Die juristische Presseschau vom 18. Oktober 2023: Erste Ver­fas­sungs­be­schwerde der BRD / VG Düs­sel­dorf zu OVG-Prä­si­den­ten­s­telle / Pro­zess­be­ginn gegen Kurz

18.10.2023

Im Streit um die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln versucht eine Bundesbehörde die Vorlage an den EuGH zu erzwingen. Ein weiteres VG in NRW beanstandet Limbachs Überbeurteilungen. In Österreich ist der Altkanzler Sebastian Kurz angeklagt.

Thema des Tages

BVerfG - Pestizidzulassung: Die Bundesrepublik Deutschland hat wohl erstmals Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Als Rechtssträgerin des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) rügt sie eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter, die auch staatliche Institutionen geltend machen können. Konkret wird dem OVG Niedersachsen vorgeworfen, dass es sich bisher weigert, Fragen zu Zulassungsverfahren für pestizidhaltige Pflanzenschutzmittel dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung vorzulegen. Das OVG sah einen Acte Èclairé, das BVL nicht. Anlass des Konflikts ist die Strategie von Pestizid-Herstellern, neue Mittel in EU-Staaten mit niedrigem Schutzniveau zuzulassen und dann in Deutschland Marktzugang unter Verweis auf diese ausländischen Zulassungen zu verlangen. Das BVL sieht zumindest dann eine Möglichkeit zur Abweichung von der ausländischen Zulassung, wenn dort neuere wissenschaftliche Erkenntnisse nicht berücksichtigt wurden. Das VG Braunschweig sieht die deutschen Behörden dagegen generell an die ausländische Zulassungsentscheidung gebunden und will auch keine Klärung des EuGH herbeiführen. Über die EuGH-Vorlage muss nun wohl das BVerfG entscheiden. Allerdings ist ohnehin bald mit einer EuGH-Entscheidung zu diesem Problemkreis zu rechnen, weil bereits ein niederländisches Gericht vorgelegt hat. LTO (Annelie Kaufmann) berichtet. 

Rechtspolitik

Bürokratieabbau: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) will, dass im Bürgerlichen Gesetzbuch die elektronische Form als Regel beschrieben wird, die nur in Ausnahmefällen strengeren Maßstäben zu weichen habe. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hatte Buschmann am Montagabend an die anderen Ressorts der Bundesregierung weitergeleitet. Hierdurch könnte dann auch die Kündigung eines Arbeitsvertrages per Mail erfolgen. SZ und noz.de berichten. 

Grenzkontrollen: Nach der von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) getroffenen Entscheidung, stationäre Grenzkontrollen auch an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz durchführen zu lassen, erklärt die FAZ (Jasper von Altenbockum), unter welchen – engen – Voraussetzungen Zurückweisungen an der Grenze überhaupt möglich sind.

Detlef Esslinger (SZ) bestreitet in einem Kommentar, dass die Maßnahme eine Rückkehr in die Zeit vor Einführung des Schengener Systems prinzipiell freier Grenzen bedeute. Stationäre Kontrollen gebe es an der Grenze zu Österreich seit acht Jahren, notwendigerweise müssten sie stichprobenartig bleiben. Sie verfolgten zuvörderst den Zweck, "Schleusern" gegenüber Präsenz zu zeigen.

Demokratieförderung: Der im Bundesfamilienministerium erarbeitete Entwurf eines Demokratieförderungsgesetzes ist sowohl formell als auch materiell verfassungswidrig, schreibt Rechtsprofessor Karl-Heinz Ladeur im FAZ-Einspruch. Dem Bund fehle es bereits an der Gesetzgebungskompetenz. Darüber hinaus griffen die Regelungen auch in die Meinungsfreiheit ein, indem sich der Staat zu einem Akteur gesellschaftlicher Meinungs- und Willensbildung aufschwinge und sogar die Möglichkeit eröffne, öffentlich-rechtliche juristische Personen zu subventionieren.

Planungsbeschleunigung/Verkehr: Der Bundestag steht vor der Verabschiedung eines Gesetzpakets, das die Durchführung bedeutsamer Infrastrukturmaßnahmen erleichtern soll. Kern des Vorhabens sei die Identifizierung von 138 Autobahnprojekten, bei denen ein "überragendes öffentliches Interesse" Abwägungsentscheidungen im Genehmigungsverfahren in eine bestimmte Richtung lenken soll. Die FAZ (Corinna Budras) berichtet, das Hbl (Josefine Fokuhl) fasst die maßgeblichen Beschlüsse zusammen.

