Der 200-Milliarden-"Doppel-Wumms"-Abwehrschirm: Ende der Schul­den­b­remse oder dia­lek­ti­sche Finanz­po­litik?

von Dr. Christian Rath

03.10.2022

Die Bundesregierung will mit einem "Doppel-Wumms"-Abwehrschirm 200 Mrd. Euro neue Schulden aufnehmen - an der Schuldenbremse vorbei. Verfassungsrechtlich ist dies möglich und haushaltspolitisch ist es klug, analysiert Christian Rath.

Es ist ein makabres Bild, das der Abgeordnete Christian Leye (Linke) am Freitag im Bundestag skizzierte: Es geht um die "Beerdigung" der Schuldenbremse. "Die Trauergäste sind auf dem Weg nach Hause, nur Christian Lindner steht noch an ihrem Grabe und versucht, sich mit ihr für 2023 zu verabreden. Tragisch ist das. Herr Lindner, nehmen Sie Abschied!"

Aber ist es wirklich schon so weit? Ist die Schuldenbremse faktisch tot - und es wird nur noch nicht zugegeben? Oder sind die jüngsten Pläne für einen "Doppel-Wumms"-Abwehrschirm eher ein geschicktes und rechtlich zulässiges Manöver, die Schuldenbremse zu retten und sich gleichzeitig günstige Kredite zu verschaffen? 

Der "Doppel-Wumms"

Am Donnerstag stellten Kanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) ihre Pläne für einen "Abwehrschirm gegen die Folgen des russischen Angriffskrieges" vor. Kanzler Scholz gab ihm den griffigen Namen "Doppel-Wumms", weil die bisherigen Energiepreis- und Inflations-Entlastungspakete zusammen einen Umfang von rund 95 Mrd. Euro haben sollen und der Abwehrschirm mit dem doppelten Umfang - bis zu 200 Mrd. Euro - angekündigt wurde. 

Der Abwehrschirm ist zunächst ein gigantischer Nebenhaushalt, der über Schuldenaufnahme mit bis zu 200 Mrd. Euro gefüllt wird. Administrativ ist es kein völlig neuer Nebenhaushalt. Vielmehr wird als Instrument der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) genutzt, der bereits 2008 im Zuge der Bankenrettung mit 500 Mrd. Euro befüllt war und ab 2020 während der Coronakrise mit bis zu 600 Mrd. Euro. Seine Aktivität war bis zum 30. Juni 2022 befristet. Er wird nun reaktiviert.

Gesetzliche Grundlage ist das Stabilisierungsfondsgesetz von 2008, das immer wieder angepasst, also geändert wurde, zuletzt im Dezember 2021. Auch für den Abwehrschirm muss das Gesetz geändert werden. Die Bundesregierung kann die vorgestellten Pläne also nicht ohne den Bundestag umsetzen. Es genügt hier allerdings ein einfaches Gesetz. 

Was finanziert der Abwehrschirm?

Mit diesen bis zu 200 Mrd. Euro sollen folgende Maßnahmen finanziert werden: eine Strompreisbremse, eine Gaspreisbremse, weitere Hilfen für Unternehmen, Ersatzbeschaffung für Gasimporteure. 

Bei der Strompreisbremse wird der Abwehrschirm nur ergänzend finanzieren. Zentrale Einnahmequelle soll hier die Abschöpfung so genannter Zufallsgewinne bei den Betreibern von Nicht-Gas-Kraftwerken sein. 

Die Ersatzbeschaffung für Gasimporteure (die statt billigem russischem Gas nun viel teureres Gas aus anderen Quellen besorgen müssen, obwohl sie noch zu günstigen alten Preisen liefern müssen) sollte ursprünglich über die Gasumlage erfolgen. Diese Gasumlage hätte von den Gaskund:innen bezahlt werden müssen, war deshalb unpopulär und sorgte auch für rechtliche Probleme, insbesondere nach der Verstaatlichung von Importeuren wie Uniper. Nachdem Finanzminister Lindner ursprünglich eine Finanzierung aus Steuermitteln abgelehnt hatte, schwenkte er vor wenigen Tagen um und kam zu der Erkenntnis: "Wir haben eine Gasumlage, die den Preis erhöht. Aber wir brauchen eine Gaspreisbremse, die den Preis senkt." 

Wie die Gaspreisbremse konkret aussieht, ist noch nicht bekannt. Vermutlich wird durch staatliche Subventionen der Preis nur für den "Basisverbrauch" gedrückt, so dass weiterhin ein Anreiz zum Energiesparen besteht. Die Details werden derzeit von der 21-köpfigen Gaskommission unter Leitung der VWL-Professorin Veronika Grimm, die auch Mitglied im Rat der "Wirtschaftsweisen" ist, erarbeitet. Ursprünglich sollte die Kommission ihre Ergebnisse Ende Oktober vorlegen, Kanzler Scholz kündigte aber an, dass zumindest die Konzeption der Gaspreisbremse deutlich früher vorliegen wird. Die Experten-Kommission wurde vom Wirtschaftsministerium eingesetzt, ist aber unabhängig.

