Evakuierung aus Afghanistan: Das Recht zur Ret­tung

Gastbeitrag von Simon Gauseweg

17.08.2021

Die Bundesregierung will bis Ende des Monats tausende bedrohte Menschen aus Kabul evakuieren. Simon Gauseweg wirft einen Blick auf die völker- und verfassungsrechtlichen Fragen.

Plötzlich geht es doch ganz schnell: Die Bundesregierung will Medienberichten zufolge bis zu 10.000 Menschen aus Afghanistan ausfliegen. Dabei handelt es sich – neben wenigen Deutschen – vor allem um ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr, Menschenrechtler und Anwälte. Dazu kommen deren Familien. Der Evakuierungseinsatz könnte mehrere Wochen dauern.

Noch in der vergangenen Woche war ein Ende der Debatte kaum abzusehen. Dann wurde am Wochenende die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen. Und das Verteidigungsministerium verlegte einen hastig auf Montag geplanten ersten Evakuierungsflug sogar noch auf Sonntagabend vor.

Zahlreiche Hilfesuchende kommen aber gar nicht mehr zum Flughafen durch. Möglicherweise müssen daher auch Sammelpunkte innerhalb der Stadt errichtet – und gesichert werden.

Genau eineinhalb Monate, nachdem die letzten Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen wurden, entsendet Deutschland also wieder Truppen an den Hindukusch. Eineinhalb Monate, so lange hat es gedauert, bis die radikalen Fanatiker der Taliban die demoralisierte Armee einer korrupten Regierung weggefegt haben, Provinz um Provinz eroberten und schließlich die Hauptstadt eingenommen haben.

Zur Rettung! – Zu Recht?

Den neuen Machthabern sind Menschen- und sonstige Rechte nicht das Papier wert, auf dem sie niedergeschrieben sind. Angesichts dessen mag es zynisch erscheinen, nach den rechtlichen Grundlagen dieser Rettungsaktion zu fragen. Doch der fundamentale Unterschied zwischen einer menschenverachtenden Terrorherrschaft und einem liberalen Rechtsstaat ist, dass die Willkür des einen vom Recht des anderen ausgeschlossen wird. Und spätestens mit Ankunft der Geretteten in Deutschland wird es einige geben, die deren Aufenthaltsrecht in Zweifel ziehen wollen.

Eine juristische Befassung mit der Rettungsaktion muss daher die folgenden Fragen beantworten: Darf die Bundeswehr Menschen aus Afghanistan evakuieren? Macht die Staatsangehörigkeit der Geretteten einen Unterschied? Darf dies ohne vorherige Zustimmung des Bundestags geschehen? Und wie verhält sich das Aufenthaltsrecht zur Einreise?

Rettungsaktionen und das Völkerrecht

Schon die Frage nach der völkerrechtlichen Rechtfertigung könnte man als "umstritten" bezeichnen. Denn im Grundsatz darf kein Staat Truppen in einen fremden Staat entsenden, ohne zuvor dessen ausdrückliche Erlaubnis einzuholen. Fehlt die Erlaubnis, stellt das einen völkerrechtlich verbotenen Akt der Gewalt, ja sogar eine Angriffshandlung dar.

Für die erst kürzlich beendete Mission „Resolute Support“ hatte Deutschland eine solche Genehmigung der afghanischen Regierung. Mit Truppenabzug dürfte diese erloschen sein. Eine Erneuerung ist nicht bekannt – und überhaupt ist schwierig zu beurteilen, wer Afghanistan derzeit völkerrechtlich vertritt. Der Präsident ist geflohen, der Innenminister und die Taliban haben angekündigt, über eine "friedliche Machtübernahme" zu verhandeln. Die Volksrepublik China sieht bereits "freundlichen Beziehungen" mit der neuen Regierung entgegen. Und diese neue Regierung dürfte wenig Interesse an fremden Soldaten in ihrer Hauptstadt haben, gleichgültig, warum sie da sind.

Deutschland benötigt also eine Rechtfertigung für sein Eingreifen. Ausnahmen vom Gewaltverbot sieht die Charta der Vereinten Nationen allerdings nur wenige vor: Neben einem Mandat des Sicherheitsrates (das für die Rettungsaktion nicht existiert) bleibt Deutschland nur das Selbstverteidigungsrecht aus Artikel 51 der Charta. Dieses setzt seinerseits einen bewaffneten Angriff auf den verteidigenden Staat voraus. In der Tat vertreten einige Staaten, darunter die USA, dass ein Angriff auf ihre Staatsangehörigen dieses Selbstverteidigungsrecht auslöse. Deutschland gehört nicht dazu. Auch auf Artikel 51 kann die Bundesrepublik sich daher nicht berufen.

Umstritten sind schließlich die ungeschriebenen Ausnahmen. Denn das Gewaltverbot ist als ius cogens, als absolut zwingendes Recht anerkannt. Jede Ausnahme müsste ihrerseits diesen Status teilen. Entgegen aller Versuche durch insbesondere westliche Staaten, die sog. "humanitäre Intervention" als Ausnahme zu etablieren, ist sie kein anerkanntes Völkerrecht. Auch auf sie kann sich Deutschland nicht berufen.

