videoschalte des CSU-Vorstands an, bei der ab dem 15. März greifenden einrichtungsbezogenen Impfpflicht "großzügigste Übergangsregelungen" für den Freistaat zu schaffen, was "de facto zunächst einmal auf ein Aussetzen des Vollzugs hinausläuft". Wenig später sekundierte der neue CDU-Vorsitzende Merz im Namen von Präsidium und Vorstand seiner Partei mit der Forderung, die Impfpflicht bundesweit auszusetzen.

Erstaunlicherweise verläuft die öffentliche Debatte, die damit angestoßen wurde, bisher weitgehend entlang der Frage, ob die einrichtungsbezogene Impfpflicht politisch überhaupt (noch) sinnvoll ist, etwa weil sie medizinisches oder pflegendes Personal verprellen könnte. Nun kann man hierzu mit guten Argumenten sicherlich diese oder jene Auffassung vertreten.  

Man darf auch seine politische Meinung nachträglich ändern – wie die Unionsparteien, die noch im Dezember im Bundestag für die entsprechende Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gestimmt hatten. Etwas anderes ist es aber, wenn die Regierung eines deutschen Landes ankündigt, ein Bundesgesetz nicht vollziehen zu wollen.

Verpflichtung der Länder zum Vollzug der Impfpflicht 

Die einrichtungsbezogene Impfpflicht hat der Bundesgesetzgeber unmittelbar in § 20a IfSG verankert. Danach müssen vor allem Personen, die in medizinischen und Pflegeeinrichtungen tätig sind, ab dem 15. März über einen Impf- oder Genesenennachweis verfügen. Der Vollzug dieser Regelung folgt dem in Art. 83 Grundgesetz (GG) festgelegten Grundsatz, wonach die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen. Denn die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist grundsätzlich Aufgabe der Länder (Art. 30 GG). 

Diese prinzipielle Aufgabenverteilung entspricht der gefestigten Tradition deutscher Bundesstaatlichkeit, sie war bereits in der Paulskirchenverfassung sowie der Bismarck’schen und der Weimarer Reichsverfassung (WRV) verankert. Art. 83 GG normiert dabei nicht bloß eine Berechtigung, sondern vor allem eine Pflicht der Gliedstaaten zum Vollzug der Bundesgesetze. Ihre Beachtung ist also nicht in das Belieben der Landesregierungen gestellt. 

Zwar regeln die Länder die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren, wenn sie Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG). Das schließt freilich nicht die Befugnis ein, das Verwaltungsverfahren so zu gestalten, dass der Vollzug faktisch leerläuft, wie es der bayerische Ministerpräsident nun angekündigt hat. Auch die Einräumung großzügiger "Übergangsfristen" im Verwaltungswege ist hiervon nicht gedeckt, zumal § 20a IfSG den betroffenen Personen mit dem Stichtag des 15. März schon ausreichend Zeit einräumt, sich um eine Impfung gegen COVID-19 zu kümmern. 

Konflikt mit zwei Staatsstrukturprinzipien 

Die ausdrückliche Weigerung einer Landesregierung, Bundesrecht zu vollziehen, legt deshalb die Axt an gleich zwei Strukturprinzipien der grundgesetzlichen Ordnung. Das betrifft zum einen die horizontale Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative: Vorbehalt und Vorrang des parlamentarischen Gesetzes ("rule of law") sind tragende Säulen des Rechtsstaatsprinzips, wonach die vollziehende Gewalt an das parlamentarische Gesetz gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG). 

Zum anderen gerät Söders Ansage in Konflikt mit der vertikalen Gewaltenteilung, die der deutsche Föderalismus verkörpert. Die Missachtung des Bundesrechts ist mit der aus dem GG folgenden Pflicht zur Bundestreue der Länder unvereinbar. Wie sehr politische Mehrebenensysteme auf diese Treue angewiesen sind, kann man aktuell auch an den Konflikten Polens und Ungarns mit dem Unionsrecht erkennen.