Dass der Abwehrschirm (also die Finanzierung) schon vor der Gaspreisbremse vorgestellt wurde, die u.a. finanziert werden soll, hat mit der Gasumlage zu tun. Diese sollte eigentlich am Samstag den 1. Oktober in Kraft treten, die entsprechende Verordnung musste nun aber noch vorher per Umlaufbeschluss der Bundesregierung korrigiert werden. 

Was ist mit der Schuldenbremse?

Auch wenn der Abwehrschirm über einen Nebenhaushalt ausgestattet wird und nicht über den regulären Bundeshaushalt, so sind die bis zu 200 Mrd. Euro doch bei der Schuldenbremse zu berücksichtigen. 

Allerdings ist schon lange klar, dass der Bund die Schuldenbremse 2022 nicht einhalten kann. Wie schon 2020 und 2021 hat der Bundestag einen entsprechenden Beschluss gefasst und sich dabei auf die Notfallklausel des Art. 115 Abs. 1 Satz 6 Grundgesetz berufen. Dort heißt es: "Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden."

Der bisherige Beschluss für 2022 kam im Bundestag am 3. Juni mit der Mehrheit von SPD, Grünen und FDP zustande. CDU und AfD stimmten dagegen, die Linke enthielt sich bei der Aussetzung der Schuldenbremse. Laut Antrag der drei Ampel-Fraktionen (BT-Drucksache 20/2036) wurde der Beschluss nicht nur, wie bisher, mit den Folgen der Corona-Pandemie begründet, sondern auch mit den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Damit ist bislang eine Überschreitung der grundgesetzlichen Kreditobergrenze (von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) um rund 115 Mrd. Euro eröffnet. 

Für die zusätzlichen neuen "bis zu 200 Mrd. Euro" des Abwehrschirms ist ein neuer Beschluss des Bundestags gem. Art. 115 Abs. 1 Satz 6 GG erforderlich. Er fällt der Ampel-Koalition aber leichter, weil die Überschreitung der Schuldengrenzen diesmal nur vertieft wird. Für diesen Beschluss genügt zwar nicht die einfache Mehrheit im Bundestag, aber die "Mehrheit der Mitglieder". Solange es keine größere Zahl Abweichler in der Koalition gibt, genügt also die Ampel-Mehrheit. Stimmen der CDU/CSU sind hierbei nicht erforderlich, sie hat hier also keine Verhandlungsposition. 

Die Notlage ist Russland zuzurechnen

Für den Abwehrschirm dürfte die Berufung auf die Corona-Krise nicht mehr in Frage kommen. Hier müsste der russische Angriffskrieg und seine Folgen als "außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entzieht" eingestuft werden. Das dürfte möglich sein. Ein Krieg, der Lieferketten unterbricht und so die Energie-Preise in die Höhe treibt, ist sicher in der Lage, die staatliche Finanzlage erheblich zu beeinträchtigen. 

Zwar beruht die Notlage teilweise auch auf Wirkungen der westlichen Sanktionen. Diese sind aber als gerechtfertigte Abwehrmaßnahmen dem russischen Aggressor zuzurechnen. Inzwischen hat Russland auch selbst die Gas-Lieferungen gedrosselt und eingestellt. Finanzminister Christian Lindner sagte am Freitag im Bundestag: "Wir befinden uns in einem Energiekrieg. Knappheiten beim Gas werden zu einer Waffe gemacht." Auch wenn Deutschland sich weiterhin völkerrechtlich nicht als Kombattant des russischen Kriegs gegen die Ukraine sieht, dürfte doch eine Notlage im Sinne des Haushaltsverfassungsrechts vorliegen.

Unterschied zum Sondervermögen Bundeswehr

Für das Sondervermögen Bundeswehr, das im Juni mit 100 Mrd. Euro eingerichtet wurde, mussten Bundestag und Bundesrat mit zwei Drittel-Mehrheit das Grundgesetz ändern. In Artikel 87a erlaubt nun ein neuer Absatz 1a die Schaffung eines Sondervermögens mit Kreditermächtigungen von 100 Mrd. Euro. Auf diese Kreditermächtigungen ist die Schuldenbremse gem. Art. 115 GG nicht anzuwenden, heißt es dort ausdrücklich. 

Diese Grundgesetzänderung war erforderlich, weil der schlechte Ausrüstungszustand der Bundeswehr nicht als "außergewöhnliche Notsituation" galt. Dass die Bundeswehr marode ist, war keine Folge der russischen Aggression. Der Angriffskrieg änderte nur die politischen Prioritäten. Eine Berufung auf die Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 1 Satz 6 GG war also nicht möglich. 

Um Sparzwänge im übrigen Haushalt zu vermeiden, musste für das Sondervermögen Bundeswehr also auf Verfassungsebene eine eigene Ausnahme geschaffen werden. Dementsprechend war hierfür auch die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion erforderlich. Die Union setzte zum Beispiel durch, dass dieses Sondervermögen nur für militärische Zwecke und nicht für Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden kann. 

Auf welche Jahre bezieht sich der Abwehrschirm?

Die Ausgaben aus dem Abwehrschirm sollen in den Jahren 2022 bis 2024 erfolgen. Sie werden aber nur im Jahr 2022 bei der Prüfung der Schuldenbremse berücksichtigt. Denn es wird nur auf den Zugang der Kreditermächtigungen im Wirtschaftsstabilisierungsfonds abgestellt. Es kommt also nicht darauf an, wann der Bund konkret die Schulden aufnimmt bzw. wann er das Geld an Unternehmen und Verbraucher:innen auszahlt. 

Diese Rechenmethode ist für Finanzminister Lindner vorteilhaft, denn sie ermöglicht ihm, die Schuldenbremse 2023 einzuhalten (zumindest kann er dies derzeit glaubhaft ankündigen). Die finanzverfassungsrechtlichen Folgen des Abwehrschirms betreffen also nur das Jahr 2022, in dem die Schuldenbremse ohnehin nicht eingehalten werden konnte. 

Allerdings wurde diese Buchungsregel erst vor rund einem Jahr im Zusammenhang mit dem zweiten Nachtragshaushalt für 2021 eingeführt. Damals setzte die Ampel-Koalition gegen das Votum mehrerer Sachverständiger durch, dass 60 Milliarden Euro, die 2021 nicht für Corona-Hilfen benötigt wurden, in den Energie- und Klima-Fonds (inzwischen umbenannt in Klima- und Transformationsfonds) verschoben wurden, um das Geld dann in den folgenden Jahren an der Schuldenbremse vorbei für klimaförderliche Konjunktur-Wiederankurbelung ausgeben zu können. 

BVerfG soll Ampel-Tricks prüfen

Unter anderem gegen diese neue Buchungssystematik haben 197 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im April 2022 eine abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Sie haben zugleich einen Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt, über den noch nicht entschieden wurde. In der Hauptsache wird es vermutlich eine mündliche Verhandlung geben. 

Federführend ist in Karlsruhe die einst von der CDU/CSU nominierte Richterin Sybille Kessal-Wulf, die schon zwei Mal mit radikalen Urteilen überrascht hat. So hat der Zweite Senat 2017 die Kernbrennelementesteuer für nichtig erklärt und 2020 den Strafparagraf 217, der die geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung kriminalisierte. Das Verfahren liegt in Karlsruhe nicht auf der langen Bank, da die Amtszeit von Kessal-Wulf im Dezember 2023 endet. Ein Erfolg der Unions-Klage in Karlsruhe könnte auch die Pläne der Ampel mit dem Abwehrschirm durcheinanderbringen, insbesondere die Einhaltung der Schuldenbremse in den Jahren 2023. 

Schuldenbremse nützt beim Schuldenmachen

Um künftig ohne jede rechtliche Restriktion Kredite aufnehmen zu können, wird insbesondere in der SPD (und auch in der Linkspartei) immer wieder eine Abschaffung der Schuldenbremse gefordert. Das ist jedoch kurzsichtig. 

Wie derzeit zu sehen ist, kann sich der Bund trotz Schuldenbremse mit allen Mitteln ausstatten, die zur Bewältigung von Großkrisen erforderlich sind. 

Dass die Schuldenbremse dennoch erhalten bleibt und ihre Einhaltung Jahr für Jahr als Ziel propagiert wird, ist dabei nicht nur eine nekrophile Neigung von Finanzminister Lindner oder eine Marketingstrategie der FDP, sondern liegt auch im politischen Gesamtinteresse. Denn die Schuldenbremse und das Beharren des Finanzministers auf deren Einhaltung gelten an den Finanzmärkten als ein Merkmal solider deutscher Haushaltspolitik, weshalb deutsche Staatsanleihen als besonders sicher angesehen werden und entsprechend niedrig verzinst werden müssen. 

Die eigentlich nur formale, aber umso entschlossenere Beibehaltung der Schuldenbremse erleichtert also das Schuldenmachen, indem es die Kreditkosten senkt. Parteien, die die Schuldengrenze aufheben wollen, gefährden dagegen die weitere ungebremste Verschuldung und zeigen, dass sie von dialektischer Finanzpolitik weniger verstehen als Finanzminister Lindner.

Zitiervorschlag

Der 200-Milliarden-"Doppel-Wumms"-Abwehrschirm: Ende der Schuldenbremse oder dialektische Finanzpolitik? . In: Legal Tribune Online, 03.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49789/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen