Die EU-Verbandsklage kommt: Stär­kung der Kla­ge­in­du­s­trie in Europa?

Gastbeitrag von Claus Thiery und Sandra Renschke

09.12.2020

Verbraucher in der EU können künftig im Rahmen der EU-Verbandsklage ihre Kräfte bündeln und gegen Unternehmen klagen. Wie dies möglich sein wird und auf was sich Unternehmen einstellen müssen, erläutern Claus Thiery und Sandra Renschke.

Überraschend kam die Nachricht aus Brüssel über die Verabschiedung der "Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher", kurz Verbandsklagerichtlinie, vergangene Woche nicht. Bereits im Juni hatten sich EU-Parlament und Rat auf die Richtlinie geeinigt. Der jetzige Parlamentsbeschluss hat diese Einigung jetzt final bestätigt. Die 27 Mitgliedsstaaten haben nun zwei Jahre Zeit, die Verbandsklagerichtlinie in nationales Recht umzusetzen, und weitere sechs Monate, um die neuen Regeln anzuwenden. Verbraucher können von den neuen Regelungen somit spätestens Mitte 2023 profitieren.

Unternehmen, die Geschäfte mit Verbrauchern machen, sollten sich bis dahin auf die neue Klagemöglichkeit vorbereiten. Denn eines steht fest: es ist nicht die Frage, ob die EU-Verbandsklage sie trifft, sondern wann.

Schutz des Verbrauchers vor Massenschadensereignissen   

Hintergrund der Einführung der EU-Verbandsklage ist das Ziel, Verbraucher vor Massenschadensereignissen – der sog. VW-Dieselskandal wäre ein aktuelles Anwendungsbeispiel – besser zu schützen. Dem zugrunde liegt das Bild eines Verbrauchers, der "Opfer" rechtswidriger Geschäftspraktiken wird und sich dagegen als Einzelner nicht effektiv zur Wehr setzen kann. Die neue Verbandsklage als kollektive Klageform soll Verbrauchern daher den Zugang zur Justiz erleichtern und zu mehr Waffengleichheit führen. Hierzu eröffnet die EU-Verbandsklage sehr weitgehende Möglichkeiten des Rechtsschutzes.

Verbraucher können von Unternehmen nicht nur Unterlassung eines Verstoßes, sondern auch "Abhilfe", also konkrete Leistungen, verlangen. Als Leistungen kommen Schadensersatz, aber auch Reparatur, Ersatzleistung, Preisminderung, Vertragsauflösung oder Erstattung des gezahlten Preises in Betracht. Anders als in den USA wird es jedoch nicht möglich sein, Unternehmen auf Zahlung von Strafschadensersatz (punitive damages) – also zur Zahlung einer Strafe über den eigentlich erlittenen Schaden hinaus – zu verklagen.

Wichtig ist auch, dass die neue Klageform nur Verbrauchern und nicht Unternehmern offensteht. Die Abgrenzung richtet sich nach dem Zweck der betroffenen Tätigkeit. Zudem muss die Verletzung von Verbraucherschutzrecht im Raum stehen. Insoweit sind insbesondere die Bereiche Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, Datenschutz und der Flug- und Bahnverkehr erfasst. Damit könnte zukünftig eine EU-Verbandsklage z.B. bei Verstößen gegen Flug- oder Zuggastrechte (nicht aber bei Geschäftsreisen) oder bei unrechtmäßigen Erhöhungen von Bankgebühren oder Strompreisen initiiert werden.

Klage wider Willen? 

Klagebefugt ist nicht wie bei der amerikanischen Class Action eine Class of Consumers, sondern eine sogenannte Qualifizierte Einrichtung, die stellvertretend für alle betroffenen Verbraucher den Prozess führt. Dies können Verbraucherschutzverbände sein, aber auch öffentliche Einrichtungen.

Die Verlagerung der Klagebefugnis weg von den betroffenen Verbrauchern auf eine dritte Institution führt dazu, dass betroffene Verbraucher die Herrschaft über den Prozess verlieren. Stattdessen sind es die Qualifizierten Einrichtungen, die maßgeblichen Einfluss auf den Prozess haben:

Sie entscheiden darüber, eine EU-Verbandsklage zu initiieren oder nicht. Ein Mandat der betroffenen Verbraucher ist hierfür nicht zwingend erforderlich. Während bei Klagen auf Unterlassung ein Verbrauchermandat von vornherein nicht erforderlich ist, können sich die Mitgliedsstaaten bei Klagen auf Abhilfe für ein sogenanntes opt in- oder opt out- Modell entscheiden. 

Im ersten Fall müssen Verbraucher ausdrücklich zustimmen (opt in), dass die klagende Qualifizierte Einrichtung sie repräsentiert. Im zweiten Fall muss ein Verbraucher widersprechen (opt out) – ähnlich wie bei der amerikanischen Class Action –, wenn er in der Klage nicht repräsentiert sein möchte.

Konkurrenz um den verbraucherfreundlichsten Mitgliedstaat?

Zum anderen entscheiden die Qualifizierte Einrichtungen auch darüber, wo sie klagen. 

Sie sind nicht auf den Mitgliedsstaat, der sie als Qualifizierte Einrichtung zugelassen hat, beschränkt. Sie können auch grenzüberschreitend klagen, vorausgesetzt der andere Mitgliedsstaat ist für die Klage zuständig. Und die Verbandsklagerichtlinie eröffnet hier weitgehende Spielräume. 

Qualifizierte Einrichtungen können z.B. in dem Mitgliedsstaat klagen, wo das beklagte Unternehmen seinen Sitz hat, aber auch dort, wo das Unternehmen (nur) eine Niederlassung besitzt. Alternativ kann eine EU-Verbandsklage auch in dem Mitgliedsstaat erhoben werden, in dem ein betroffener Verbraucher seinen Wohnsitz hat. Letzteres gilt auch dann, wenn das beklagte Unternehmen keinen Sitz in der EU hat, sondern in einem Drittstaat ansässig ist.

Die Vielzahl an möglichen Gerichtsständen in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten wird Qualifizierte Einrichtungen dazu veranlassen, forum shopping zu betreiben. Mutmaßlich wird die Entscheidung des Klageorts auf denjenigen Mitgliedsstaat fallen, der die Verbandsklagerichtlinie am verbraucherfreundlichsten umsetzt.

Könnte dies wiederum Mitgliedsstaaten dazu verleiten, die Verbandsklagerichtlinie besonders verbraucherfreundlich umzusetzen, um dadurch den eigenen Rechtsstandort zu stärken? Und selbst wenn dies der Fall wäre, bietet die Verbandsklagerichtlinie, dann ausreichend Schutz für beklagte Unternehmen vor einer missbräuchlichen Nutzung? 

Schutz vor Klagemissbrauch?

Die Frage ist angesichts der den Qualifizierten Einrichtungen zukommenden Bedeutung und der weitreichenden Klageziele gerechtfertigt. 

Man stelle sich nur vor, dass ein Wettbewerber des beklagten Unternehmens eine Qualifizierte Einrichtung finanziell unterstützt und sich dadurch Vorteile verspricht. Dies wäre jedenfalls bei Unterlassungsklagen ein denkbares Szenario. Bei Klagen auf Abhilfe ist die Finanzierung durch Dritte auch möglich, aber mit Einschränkungen. Insbesondere darf bei Abhilfeklagen der Financier nicht Wettbewerber des beklagten Unternehmens sein. Doch auch unabhängig davon, dürfte allein die Möglichkeit der Drittfinanzierung ein Einfallstor für gewerblich agierende Prozessfinanzierer sein, was die Klageindustrie in Europa "stärken" dürfte.

Kritisch zu sehen ist auch, dass bei innerstaatlichen Verbandsklagen die Verbandsklagerichtlinie keine Kriterien vorschreibt, die Qualifizierte Einrichtungen erfüllen müssen. Immerhin bei den grenzüberschreitenden Verbandsklagen sind solche Kriterien festgelegt, wie z.B. die Verfolgung keines Erwerbszwecks, eine gewisse Beständigkeit und die Unabhängigkeit von Dritten. Ob diese Kriterien effektiven Schutz bieten, wird maßgeblich davon abhängen, wie gewissenhaft und regelmäßig deren Einhaltung überprüft wird.

 Auch das "Verlierer-zahlt-Prinzip" dürfte kaum davor abschrecken, Unternehmen mit (unbegründeten) Klagen zu überziehen. Die Regelung gilt schon nicht für Unterlassungsklagen. Zudem können Mitgliedsstaaten für Qualifizierte Einrichtungen begrenzte Gerichtsgebühren vorsehen oder Prozesskostenhilfe ermöglichen. Verbraucher sind an den Prozesskosten einer Verbandsklage nicht beteiligt. Von ihnen kann allenfalls eine "moderate Beitrittsgebühr" verlangt werden.

Wirklich effektive Schutzmechanismen vor Missbrauch hätten daher anders aussehen müssen. Hat sich Deutschland – de lege lata noch auf dem Stand der Musterfeststellungsklage – womöglich deswegen der Zustimmung zu der Richtlinie enthalten? 

Insgesamt ist damit zu rechnen, dass die EU-Verbandsklage die Klageindustrie, die aktuell bereits durch Legal-Tech-Unternehmen zunehmend an Bedeutung gewinnt, zu Lasten der betroffenen Unternehmen weiter "stärkt". Viel wird davon abhängen, wie die Mitgliedsstaaten die Verbandsklagerichtlinie umsetzen werden. Hierbei können sie sich auch für ein höheres Schutzniveau entscheiden. Ein europäischer Flickenteppich ist vorprogrammiert. 

Claus Thiery ist Partner und Rechtsanwalt, Sandra Renschke ist Senior Associate und Rechtsanwältin im Münchener Büro von CMS Deutschland. 

 

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

Die EU-Verbandsklage kommt: Stärkung der Klageindustrie in Europa? . In: Legal Tribune Online, 09.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43679/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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