Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger und Spiegel-Bericht: Hat sich Till Lin­de­mann nach den Aus­sagen der Frauen strafbar gemacht?

Gastbeitrag von Dr. Yves Georg

14.06.2023

Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Till Lindemann. Anhand der Schilderungen zweier Frauen im Spiegel untersucht Yves Georg, ob sich der Rammstein-Sänger strafbar gemacht haben könnte und welche Beweisprobleme sich stellen.

Am Abend bestätigt die Staatsanwaltschaft Berlin gegenüber LTO Ermittlungen gegen Till Lindemann: Aufgrund mehrerer Strafanzeigen Dritter, also nicht am etwaigen Tatgeschehen beteiligter Personen, sowie von Amts wegen sei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Es gehe um Tatvorwürfe aus dem Bereich der Sexualdelikte und der Abgabe von Betäubungsmitteln. Was droht dem Rammstein-Sänger nun?

Die wohl bislang heftigsten Vorwürfe gegenüber Lindemann waren in der Spiegel-Titelstory vom Wochenende zu lesen. Die dortigen Aussagen der Frauen eignen sich daher besonders gut, um die strafrechtliche Relevanz der Vorwürfe gegenüber Till Lindemann zu beleuchten und Beweisproblematiken und Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen.

Der Bericht "Zoes" im Spiegel

"Zoe" berichtet im Wesentlichen, sie sei nach "[z]weieinhalb Bier" und "eine[m] oder zwei Shots harten Alkohol, den sie von ihrer Freundin aus einer wohl frisch geöffneten Flasche bekommen habe", "[i]rgendwie" von einer After-Show-Party in Lindemanns Hotel gefahren und habe ihm dort, obwohl sie "‚nicht mal in sein Gesicht schauen wollte‘", "einen Blowjob gegeben". Auf Lindemanns Angebot, die Nacht mit ihm zu verbringen, habe sie ihm von krankheitsbedingten Schmerzen beim Sex berichtet. Gleichwohl sei es später dazu gekommen. "Lindemann habe zweimal gefragt, ob das okay sei." Ihre Erinnerungen seien verschwommen und enthielten "brutale Szenen" und "zusammenhangslose Momentaufnahmen", darunter ein "Benutzen" ihres Gesichts, ein Würgen und "wie sie auf ihm gesessen habe und umgefallen sei, weil sie sich nicht habe halten können" – ohne dass Anhaltspunkte für den Grund der Amnesie berichtet würden. Warum sie sich in diese Situation begeben habe, könne sie selbst nicht recht sagen. Ein dynamisches Geschehen, eine "sexualisierte Atmosphäre" und das mit dem Ausgesuchtwerden einhergehende Gefühl von Anerkennung sollen mitursächlich gewesen sein. "Irgendwie habe sie das alles kaum glauben können, und zugleich habe sich alles normal angefühlt."

Ungeachtet dessen sei sie ihrer Erinnerung nach auch am nächsten Tag "offenbar" noch stundenlang mit Lindemann und "vermeintlich" auch mit anderen Personen in dessen Hotelzimmer geblieben und habe abermals Sex mit ihm gehabt. Auf Ihre Bemerkung, "irgendetwas stimme nicht", habe er erwidert, fast fertig zu sein, und weitergemacht. Sie habe stark geblutet, auch in den Tagen darauf noch. Danach hätten sich beide weiterhin geschrieben und sie habe ihn wiedertreffen wollen. Freundinnen und Freunden habe sie von dem "guten" Sex berichtet, angesichts deren Reaktion auf ihren Bericht von der Blutung aber "gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Was genau, darüber rätselt sie immer noch." Und dann der zentrale Satz: "Wenn man sie fragt, ob sie die Nacht im Hotel als einvernehmlich empfindet, sagt sie: ‚Ich weiß es nicht.‘ Sie will nicht behaupten, dass es nicht einvernehmlich gewesen sei."

Strafrechtliche Beurteilung bei Wahrunterstellung

Eine LTO-Anfrage zu den Vorwürfen im Spiegel ließen die Anwälte von Till Lindemann unbeantwortet. Allgemein bezeichneten sie in einer Pressemitteilung letzter Woche die Vorwürfe im Hinblick auf den Einsatz von K.O.-Tropfen und Alkohol zur Ermöglichung sexueller Handlungen als "ausnahmslos unwahr".