Straßenverkehr: Dass bei der Reform des Straßenverkehrsgesetzes nunmehr auch Belange von Umwelt- und Klimaschutz berücksichtigt werden sollen, wird von Thomas Hummel (SZ) begrüßt. In seinem Kommentar erinnert er aber auch an die noch immer hohe Zahl von Toten und Verletzten im Verkehr. Um diese zu verringern, wäre es erforderlich, tempodrosselnde Maßnahmen auch präventiv und nicht – wie jetzt immer noch – erst bei Vorliegen konkreter örtlicher Gefährdungen einführen zu können.

BNetzA: Im Recht und Steuern-Teil der FAZ macht Rechtsprofessor Jochen Mohr auf das aktuelle parlamentarische Verfahren der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes aufmerksam. Diese war notwendig geworden, weil der Europäische Gerichtshof im September 2021 die politischen Einflussnahmemöglichkeiten auf Entscheidungen der Bundesnetzagentur gerügt hatte. Der aktuelle Entwurf sehe somit folgerichtig eine Überführung bisheriger Verordnunsermächtigungen in eigene Festlegungsbefugnisse der BNetzA vor. Dies dürfte Behördenentscheidungen im Ergebnis "weniger vorhersehbar machen."

Mikroplastik: Durch ein schrittweises Verbot, mikroplastikbestandhaltige Gegenstände in den Verkehr zu bringen, will die EU die Verbreitung des Stoffes verringern. Rechtsanwältin Vanessa Homann stellt im Recht und Steuern-Teil der FAZ die maßgeblichen Regelungen der soeben in Kraft getretenen, entsprechenden EU-Verordnung vor.

Rechte von Tieren: Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Nina Kerstensteiner spricht sich im JuWissBlog dafür aus, Tieren eine Rechtsfähigkeit zu verleihen, weil hierdurch einem "strukturellen Vollzugsdefizit" beim Tierschutz entgegengewirkt werden könne. Die Autorin nennt internationale Beispiele für einen derartigen Schritt.

Justiz

VG Düsseldorf zum Präsidentenposten am OVG NRW: Ein weiterer Beschluss ordnet an, dass der seit Juni 2021 unbesetzte Präsidentenposten am Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen weiterhin unbesetzt bleibt. Nach dem Verwaltungsgericht Münster entschied nun auch das Verwaltungsgericht Düsseldorf auf Antrag eines weiteren im Verfahren zunächst unterlegenen Bewerbers, dass eine Neubesetzung mit der von Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) vorgesehenen Kandidatin nicht erfolgen könne. Grund sei eine außerhalb von Limbachs Kompetenzen liegende "Überbeurteilung". Im übrigen sei jedoch die Gestaltung des Bewerbungsverfahrens durch das Ministerium nicht zu beanstanden. Hier steht der jetzige Beschluss im deutlichen Gegensatz zu der Ende September geäußerten Kritik des Münsteraner Gerichts, das auch eine manipulative Verfahrensgestaltung rügte. LTO berichtet. 

BVerfG – Elternschaft: Der SWR-RadioReportRecht (Alena Lagmöller/Gigi Deppe) spricht vertieft mit Rechtsanwältin Lucy Chebout, die im Auftrag eines lesbischen Paares am Bundesverfassungsgericht dafür kämpft, eine elternschaftliche Anerkennung der verheirateten Frau der Mutter zu erreichen.

OLG Stuttgart – Reichsbürger Ingo K.: Der am Oberlandesgericht Stuttgart wegen mehrfachen Mordversuchs angeklagte Ingo K. bestreitet weiterhin vehement, ein sogenannter Reichsbürger zu sein. Dabei sprächen zahlreiche Indizien für diese Annahme der Anklage, so zeit.de (Timo Büchner). Auch eine Sachverständige des Kompetenzzentrums gegen Extremismus in Baden-Württemberg sei in ihrem Gutachten zu Ideologie und Verhalten des Angeklagten zu einem ähnlichen Schluss gekommen und habe hierbei besonders die von K. offensichtlich rezipierte "Anastasia"-Buchreihe eines russischen Autors in den Blick genommen.