Rechtliche Möglichkeiten des Bundes 

Der Bund muss Söders Verfassungsaffront jedoch nicht tatenlos zusehen. Haben die Länder ein Bundesgesetz als eigene Angelegenheit auszuführen, übt der Bund über sie die Rechtsaufsicht aus (Art. 84 Abs. 3 Satz 1 GG). Hierzu kann die Bundesregierung Beauftragte zu den obersten Landesbehörden entsenden, mit Zustimmung der Landesregierung oder des Bundesrats auch zu nachgeordneten Behörden (Art. 84 Abs. 3 Satz 2 GG). 

Diese Beauftragten haben allerdings nach überwiegender Auffassung lediglich die Befugnis, Unterrichtung und Auskunft zu verlangen; bindende Anordnungen und Weisungen können sie dagegen nicht treffen. Stellt das Land die festgestellten Mängel nicht ab, so kann auf Antrag der Bundesregierung der Bundesrat beschließen, dass das Land das Recht verletzt hat (Art. 84 Abs. 4 Satz 1 GG). Gegen einen solchen Beschluss kann das Land wiederum das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anrufen (Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG). 

Alternativ kann die Bundesregierung selbst beim BVerfG nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG beantragen, eine Pflichtverletzung des jeweiligen Landes bei der Ausführung von Bundesrecht feststellen zu lassen. Doch was bleibt der Bundesregierung übrig, wenn das Land den Vollzug des Bundesgesetzes weiter verweigert oder – wie im Falle der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – ein langwieriges Verfahren in Karlsruhe eher unzweckmäßig erscheint?

Anwendung von "Bundeszwang"? 

Für diese Fälle steht das Institut des sogenannten Bundeszwangs zur Verfügung: Erfüllt ein Land die ihm nach dem GG oder einem anderen Bundesgesetz obliegenden Pflichten nicht, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die "notwendigen Maßnahmen" treffen, um das Land zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten (Art. 37 Abs. 1 GG). 

Hierzu kommt insbesondere die Einsetzung eines Beauftragten, eines "Bundeskommissars" in Betracht, der im betroffenen Land die Exekutivgewalt übernimmt. Zur Durchführung des Bundeszwanges hat die Bundesregierung oder ihr Beauftragter das Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und ihren Behörden (Art. 37 Abs. 2 GG). Die Anwendung des Bundeszwangs ist nach der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG keineswegs subsidiär gegenüber dem Mängelrügeverfahren nach Art. 84 Abs. 4 GG, sondern steht allein im pflichtgemäßen Ermessen des Bundes. 

"Reichsexekution" in der deutschen Geschichte 

Zwar hat unter der Geltung des GG bislang noch keine Bundesregierung zu diesem scharfen Schwert gegriffen. Es wäre gleichwohl nicht das erste Mal in der Geschichte des demokratisch verfassten Deutschlands, dass die Berliner Zentralgewalt gegen unbotmäßige Bayern einschreitet: Die blutige Niederschlagung der kommunistischen Münchner Räterepublik durch Reichswehrtruppen im April und Mai 1919 berief sich auf das damals noch als "Reichsexekution" bezeichnete Institut (Art. 48 Abs. 1 WRV); die damaligen Exzesse belasteten die noch junge Weimarer Republik mit einer schweren Hypothek. 

Auch der von Reichskanzler von Papen 1932 ausgeführte Preußenschlag galt offiziell als Reichsexekution. Er stärkte den Föderalismus freilich nicht, sondern bereitete der späteren "Gleichschaltung" der Länder unter den Nationalsozialisten den Weg. Diese Negativbeispiele zeigen, dass der Einsatz von Art. 37 GG politisch wohlbedacht sein will. Doch abusus non tollit usum: Richtig verstanden und angewandt kann der Bundeszwang ein probates Mittel sein, Föderalismus und Gesetzesherrschaft durchzusetzen, weshalb auch das GG dieses Mittel ausdrücklich vorsieht.

Dr. Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner bei Bender Harrer Krevet, Freiburg.

Zitiervorschlag

Markus Söder will Impfpflicht nicht vollziehen: Kann der Bund Söder zur Verfassungstreue zwingen? . In: Legal Tribune Online, 08.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47470/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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