Diskutiert wird, ob die Rettung eigener Staatsbürger einen eigenen, ungeschriebenen Rechtfertigungsrund darstellt. Dafür sprechen sowohl die Rechtsauffassungen vieler Staaten, als auch die Praxis: International sind solche Einsätze kaum Kritik ausgesetzt und es ist anerkannt, dass dabei nicht nur eigene Staatsangehörige, sondern auch Angehörige verbündeter Staaten gerettet werden dürfen. Eine Erstreckung auch auf fremde Staatsangehörige dürfte angesichts eines Notstandes wie in Afghanistan völkerrechtlich unproblematisch sein. Für solche Evakuierungsoperationen gibt es unzählige Präzedenzfälle, berühmte Einsätze der Bundeswehr sind die Operation Libelle 1997 (Albanien) und Operation Pegasus 2011 (Libyen).

Die Beteiligung des Bundestages

Letztgenannte Operation steht auch in rechtlicher Hinsicht Pate für das aktuelle Vorgehen der Bundesregierung. Vor zehn Jahren evakuierten Deutschland und Großbritannien in der gemeinsamen Operation 22 Deutsche und 110 weitere Zivilisten vor dem libyschen Bürgerkrieg.

Obwohl bewaffnete Kräfte der Bundeswehr an Bord waren, stufte das Auswärtige Amt damals den Fall nicht als Einsatz bewaffneter Streitkräfte ein. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind solche Einsätze nur mit Zustimmung des Bundestages zulässig und diese wollte man nicht einholen. Auch auf die Bitte um die für Gefahr im Verzug vorgesehene nachträgliche Zustimmung des Bundestages verzichtete die Regierung. Auf Antrag im Organstreitverfahren der damaligen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen entschied das BVerfG zwar, dass der Einsatz durchaus als bewaffneter Streitkräfteeinsatz einzustufen war. Ausschlaggebend ist dafür nämlich bereits die Möglichkeit bzw. Erwartung der Einbeziehung in Kampfhandlungen.

Allerdings stellten die Karlsruher Richterinnen und Richter fest, dass dennoch auch auf eine nachträgliche Zustimmung verzichtet werden konnte. Das sei möglich, wenn der Einsatz beendet sei, bevor das Parlament sich damit befassen könne –sozusagen Erledigung durch Zeitablauf.

Dass die Bundeswehrmaschinen also am Sonntag nach Afghanistan gestartet sind, bevor der Bundestag Beschluss gefasst hat, ist daher wohl nicht zu beanstanden. Die Bundesregierung muss sich vorwerfen lassen, dass sie hätte schneller handeln können und müssen. Doch angesichts der sich immer schneller überschlagenden Ereignisse in Afghanistan darf man wohl dennoch von Gefahr im Verzug sprechen.

Und anders als bei Operation Pegasus hat der Bundestag nun auch etwas Zeit, den Einsatz per Beschluss zu sanktionieren: Derzeit rechnet man mit einer Dauer der Evakuierung bis Ende des Monats. Bis dahin könnte das Parlament den Einsatz auch jederzeit abbrechen. Dass das geschieht, gilt aber als beinahe ausgeschlossen.

Einreise, Aufenthalt, Asyl?

Bleibt noch die Frage nach den Bestimmungen des Aufenthaltsrechts. Spätestens seit 2015 ist allgemein bekannt, dass das deutsche Asylrecht nicht jeden schützt. Eher noch ist der sog. "subsidiäre Schutz" zu erlangen, den diejenigen genießen, die zwar keinen Asylanspruch haben, aufgrund der Gefahren im Heimatland aber auch nicht zur Rückreise aufgefordert werden können. Einfach zu bekommen ist aber auch subsidiärer Schutz nicht.

Auch in Bezug auf die jetzt zu rettende Personengruppe der ehemaligen Ortskräfte, Personen, mit denen die Bundeswehr teils jahrelang zusammenarbeitete, standen verschiedenste Behörden bis hin zu Ministerien in der Vergangenheit immer wieder vor Problemen. Zuletzt habe laut Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer die afghanische Regierung darauf bestanden, dass nur Personen mit afghanischem Reisepass ausreisten. Dokumente, die auch bei deutschen Behörden gern gesehen sind.

Und eigentlich benötigen alle Drittstaatsangehörigen, die nach Deutschland einreisen wollen, ein Visum. Ein solches zu ergattern war für Afghanen noch nie besonders leicht. Das gilt erst recht, seit die deutsche Botschaft in Kabul geschlossen ist.

Das Aufenthaltsrecht sieht allerdings eine einfache Lösung vor. In § 22 bestimmt das Aufenthaltsgesetz, dass das Innenministerium bzw. eine von diesem bestimmte Stelle „zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme“ erklären kann. Geschieht das, muss den betroffenen Ausländern eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt werden.

Weitere Voraussetzung ist nur das Bestehen völkerrechtlicher oder dringender humanitärer Gründe. Darüber muss in Bezug auf Menschen, denen aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Deutschland nun Folter und Tod drohen, nicht diskutiert werden.

Auch wenn man den Einsatz rechtlich nicht kritisieren kann, wird die Bundesregierung sich in den nächsten Wochen noch einiger Kritik ausgesetzt sehen. Schon jetzt wirft man ihr Untätigkeit und gravierende Fehleinschätzungen der Lage vor. Fehleinschätzungen, die Menschenleben kosten. Gut möglich, dass sich am Ende auch das Parlament in Form eines Untersuchungsausschusses noch einmal ausführlich mit diesem unrühmlichen Ende des Afghanistan-Einsatzes beschäftigen wird.

Der Autor Simon Gauseweg ist akademischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht

Zitiervorschlag

Evakuierung aus Afghanistan: Das Recht zur Rettung . In: Legal Tribune Online, 17.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45753/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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