Wie wäre das Geschehen, unterstellt, die Schilderungen von "Zoe" träfen zu, strafrechtlich zu bewerten? Welche Fragen stellen sich für Ermittler und welche Fragen hätten ergebnisoffen recherchierende Journalistinnen und Journalisten den Frauen noch stellen müssen?

Der "Blowjob" wird von "Zoe" als einvernehmlich geschildert und ist deshalb strafrechtlich ohne Belang. Jedenfalls anfangs ebenso strafrechtlich irrelevant ist der darauffolgende Sex (gemeint wohl: Vaginalverkehr), vor dem Lindemann zweimal gefragt habe, "ob das okay sei". Von strafrechtlichem Gehalt könnte es allenfalls sein, dass Lindemann beim Sex am Folgetag auf "Zoes" Bemerkung, "irgendetwas stimme nicht", unter der Erwiderung, fast fertig zu sein, weitergemacht haben soll: Dass die die bloß deskriptive Mitteilung, "irgendetwas stimme nicht", als voluntativ-normative Äußerung eines weiteren sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willens gemeint und verstehbar ist, drängt sich nicht auf, hängt aber von den Umständen des Einzelfalls ab.

Unterstellt, die Äußerung wäre als solche erkennbar gewesen und von Lindemann erkannt worden, würde das weitere Durchführen des Verkehrs den Tatbestand des sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB und grundsätzlich auch das Regelbeispiel der Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB erfüllen. Dies führte zu einer Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren bis 15 Jahren.

Fehlende Aussagetüchtigkeit hinsichtlich der "brutale[n] Szenen"

Die Schilderungen "brutale[r] Szenen" am Vorabend gestatten hingegen keine rechtliche Beurteilung des Geschilderten: "Zoe" teilt schon nicht mit, ob insbesondere ein etwaiges "Benutzen" ihres Gesichts und Würgen einvernehmlich geschehen sind oder zumindest sein können. An Angaben hierzu fehlt es ersichtlich deshalb, weil sie es selbst nicht (mehr) weiß, vielmehr nur (noch) auf verschwommene Erinnerungen und "zusammenhangslose Momentaufnahmen" zugreifen kann. Das führt zum eigentlichen Problem: "Zoe" ist offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage (gewesen), Vorgänge der Außenwelt (und ihrer Innenwelt) zutreffend wahrzunehmen, abzuspeichern, später abzurufen und wiederzugeben. In den Worten der Rechtspsychologie fehlt ihr die sog. Aussagetüchtigkeit.

Auf die Aussage einer nicht aussagetüchtigen Person könnte grundsätzlich keine strafrechtliche Verurteilung gestützt werden. Und Lindemann selbst wäre strafverfahrensrechtlich schweigeberechtigt. Tauglichere Anhaltspunkte zur Aufklärung des Sachverhalts könnten sich womöglich aus der Ermittlung und Vernehmung der weiteren am Folgetag "vermeintlich" anwesenden Personen ergeben. Nicht fern liegt allerdings, dass ihnen, könnten sie überhaupt ermittelt werden, im Hinblick auf den auch nur möglicherweise strafrechtlichen Gehalt des Geschehenen ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO zustünde.

Offene Fragen

Unabhängig hiervon werfen die Schilderungen eine Vielzahl von Fragen auf, deren strafprozessuale Klärung in einer Weise, die sowohl Lindemann als auch "Zoe" gerecht würde, höchst unwahrscheinlich wäre:

Wie hat Lindemann reagiert, als "Zoe" ihm auf sein Angebot, die Nacht mit ihm zu verbringen, von krankheitsbedingten Schmerzen beim Sex berichtet habe? Schon diese Frage ist elementar: Dass ein "Stell Dich doch nicht so an." einen völlig anderen Indizcharakter hätte als ein "Ich bin auch ganz vorsichtig." oder ein "Oh, dann lassen wir es wohl besser.", versteht sich von selbst. Was könnte Grund der Amnesie sein, wenn es für die Möglichkeit der Verabreichung von "K.O.-Tropfen" keine Anhaltspunkte gibt ("wohl frisch geöffnet")? Warum findet "Zoe" Anerkennung darin, von einem Mann ausgesucht zu werden, dem sie "nicht mal in sein Gesicht schauen wollte"? Weshalb führt sie den Oralverkehr bei einem solchen Mann durch? Warum zweifelt sie im Nachhinein die Einvernehmlichkeit an, wenn sie (1) vor dem "Blowjob" noch keine Amnesie hatte, (2) vor dem Sex von Lindemann "zweimal gefragt [wurde], ob das okay sei", (3) auch am Folgetag, ohne Amnesie, noch "stundenlang" im Hotelzimmer blieb und abermals Sex mit ihm hatte und (4) ihn wiedertreffen wollte. Und vor allem: War das "irgendwas stimmte nicht" als Äußerung eines entgegenstehenden Willens gemeint und erkennbar und wurde es von Lindemann als solche verstanden?

Erlaubt sei die Frage, ob nicht schon der ein oder andere der 13 (!) an dem Artikel beteiligten Spiegel-Journalisten diese Fragen hätte stellen, jedenfalls aber in dem Artikel aufgreifen sollen. Stellen wenigstens Verfahrensbeteiligte eines Strafprozesses solche Fragen, liegt das jedenfalls nicht daran, "dass den Frauen ohnehin nicht geglaubt wird", sondern es erfüllt die Mindestanforderungen rechtsstaatlicher Strafverfahren: Sind Schilderungen eines möglichen Opfers widersprüchlich und seine Verhaltensweisen normalpsychologisch schwer zu erklären, bedarf es einer intensivster Prüfung, um jemanden auf Grundlage einer durch sonst nichts belegten Aussage für Jahre einzusperren und aus der Gemeinschaft auszuschließen.

Aussageentstehung

Über allem steht ein weiteres Problem: In der Praxis kommt es gar nicht selten vor, dass einvernehmlicher Sexualverkehr erst nach intensiven Gesprächen mit Dritten angesichts deren Reaktionen und der damit verbundenen kommunikativen Dynamik im Rückblick anders gedeutet werden. Auch kognitionspsychologisch sind solche im Bereich der Erinnerungsverfälschung liegende Phänomene untersucht. Ihre Ursache können sie etwa in einem Zusammentreffen verfehlter Rollenerwartungen, nicht erfülltem Selbstbild und von Verarbeitungsschwierigkeiten haben. Sie mit der für eine Verurteilung hinreichenden Sicherheit auszuschließen, kann im Einzelfall schwer sein, besonders dann, wenn schon der einvernehmliche Verkehr sehr dominant verlief.

Der Bericht "Annas" im Spiegel

"Anna", die zweite in dem Spiegel-Artikel hervorgehobene Frau, berichtet im Wesentlichen, sie sei auf einer After-Show-Party eingeladen worden, Lindemann zu treffen. Obwohl ihr "bewusst gewesen [sei], dass es eine 'sexuelle Komponente' gegeben habe", sei sie mitgekommen, weil sie mit nicht damit gerechnet habe, "dass dort etwas gegen ihren Willen passieren könne". In Lindemanns Hotel habe sie gemeinsam mit anderen Frauen "Wodka bekommen", woraufhin ihre Erinnerung "lückenhaft zu werden [beginne]". Sie wisse noch, dass sie neben Lindemann gesessen habe, mit ihm und einem anderen Mann Fahrstuhl gefahren und in ein Hotelzimmer gekommen sei.

"Sie erinnere sich noch, dass sie aufgewacht sei – und Lindemann auf ihr gelegen habe. ‚Als er gemerkt hat, dass ich aufgewacht bin, hat er gefragt, ob er aufhören soll‘ [...] ‚ich wusste aber nicht mal, womit er aufhören soll.‘ Was zwischen Lindemann und ihr genau passiert ist, kann sie nicht sagen. Später sei sie neben einem Mitarbeiter Lindemanns aufgewacht." Auch "Anna" will zunächst Freundinnen berichtet haben, mit Lindemann sei es "nett" gewesen, und "sogar wieder zum Konzert gegangen" sein. Monate später habe sie aber realisiert, "dass man in ihrem Zustand wohl kaum zu Sex habe einwilligen können".

Strafrechtliche Beurteilung bei Wahrunterstellung

Wie wäre dieses Geschehen bei Wahrunterstellung strafrechtlich zu bewerten?

Lindemann soll nur "auf ihr gelegen habe[n]" – und (wohl) nicht etwa auch "Petting" oder gar den Geschlechtsverkehr mit ihr durchgeführt haben –, als Anna aufgewacht sei. Es kommt deshalb auf die Umstände des Einzelfalls (etwa Liegeposition, Körperhaltung, Bewegungsablauf und Bekleidungszustand) an, ob (schon) eine "sexuelle Handlung" i.S.d. § 184h Nr. 1 StGB – und damit ein sexueller Übergriff nach § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB (sechs Monate bis fünf Jahre Freiheitsstrafe) – oder (noch) eine körperliche Berührung in sexuell bestimmter Weise – und damit eine sexuelle Belästigung nach § 184i Abs. 1 StGB (Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe; relatives Antragsdelikt) vorliegen kann. Beides wäre freilich ausgeschlossen, sollte "Anna" im noch willensbildungs- und -äußerungsfähigen Zustand ein generelles Einverständnis für womöglich noch Kommendes im Sinne eines "Du kannst alles mit mir machen" geäußert haben.

Fehlende Aussagetüchtigkeit

Das führt zu ähnlichen Problemen wie bei "Zoe": Auch "Anna" ist, aus welchen Gründen auch immer (zu viel Alkohol?), nicht aussagetüchtig, und Lindemann wäre zu Angaben nicht verpflichtet. Der weitere Mann im Fahrstuhl und der Mitarbeiter, neben dem "Anna" später aufgewacht sei, mögen ein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO haben. Gerade solche Beweislagen machen die Aufklärung von Sachverhalten, in denen eine Strafbarkeit nach § 177 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB in Betracht kommt, so strukturell schwierig.

Ermittlungsverfahren gegen Lindemann

Dass der "Fall Lindemann" nun auch ein solcher für die Strafverfolgungsbehörden geworden ist, konnte gleichwohl kaum zweifelhaft sein: Die Schilderungen jedenfalls durch eine Mehrzahl von Frauen lässt es – insbesondere was "Zoe" und "Anna" angeht und trotz deren Anonymität und des Zeugnisverweigerungsrechts der Spiegel-Journalisten (§ 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO) – aus kriminalistischer Sicht zumindest als möglich erscheinen, dass Sexualstraftaten gemäß §§ 177 Abs. 2, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 (sexueller Übergriff / Vergewaltigung) oder § 184i (sexuelle Belästigung) StGB begangen wurden – und begründet damit einen Anfangsverdacht. Dieser zwingt die Strafverfolgungsbehörden nach dem in § 152 Abs. 2 StGB normierten Legalitätsgrundsatz dazu, (selbstverständlich ergebnisoffene) Ermittlungen aufzunehmen.

Abschließende Überlegungen

Auch nach der Konkretisierung bisher bloß im Diffusen bleibender Vorwürfe gegen Lindemann durch die Spiegel-Recherchen gilt weiterhin: "Nichts Genaueres weiß man nicht." Das hält aber etwa Geschäftspartner von Lindemann nicht von Konsequenzen ab. Dabei kann vor allem die Kündigung von Verträgen, wie es im Fall Lindemann etwa Kiepenheuer & Witsch, GGPoker und Rossmann getan haben, nicht damit begründet werden, dass man das hoch Streitbare des Rammstein-Frontmanns erst jetzt wirklich erkannt habe. Denn bekanntlich finden sich in einer Vielzahl von Texten aus Lindemanns Feder Motive von Vergewaltigung, Missbrauch und Inzest. Die – noch völlig unaufgeklärten – Vorwürfe müssen also ausschlaggebend gewesen sein.

Daran wird deutlich, dass die Unschuldsvermutung sowohl bei vielen Medien als auch Geschäftspartnern von Lindemann keine hinreichende Beachtung findet.  

Dr. Yves GeorgDr. Yves Georg ist Strafverteidiger und Partner der Kanzlei Schwenn Kruse Georg Rechtsanwälte in Hamburg.

 

 

 

 

Zitiervorschlag

Ermittlungen gegen Rammstein-Sänger und Spiegel-Bericht: Hat sich Till Lindemann nach den Aussagen der Frauen strafbar gemacht? . In: Legal Tribune Online, 14.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51995/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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