"Salomonisch, gut, klug" - so oder so ähnlich bewertet die Presse fast einhellig die Entscheidungen des BAG vom Dienstag zum Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen. Dafür spricht immerhin, dass die Kirchen und ihre Einrichtungen gegen Marburger Bund und ver.di zwar formal verloren, in der Sache aber weitgehend Recht bekommen haben, meinen Ulrich und Ole Hammer.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte über zwei Revisionen von evangelischen Kirchen und kirchlichen Einrichtungen zu entscheiden, Gegner waren der Marburger Bund und die Gewerkschaft ver.di. Es ist ungewöhnlich, aber nicht verwunderlich, dass alle Parteien sich nach den Erfurter Urteilen als Gewinner fühlen.
Während die Gewerkschaft unter dem Titel "Bundesarbeitsgericht bestätigt Streikrecht in der Diakonie" weiterhin den Abschluss eines "Tarifvertrag Soziales" fordert, "weil der Dritte Weg unzureichend ist", sieht der Verband Diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) ebendiesen den Dritten Weg durch das BAG bestätigt.
Richtig ist in der Tat, dass die obersten Arbeitsrichter das absolute Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen aufgehoben haben. Richtig ist aber auch, dass sie zugleich den Kirchen und ihren Einrichtun-gen im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts alle Instrumente an die Hand gegeben haben, um Streiks in kirchlichen Einrichtungen auszuschließen. So können diese entweder "kirchengemäße" Tarifverträge abschließen oder eine Form des Dritten Wegs konzipieren, in den die Gewerkschaften eingebunden sind.
Dieses Ergebnis ist mehr als nur ein arbeitspolitisches Patt, juristisch gesprochen ein "non liquet", bei dem sich beide Seiten beliebig blockieren können. Seine Kernaussage liegt weniger im Bereich des Arbeitskampfrechts als vielmehr im Koalitionsrecht, weniger beim Streikrecht als beim Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbandsrecht. Die Erfurter Entscheidungen sind die Aufforderung an alle Beteiligten, aufeinander zuzugehen, Kompromisse zu finden und ihre Ziele gemeinsam zu verwirklichen.
Die Verfahren: vom Zweiten und Dritten Weg
Im Verfahren gegen die Zulassung eines Streikrechts des Marburger Bundes entschieden die obersten Arbeitsrichter, dass Streikmaßnahmen zur Durchsetzung von Tarifforderungen unzulässig sind, wenn die Kirche sich entscheidet, "die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ihrer diakonischen Einrichtungen nur dann durch Tarifverträge auszugestalten, wenn eine Gewerkschaft zuvor eine absolute Friedenspflicht vereinbart und einem Schlichtungsabkommen zustimmt" (BAG, Urt. vom 20.11.2012, Az. 1 AZR 611/11 zum Zweiten Weg).
Materiell hat der klagende kirchliche Arbeitgeberverband in vollem Umfang Recht bekommen. Verloren hat er den Prozess nur, weil er nicht darlegen konnte, dass nach der damaligen Streikdrohung des Marburger Bundes zukünftig weitere Störungen zu befürchten seien.
Streikmaßnahmen sind aber keineswegs etwa im Umkehrschluss zulässig, wenn sich die Kirchen und ihre Einrichtungen Tarifverträgen verweigern. Das ergibt das zweite Urteil des BAG, bei dem es direkt um den so genannten Dritten Weg ging.
Bei diesem Arbeitsrechtsregelungsverfahren, wenn also die Dienstnehmerseite und die Dienstgeberseite in einer paritätisch besetzten Kommission die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gemeinsam aushandeln und einen Konflikt durch einen neutralen Vorsitzenden einer Schlichtungskommission lösen, dürfen die Gewerkschaften nicht zu einem Streik aufrufen, so der 1. Senat (Urt. v. 20.11.2012, Az. 1 AZR 179/11 zum Dritten Weg). Das soll nach Ansicht der Richter jedoch nur gelten, "soweit Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden sind und das Verhandlungsergebnis für die Dienstgeberseite als Mindestarbeitsbedingung verbindlich ist".
Daher verloren die Kläger aus dem Bereich der Evangelischen Kirche von Westfalen auch diesen Prozess. Allerdings nur, weil sie nach Ansicht der höchsten Arbeitsrichter einseitig zwischen unterschiedlichen Arbeitsrechtsregelungen des Dritten Weges wählen konnten.
2/2: Der Dritte Weg bleibt – aber nur mit den Gewerkschaften
Der Dritte Weg kann also bleiben, aber die Gewerkschaften dürfen davon nicht ausgeschlossen werden. Auch in kirchlichen Einrichtungen müssen sie das Recht auf koalitionsgemäße Betätigung (Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz) haben.
Grundsätzlich gibt es jetzt ein Streikrecht auch in kirchlichen Betrieben und Unternehmen. Die Kirchen können es aber mithilfe ihres verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts sowohl auf dem Dritten (Kommissionsmodell) als auch auf dem Zweiten Weg (Tarifvertragsmodell) ausschließen.
Sie können das aber nur, wenn sie zweierlei garantieren, wofür sie die Gewerkschaften brauchen: Erstens müssen die Gewerkschaften in das Verfahren zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen kirchlicher Beschäftigter "organisatorisch eingebunden" werden. Zweitens muss das auf dem Dritten Weg gefundene Verhandlungsergebnis als Mindestarbeitsbedingung verbindlich sein.
Das BAG hat damit den grundsätzlichen Vorrang des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vor dem gewerkschaftlichen Streikrecht bestätigt, den schon das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Jahr 1985 annahm. Dabei haben die Erfurter Richter aber die Abwägung zwischen den beiden Verfassungspositionen vorsichtig, im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) favorisierten "offenen Abwägung" unter Einbeziehung aller im konkreten Zusammenhang sachrelevanten Aspekte erweitert.
Streikverbot nur bei Beteiligung der Gewerkschaften
Die Kirchen und ihre Einrichtungen dürfen nach dem BAG zwar den Abschluss von Tarifverträgen vom Ausschluss des gewerkschaftlichen Streikrechts abhängig machen, so dass "kirchengemäße" Tarifverträge nicht erstreikt werden können. Das ist aber nur möglich, wenn sie sich gemeinsam mit den Gewerkschaften für den Abschluss kirchengemäßer Tarifverträge entschieden haben. Der maßgebliche Einfluss der Gewerkschaften im Wege tarifrechtlicher Beteiligung ist damit der entscheidende Schlüssel, um Arbeitskämpfe auszuschließen.
Dies gilt nach dem BAG allerdings auch für den Dritten Weg, an dem die Kirchen und ihre Einrichtungen aufgrund ihres verfassungsrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts festhalten können. Hier macht das BAG den Ausschluss des Streikrechts davon abhängig, dass es den Kirchen gelingt, die Gewerkschaften zu beteiligen. Für diese hätte das den Vorteil, dass sie die von ihnen geforderte flächendeckende Verbindlichkeit der auf dem Dritten Weg ausgehandelten Mindestarbeitsbedingungen ganz im Sinne eines "Tarifvertrag Soziales" durchsetzen könnten.
Ihre Beteiligung an "kirchengemäßen" Tarifverträgen, wo sie unproblematisch ist, weil Tarifverträge nur mit Gewerkschaften ausgehandelt werden können, und am Dritten Weg, wofür sie erst noch ausgehandelt beziehungsweise eingefügt werden müsste, ist damit Voraussetzung für den Ausschluss eines gewerkschaftlichen Streikrechts. Gelingt das nicht, stehen den Kirchen und ihren Einrichtungen Streiks ins Haus.
Ein Plädoyer für Verständigung – und das ziemlich rechtssicher
Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht darf die Gewerkschaften nicht von einer Beteiligung an der Aushandlung von Mindestarbeitsbedingungen für kirchliche Beschäftigte ausschließen. Umgekehrt darf aber auch die koalitionsgemäße Betätigung der Gewerkschaften nicht den Zweck verfolgen, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gleichsam auf kaltem Wege zu säkularisieren. Praktische Konkordanz zwischen kollidierenden Verfassungspositionen, wie sie das BAG versteht.
Die Urteile aus Erfurt sind damit ein Plädoyer für die Verständigung zwischen Kirchen und Gewerkschaften. Wenn daher der Präsident des Kirchenamts der EKD nach den Urteilen erklärte, bei der Weiterentwicklung des Arbeitsrechts nach wie vor zum Dialog mit den Gewerkschaften bereit zu sein und diese erneut zur Beteiligung am Dritten Weg einlud, dürfte er ganz auf der Linie der obersten Arbeitsrichter liegen.
Und auch wenn sich ver.di die verbindliche Geltung von Mindestarbeitsbedingungen für alle Unternehmen des Gesundheits- und Sozialsektors in guter gewerkschaftlicher Tradition bislang nur als einheitlichen, allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag vorstellen kann: Auch über den Dritten Weg ist sie möglich, vielleicht durch beides. Das entscheiden die Gewerkschaften nach dem Willen des BAG aber nicht allein, sondern nur zusammen mit den Kirchen und ihren Einrichtungen.
Beide Urteile aus Erfurt sind relativ rechtssicher: Die klagenden Kirchen und kirchlichen Einrichtungen haben formal verloren – aber der Dritte Weg wurde als Ausdruck des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts bestätigt. Als unterliegende Parteien könnten sie damit zwar formal gegen beide Urteile Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen; ob für sie indessen ein materieller Bedarf dafür besteht, lässt sich bezweifeln.
Marburger Bund und ver.di als beklagte Parteien hingegen haben beide Prozesse gewonnen; ihnen ist die Verfassungsbeschwerde dadurch verwehrt. Alles in allem sieht es derzeit so aus, als könnten die Urteile des BAG halten, ohne dass die Kirchen das BVerfG anrufen. Ausgeschlossen ist das gleichwohl nicht. Allerdings dann mit der Konsequenz, dass wahrscheinlich nicht Karlsruhe, sondern der EGMR in Straßburg das letzte Wort haben wird – in vielleicht vier Jahren.
Rechtsanwalt Ole M. Hammer und Rechtsanwalt Prof. Dr. Ulrich Hammer sind Partner der Anwaltskanzlei Hammer Rechtsanwälte in Hildesheim und auf das kirchliche Arbeitsrecht spezialisiert. Letzterer ist zudem Autor mehrerer einschlägiger Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen.
Ulrich Hammer, Kirchen können Streiks weiter verhindern: Nicht ohne die Gewerkschaften . In: Legal Tribune Online, 22.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7603/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag