Ex-BVerfG-Präsident bei "Jung & Naiv": Prä­si­dent a.D. Voß­c­oole

Gastbeitrag von Dr. Lorenz Leitmeier

01.10.2022

Der ausgeschiedene Präsident des BVerfG zu Gast als Andreas im Duz-Interview bei Youtuber Tilo Jung – für Juristen ein Leckerbissen, allerdings in 17 Gängen. Die Highlights aus vier Stunden und eine Ruhepulserhöhung hat Lorenz Leitmeier verfolgt.

Das Interview-Format "Jung & Naiv", abrufbar auf YouTube, kommt minimalistisch daher: ein Tisch, zwei Menschen, viele Fragen, fertig. Der Titel ist als Wortspiel gemeint, tatsächlich aber eine Mogelpackung mit Augenzwinkern: "Jung" ist nämlich Tilo Jung, Moderator der Sendung, mit knapp 37 allenfalls noch beim ZDF ein Nachwuchstalent, und als Dauergast in der Bundespressekonferenz mit "naiv" so treffend umschrieben wie Olaf Scholz mit "Plaudertasche".

In Folge 597 bietet "Jung und Naiv" allen Juristen einen Leckerbissen an, der allerdings als 17-Gänge-Menü serviert wird: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts a.D., Anreas Voßkuhle, seit seinem Ausscheiden praktisch nicht mehr gesehen, plaudert bei Kampf-Duzer Jung ("Wer bist Du? Warum bist Du nicht mehr am Gericht?") über seinen Werdegang, seine Arbeit am Gericht und über viele, viele, wirklich viele rechtliche und politische Fragen. Das Gespräch leidet unter keinem Wir-müssen-leider-zum-Ende-kommen-Druck, sondern dehnt sich über gepflegte vier Stunden (neuer Rekord für das Format). Wer einzelne Wörter aus dem Grundgesetz auf 80 Urteilsseiten auslegen kann, empfindet das Gespräch vermutlich als Blitzinterview, Zuseher mit bürgerlichem Beruf können nur in Häppchen gucken.

Im Gespräch erlebt man einen entspannten Andreas, der kleidungsmäßig die höchste Stufe an Lockerheit erreicht, die ein Gerichtspräsident im Status a.D. wohl erreichen kann: Oberster Knopf am weißen Hemd geöffnet, Krawatte gegen Pullunder getauscht.

Und sieht man da unter dem Tisch als Hosenkleid etwa eine Jeans? Zum beruflichen Werdegang gibt es eine überraschende Erkenntnis: Alles begann mit einer Diskriminierung. Als er sich nämlich für das Jurastudium in München einschrieb, stand er drei Stunden in der Schlange, als plötzlich ein Uni-Angestellter brüllte: "Alle Personen mit nicht-bayerischem Abitur heraustreten!" Da musste dann ein junger Mann mit seinem NRW-Abitur heraustreten... Die gesunde bayerische Härte schreckte aber nicht ab, nach dem Studium arbeitete er sogar im Innenministerium des Freistaats und erlebte eine spannende Zeit mit einer "lustigen Truppe". Man schaut sich diese Sequenz zur Sicherheit noch einmal an, aber – hat er wirklich so gesagt. Vielleicht ist Lob von Juristen über Juristen aber einfach automatisch vernichtend, man weiß es nicht.

Als hätte er eine entfernte Ahnung, er könnte brillant sein

Andreas tritt öffentlich wie immer souverän auf, er wirkt sympathisch und bescheiden. Hin und wieder, vielleicht drei Dutzend Mal, schimmert das Selbstbild dahinter durch, fast so, als hätte er eine entfernte Ahnung, er könnte brillant sein. Denn selbstverständlich sind am Gericht alle Richter ausgezeichnet und argumentieren auf höchstem Niveau in einzigartig intensiven Rechtsdiskussionen, und natürlich ist das Team der Star – aber gut, einer muss es halt repräsentieren. Und manche werden, ungewöhnlich, auch dann Verfassungsrichter, wenn sie vorher nicht Mitarbeiter waren – so wie... man ahnt es. Phantastisch auch der Passus, in dem er Stärke erklärt: "Wer stark ist, kann Schwächen zugeben." Naive Folgefrage: "Kanntest du deine Schwächen?", ehrliche Antwort: "Ähm… - ich habe alles gern gemacht." Manchmal fällt einem halt nichts ein, was soll man tun?

Inhaltlich wird dann in bedächtiger Zeitlupe der Kessel Buntes angerührt: Mit dem Urteil im NPD-Verbotsverfahren ist er zufrieden, die Entwicklung ("NPD politisch erledigt") habe dem Gericht recht gegeben. Bei der Frage, ob muslimischen Richterinnen das Kopftuch erlaubt sein soll, ist er unentschieden (Symbolik der Amtstracht gegen erkennbare Diversität), zu den NS-Verstrickungen der ersten Richter (einige "dunkle Schafe") kommt demnächst eine Studie. TV-Übertragungen aus dem Gericht? Schwierig, wird aber wohl kommen. Die Neuen Medien sind ein echtes Problem für die Demokratie (Austausch nur noch in Echokammern), der berühmte Klimabeschluss entwickelt das Verfassungsrecht fort.

Keine Lust auf Kolumnen von Thomas Fischer, endlich Ruhe beim BGH

Weitere Themen: Vorratsdatenspeicherung ("klare Entscheidung des EuGH"), Julian Assange ("gemischte Gefühle"), US-Drohnenangriffe von Ramstein aus ("Was völkerrechtswidrig ist, können wir nicht dulden – normalerweise."), kein Dritter Senat nötig ("praktische Abstimmungsprobleme"), Verschluss der NSU-Akten in Hessen ("nicht überzeugend"), struktureller Rechtsextremismus unter der Richterschaft (Problem mit AfD-Abgeordneten, die ans Gericht zurückkehren), Auswahlverfahren der Verfassungsrichter (öffentliche Anhörung abzulehnen), Richterrekrutierung aus der Politik (Herkunft irrelevant, "Prozess der Assimilierung"), Kolumnen von Thomas Fischer ("Lust dran verloren"). Zum Verhältnis der Richter-Giganten in Karlsruhe erfährt man, dass der Bundesgerichtshof (BGH) das BVerfG früher kritisch sah, weil dort Spezialkenntnisse fehlten ("Die Laienspielschar vom Schlossplatz") – hat sich aber geändert, nachdem mehrere BGH-Urteile überzeugend ("wie ich finde") aufgehoben wurden. Seitdem ist Ruhe, sehr erfreulich.

In einer Art angedeuteter Beichte fließen Persönliches und Rechtliches einmal ineinander: In den späten Hippie-Jahren gab es einen "Lange-Haare-Andreas" mit Latzhose und Birkenstock ("wir liefen alle schlonzig rum"), und "man ist vielleicht auch mal in die Nähe eines Betäubungsmittelverstoßes gekommen". Bittä? Ein Skandal? Nein, zum Glück hatte Andreas früh mit dem Rauchen angefangen, Kiffen war also nicht mehr interessant. Hm. Die allerletzte logische Stringenz scheint hier zu fehlen, am Amtsgericht jedenfalls hat man schon Menschen gesehen, die diese Argumentation widerlegen könnten. Mit der Legalisierung von Marihuana hätte er jedenfalls keine Probleme. Viele Passagen gehören auch in die Rubrik "Sandkuchen, extratrocken": Ein Sondervotum zur Rügeverkümmerung im Strafrecht, der Rotton der Roben mit historischen Wurzeln im Florenz der Renaissance, Vorschusspflichten für Querulanten oder der genaue Ablauf, wie aus der "konsolidierten Lesefassung" eine Entscheidung wird, versprühen Behörden-Glamour, aber bei Juristen entsteht Charisma ja oft aus der Präzision im Detail.

Nur einmal endlich aus dem Schneidersitz

Man muss nicht jedes Interview mit Günter Gaus ("Zur Person") vergleichen, Jung aber hakt enttäuschend selten nach: Hängt es von der Größe einer Partei ab, ob sie verfassungsfeindlich ist? Wenn nicht einmal eine Referendarin Kopftuch tragen darf, befördert das vielleicht Ressentiments? Und wenn Andreas Respekt vor dem Gericht fordert und es für ein "Problem" hält, dass bei der Berichterstattung über ein wichtiges Urteil ein Jurist (einen Journalisten begleitend) Bewertungen abgibt, ohne das ziegelsteindicke Urteil zu kennen (wie auch?), darf ein Journalist schon mal für die Pressefreiheit eintreten.

Treffen mit der Kanzlerin stellt Andreas als harmlos dar ("ein Gefühl für die Nöte und Sorgen der anderen Verfassungsorgane entwickeln"), aber warum gibt das Gericht dann keine Auskunft an die Presse, sondern bezahlt anscheinend teure Anwälte zum Mauern? Jung nimmt die Referate unkritisch hin, vielleicht ist er ja doch naiv? Der Ruhepuls von Andreas erhöht sich nur einmal, nämlich bei der Frage, ob es ein Problem sei, wenn ein Präsident (Harbarth) zuvor in einer Kanzlei gearbeitet hat, die Mandanten im Cum-ex- oder VW-Abgasskandal vertrat. Hier bekommt das Gespräch endlich einmal Farbe ("nicht fair"), und der Gast muss aus seinem emotionalen Schneidersitzkurz heraus.

In der Quintessenz hat Andreas das Interview mit der Abgeklärtheit eines Elder Statesman gemeistert, interessante Rechtsdiskussionen angerissen und alle Fragen pariert, wurde aber auch nicht gefordert. Ein pointenreiches Feuerwerk ist das Gespräch nicht, Menschen mit gesundem Bedürfnis nach Spannungsbögen brauchen viele Pausen. Eine Erkenntnis bleibt also wohl für immer: Überstürzte Aktionen kann man Menschen vom Bundesverfassungsgericht nicht vorwerfen.

Zitiervorschlag

Ex-BVerfG-Präsident bei "Jung & Naiv": Präsident a.D. Voßcoole . In: Legal Tribune Online, 01.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49781/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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