Risiken bei Coronalockerungen: Das Leben ist nicht abwä­g­ungs­fest

Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski 

10.06.2020

Reisen, Kitas, Kulturveranstaltungen: Was wollen wir an Lockerungen erlauben, auch wenn es lebensgefährlich ist? Dabei geht es um die Abwägung von Risiken, nicht um die Abwägung absoluter Rechtsgüter, meint Frauke Rostalski.

Nach und nach werden die einschneidenden Coronamaßnahmen gelockert. Reisebeschränkungen fallen, Kitas und Schulen sollen geöffnet werden, Menschen kehren an ihre Arbeitsplätze zurück. Und dennoch bleibt das Risiko, an dem Virus zu erkranken, und sogar zu sterben.  

In dieser Diskussion hat der Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) durch seine Aussage, der Schutz des menschlichen Lebens werde nicht absolut gewährt, eine Debatte ausgelöst. Er erntete dafür viel Kritik, aber auch Zuspruch. Aus juristischer Perspektive überrascht die öffentliche Aufmerksamkeit für seine Aussage – denn eigentlich handelt es sich um eine Selbstverständlichkeit.  

Jede Lockerungsmaßnahme ist das Ergebnis einer Abwägung, aber nicht zwischen absolut geschützten Rechtsgütern, sondern von Lebensrisiken. Es geht um die Frage: Was wollen wir an Lockerungen erlauben, auch wenn es lebensgefährlich ist? 

Kein absoluter Lebensschutz im deutschen Verfassungsrecht 

Das deutsche Recht gewährt keinen absoluten Lebensschutz. Vor jeder Abwägung sicher ist allein die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Zwar stehen das menschliche Leben und die Menschenwürde in einem bedeutsamen Zusammenhang, da das Leben gewissermaßen die Grundlage jedes anderen Rechtsguts und so auch der Menschenwürde ist. Daher hat das Leben Teil am unverbrüchlichen Schutz der Menschenwürde.  

Dennoch macht auch dies das Leben nicht abwägungsfest. Vielmehr bleibt es dabei, dass selbst das Leben einer Abwägung mit anderen Rechtsgütern unterworfen ist. Dabei ist klar, dass die hohe Bedeutung, die das Leben für das Individuum als Grundlage seines Seins hat, dazu führt, dass es in aller Regel die Abwägung zu seinen Gunsten entscheidet. Es gibt aber auch andere Fälle. Zu denken ist nur an Notwehrkonstellationen. 

"Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden" – eine sprachliche Ungenauigkeit 

Wie passt das aber zusammen mit dem – schon in den ersten Jura-Semestern vermittelten – Grundsatz, wonach Leben nicht mit Leben abgewogen werden darf? Wir kennen dieses Prinzip von den klassischen Lehrbuchfällen, in denen beispielsweise ein Vater am Rande eines Flusses steht, in dessen Fluten seine beiden Kinder zu ertrinken drohen, er aber in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit und nach den ihm gegebenen Möglichkeiten lediglich ein Kind retten kann. Entsprechende Dilemmasituationen sind in der Pandemie ihrerseits zur traurigen Realität geworden. Weil das individuelle Leben von Seiten des Rechts nicht bewertet werden darf, macht sich der Arzt nicht strafbar, der sich bei Vorhandensein bloß eines Beatmungsgeräts für den einen von zwei Patienten entscheidet und damit den anderen dem praktisch gewissen Tod überlässt.  

Wer das auch so sieht, kann sich die Frage stellen, wie es dann sein kann, dass das Leben mitunter sogar gegenüber rangniederen Rechtsgütern wie etwa dem Eigentum zurückzustehen hat? Indes ist der sich hier abzeichnende Widerspruch ein bloß vermeintlicher. Er wird provoziert durch sprachliche Ungenauigkeiten, die sich in diesem Kontext nicht selten einschleichen. Gemeint ist die Formulierung, das Leben werde mit anderen Rechtsgütern abgewogen.  

In dieser Form ist die Aussage zu stark verkürzt und verdeckt dabei einen wesentlichen Aspekt, der aber für die Bewertung des jeweiligen Falls ausschlaggebend ist: zwischen der Abwägung von Rechtsgütern und der Abwägung von Risiken muss differenziert werden. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob das Leben als absolutes Rechtsgut beispielsweise abgewogen wird mit dem Eigentum in seinem absoluten Wert. Wer die Frage so stellt, findet ohne Weiteres die – einzig – richtige Antwort: Das menschliche Leben zählt in seinem absoluten Wert mehr als das Eigentum. 

Das Leben zählt als solches nicht weniger als andere Freiheitsrechte 

Anders kann es sich aber durchaus verhalten, wenn nicht der Rang der jeweiligen Interessen und deren Verhältnis untereinander auf dem Prüfstand stehen, sondern bloße Risiken für die jeweiligen Güter. Dies zeigt sich ganz deutlich anhand der derzeitigen Debatte um die Verhältnismäßigkeit einzelner Infektionsschutzmaßnahmen: Wenn etwa gefragt wird, ob Kitas und Geschäfte wieder öffnen dürfen oder die Zahl der zulässigen Kontaktpersonen erhöht wird, so wägen wir gerade nicht Leben und Gesundheit mit sonstigen Interessen wie zum Beispiel der Freizügigkeit oder Berufsfreiheit ab.  

Wir sagen also nicht: Das Leben zählt als solches weniger als andere Freiheitsrechte. Was wir vielmehr sagen, ist: Wir wägen ein spezifisches Risiko für das menschliche Leben gegen Eingriffe in andere Rechtsgüter ab. Das ist dem Grunde nach übrigens auch bei der Triage-Konstellation so, wenngleich dieser Umstand hier weniger klar zutage tritt. Denn wir haben es dabei stets mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit des Versterbens desjenigen zu tun haben, der nicht begünstigt wird.  

Wenn wir allerdings sicher sind, dass ein Patient stirbt, der nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird, sind die Risiken für die Personen in Lebensgefahr gleichwertig. Allein unter dieser Voraussetzung erlangt der absolute Wert des jeweiligen Rechtsguts seine Bedeutung, weshalb die Aussage "Leben darf nicht gegen Leben abgewogen werden" im Kontext der Triage zu Recht auf den Plan tritt.  

Öffnungsdebatte dreht sich um Abwägung von Risiken, nicht von absoluten Rechtsgütern 

Demgegenüber erfolgt in der Debatte um die Öffnung nach dem Shutdown grundsätzlich gerade keine Abwägung von Rechtsgütern als absolute Werte, sondern die bloße Abwägung von Risiken für widerstreitende Interessen. Es geht mithin um die Frage, was wir erlauben, selbst wenn damit das Risiko erhöhter Infektionen und damit auch des Sterbens von Menschen verbunden ist.  

Anders als bei der Triage haben wir es bei der Frage nach weiteren Lockerungen von Infektionsschutzmaßnahmen nicht mit einem damit einhergehenden Lebensrisiko zu tun, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintritt. Vielmehr ist dieses Risiko in seinem Ausmaß abhängig von der Zahl vorhandener Infektionen und insbesondere der Verfügbarkeit lebensrettender Behandlungsgeräte. In die Abwägung mit anderen Freiheitsrechten tritt also allein ein mehr oder weniger hohes Lebensrisiko, das anhand des jeweiligen Stands der Pandemie zu bestimmen ist.  

Auf der anderen Seite stehen Schädigungsmöglichkeiten für sonstige Rechtsgüter, die – verglichen mit den Gefahren für Leib und Leben – praktisch gewiss sind. Auf der Basis dieser Risikoverteilung ist also zu bewerten, in welchem Umfang die Einschränkung von Freiheitsinteressen zugunsten des Lebensschutzes gerechtfertigt ist. Dabei handelt es sich der Sache nach um eine ihrerseits klassische Fragestellung, die freilich in der Pandemie mit einer erhöhten Dringlichkeit zu diskutieren ist: Wie genau ist das allgemeine Lebensrisiko in Zeiten von Corona ausgestaltet? 

Allgemeines Lebensrisiko in Zeiten der Pandemie 

Risiken für das eigene Leben bestehen immer und überall. Beim Spaziergang durch den Wald besteht die Gefahr, von einem Baum erschlagen zu werden. Dennoch lässt der Staat nicht sämtliche Bäume fällen. Lebensgefahren gehen im Übrigen nicht bloß von Naturereignissen aus. Bestes Beispiel hierfür ist der Straßenverkehr, der jedes Jahr eine Vielzahl von Opfern fordert. Gleichwohl hat sich die Gesellschaft angesichts der Vorzüge des Straßenverkehrs dafür entschieden, diese Gefahren prinzipiell hinzunehmen. Ein absoluter Lebensschutz besteht also auch nicht in Bezug auf das Verhalten anderer, im Gegenteil: Stets kommt es auf die bereits beschriebene Risikobewertung an, die die Konturen dessen umreißt, was in unserer Gesellschaft als akzeptables Lebensrisiko gilt. Innerhalb dieser Grenzen ist der Einzelne prinzipiell allein für den Schutz seiner Güter verantwortlich.

Wo verlaufen die Grenzen des allgemeinen Lebensrisikos in der Pandemie? In welchem Umfang muss der Staat Maßnahmen zum Lebensschutz ergreifen und an welchem Punkt ist dies nicht mehr geboten? Dabei spielen zum einen die Höhe des Lebensrisikos gemessen am jeweiligen Stand der Pandemie und zum anderen die Interessen Dritter eine Rolle. Bei deren Abwägung erweist sich insbesondere die Bestimmung der Höhe des Lebensrisikos infolge erheblicher Wissensdefizite als schwierig.  

Zudem ist zu beachten, dass das menschliche Leben zwar einen Höchstwert unserer Rechtsordnung ausmacht, andere Freiheitsrechte aber ihrerseits ein relevantes Gewicht aufweisen. Dieses wächst mit der zunehmenden Dauer ihrer Einschränkung. Es erscheint vor diesem Hintergrund bedeutsam, während der Pandemie fortlaufend über die angemessene Risikobewertung nachzudenken, zu diskutieren und damit insbesondere nicht in einem status quo zu verharren, der möglicherweise Freiheitsrechte unverhältnismäßig einschränkt. 

Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung und geschäftsführende Direktorin des Instituts für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln. Seit April 2020 ist sie Mitglied des Deutschen Ethikrats. 

Zitiervorschlag

Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski , Risiken bei Coronalockerungen: Das Leben ist nicht abwägungsfest . In: Legal Tribune Online, 10.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41866/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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