Strafzumessung: In der Dun­kel­kammer

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller

01.09.2017

2/2: Das harte Urteil aus Hamburg

Erste Verunsicherung entsteht, wenn man regionale Unterschiede bemerkt: In einigen Bundesländern bzw. Gerichtsbezirken wird deutlich härter geurteilt als in anderen. Zusammen mit den ebenfalls unterschiedlichen Einstellungsquoten der Staatsanwaltschaften ergibt sich auf Grundlage des bundesweit geltenden Straf- und Strafprozessrechts eine mitunter stark differierende Praxis. Und auch tatsächliche Ereignisse oder rechtspolitische Forderungen können sich in der Strafzumessung niederschlagen.

Aktuell wird über die Verurteilung eines 21-jährigen nicht vorbestraften Niederländers diskutiert, der bei den Demonstrationen gegen den G20-Gipfel Flaschen auf Polizeibeamte geworfen haben soll. Verletzt wurde dabei niemand. Der Strafrichter verurteilte den Mann zu 2 Jahren und 7 Monaten Freiheitsstrafe.

Diese Strafe liegt durchaus im Rahmen der für die betreffenden Tatbestände (§§ 113, 114, 125, 125a StGB) angedrohten Strafen. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig und wird möglicherweise in der Berufungsinstanz anders ausfallen. Aber im Vergleich zu früheren Urteilen bei ähnlichen Vorwürfen und im Vergleich selbst zur Forderung der Staatsanwaltschaft, die 21 Monate ohne Strafaussetzung zur Bewährung beantragt hatte, erscheint sie als sehr hart.

Selbstverständlich finden sich auch für dieses harte Urteil Begründungen im geltenden Recht. Und hat nicht erst jüngst der BGH die Bedeutung der Generalprävention (vulgo: Abschreckung) bei der Strafzumessung hervorgehoben? Wurde nicht erst vor kurzem mit der Anhebung der Mindeststrafe in § 114 StGB eine härtere Sanktionierung tätlicher Angriffe auf Polizeibeamte gesetzlich angeordnet, worauf sich schließlich nach Angaben des Stern auch der Amtsrichter in seiner Begründung bezog?

Und ein ganz anderes aus Dresden

Quasi am anderen Ende der Skala, und zwar auch unabhängig vom politischen Hintergrund der jeweiligen Demonstration, ist ein aktuelles und schon rechtskräftiges Urteil des AG Dresden zu nennen: Ein alkoholisierter Teilnehmer einer Pegida-Demonstration hatte einem Kameramann des russischen Fernsehens mit einem gezielten Faustschlag einen Schädelknochen gebrochen.

Laut Bericht der Sächsischen Zeitung war er bereits neunmal wegen Straftaten aus Anlass von Fußballspielen vorbestraft und beging die Tat innerhalb einer Bewährungszeit. Nach Geständnis der Tat wurde er zu einer Geldstrafe von knapp 5.000 Euro verurteilt. Auch wenn die Tagessatzanzahl nicht bekannt ist: Es scheint mir ein geradezu eklatant mildes Urteil zu sein.

Der Richter am AG Hamburg, der über den Fall des Niederländers entschieden hat, hat in seiner mündlichen Urteilsbegründung nach Angaben von Stern betont, dass er sich nicht vom öffentlichen Druck und den Forderungen von Politikern aller Couleur nach den Krawallen in Hamburg habe beeinflussen lassen. Ohne Zweifel aber sendet sein Urteil eine Botschaft: Auf die Ausschreitungen bei den G20-Protesten muss jetzt hart reagiert werden, um künftige Demonstrationsteilnehmer von Gewaltakten und Widerstandshandlungen gegen Polizisten abzuschrecken.

Die Botschaft des Dresdner Urteils lautet hingegen: Die Gesellschaft hat ein gewisses Verständnis dafür, dass 'besorgte Bürger' unter Alkoholeinfluss ihren Frust gewaltsam an Medienvertretern auslassen. Und Straftaten kann der Staat auch beim zehnten Mal noch tolerieren, solange der Täter den Vorwurf einräumt.

Eigentlich erschreckend

Hier geht es nicht darum, dass die Urteile rechtlich fehlerhaft sind. Es geht darum, dass es für diese Beurteilung schon an zuverlässigen Kriterien fehlt. In beiden Fällen wären wohl auch Freiheitsstrafen von 15, 18 oder 22 Monaten mit und ohne Strafaussetzung zur Bewährung ohne weiteres mit dem geltenden Recht in Einklang zu bringen und hätten wohl wenig Aufsehen erregt.

Zur Begründung der gefundenen Strafe können Gerichte eine Vielzahl von unbestimmten Rechtsbegriffen und subjektiven wie objektiven Erwägungen in relativ großen Spielräumen miteinander abwägen. Auch die Zwecke und Ziele, die sie mit der Strafe verfolgen, etwa Vergeltung, Generalprävention oder Spezialprävention, können ziemlich beliebig kombiniert werden. Es gibt keine Regeln, die bei vergleichbaren Voraussetzungen notwendig zu ähnlichen Strafen führen, und bei jeder Straftat lassen sich weit auseinanderfallende Strafen gesetzeskonform begründen.

Dass die Strafe zur Tatschwere bzw. Tatschuld proportional sein soll, also schwerere Schuld auch schwerere Strafen nach sich ziehen soll, dem kann jeder zustimmen. Aber was genau ist die "Schwere" eines Delikts oder die "Schwere der Schuld"? Wie lassen sich etwa mittelschwerer Diebstahl, leichte Körperverletzung und Betäubungsmittelbesitz zueinander in Bezug setzen? Und wie ist es mit Landfriedensbruch und häuslicher Gewalt?

Wird ein Verurteilter ein paar Monate mehr oder weniger seiner Freiheit beraubt? Wird seine Freiheitsstrafe überhaupt in einer JVA vollstreckt? Genügt vielleicht sogar eine Geldstrafe? Das sind Fragen, die sich derzeit weder mit dem Blick ins Gesetz noch in die Rechtsprechung oder Kommentarliteratur einigermaßen zuverlässig beantworten lassen. Und das ist eigentlich erschreckend.

Der Autor Prof. Dr. Henning Ernst Müller ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg.

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Prof. Dr. Henning Ernst Müller , Strafzumessung: In der Dunkelkammer . In: Legal Tribune Online, 01.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24279/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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