LAG Hessen zu AWO: Die mutmaßlichen Hauptverantwortlichen des sogenannten AWO-Skandals in Hessen sind vom Landesarbeitsgericht dazu verurteilt worden, ihrer früheren Arbeitgeberin fast zwei Millionen Euro zu erstatten. Das Ehepaar Jürgen und Hannelore Richter hatte den Schaden durch unrechtmäßige Honorar- und Spendenvereinbarungen verursacht, so das LAG laut spiegel.de. Strafrechtliche Ermittlungen liefen in der Angelegenheit immer noch.

LG Berlin – Tötung von Patient:innen: Am Landgericht Berlin ist das Strafverfahren gegen einen Oberarzt und eine Krankenpflegerin eröffnet worden, denen die Anklage Mord bzw. Beihilfe hierzu vorwirft. Der Mediziner soll im November 2021 und im Juli 2022 die Tötung zweier künstlich versorgter Patient:innen angeordnet bzw. selbst durchgeführt haben. Die Anklage wirft ihm vor, er habe Gott spielen wollen. Als Mordmerkmale werden Heimtücke und das Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit (des Klinikpersonals) genannt. Zum Prozessauftakt hatte das Gericht jedoch mitgeteilt, keine Anhaltspunkte für Mordmerkmale erkennen zu können. spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet.

LG Stuttgart – SWR-App: Die zwischen dem Verband Südwestdeutscher Zeitungsverleger (VSZV) und dem Südwestrundfunk geführte Auseinandersetzung über die Zulässigkeit der SWR-App "Newszone" wird im Hauptsacheverfahren nun das Landgericht Stuttgart beschäftigen, berichtet die FAZ. Das im Rahmen des Eilrechtsverfahrens angeregte Schlichtungsverfahren beider Parteien ist inzwischen ergebnislos beendet worden. Die Verleger halten die Newszone-App für zu presseähnlich.

LG Düsseldorf zu Cold Case-Mord: Wegen eines im Jahr 1992 verübten Mordes hat das Landgericht Düsseldorf einen 63-Jährigen verurteilt. Der Angeklagte sitzt bereits eine lebenslange Haftstrafe wegen der Tötung eines Kindes ab, die 1995 begangen wurde.  jetzige Verurteilung sei durch Fortschritte in der DNA-Analysetechnik ermöglicht worden. Die FAZ (Reiner Burger) berichtet. 

AG Lübeck zum Wildpinkeln am Ostseestrand: Der Freispruch in einer Bußgeldsache wegen eines Wildpinkelns am Ostseestrand ist nun auch Thema einer Glosse der SZ (Jana Stegemann). Geradezu poetisch habe das Amtsgericht Lübeck die allgemeine Handlungsfreiheit beschrieben: "Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee."

VG Freiburg zu "freiwillig Tempo 30": Das Verwaltungsgericht Freiburg hat Klagen von Anwohnern, die private "freiwillig Tempo 30"-Schilder in ihren Gärten aufgestellt hatten, abgewiesen. Die schriftliche Urteilsbegründung folgt erst in einigen Wochen, so LTO. Die Ablehnung dürfte jedoch auf einer Unzulässigkeit der Klage beruhen, weil die Subsidiarität der Feststellungsklage nicht beachtet wurde. Die Klageparteien hätten demnach einen förmlichen Bescheid des beklagten Landratsamt abwarten müssen, statt bereits wegen dessen bloßer Aufforderung, die Schilder zu entfernen, das VG anzurufen.

StA Koblenz – Flutkatastrophe: Zum Zeitpunkt der Flutkatastrophe im Ahrtal sei der in die Zuständigkeit des Landkreises Ahrweiler fallende Katastrophenschutz unzureichend organisiert gewesen. Zu dieser Einschätzung gelangt ein Gutachten, das die Staatsanwaltschaft Koblenz im Zuge ihrer Ermittlungen gegen einen Landrat und einen Krisenstabmitarbeiter in Auftrag gegeben hat. Ob aber weiter ermittelt wird, nachdem gutachterlich auch festgestellt worden ist, dass es fraglich sei, ob ein "regional-risikospezifiziertes, leistungsfähiges, vollständig entwickeltes Einsatzführungssystem" die Chancen, Menschenleben zu retten, erhöht hätte. LTO berichtet.

Recht in der Welt

Österreich – Sebastian Kurz: Ab dem heutigen Mittwoch muss sich der frühere Bundeskanzler Österreichs, Sebastian Kurz (ÖVP), am Landesgericht für Strafsachen Wien gegen den Vorwurf der Falschaussage verteidigen. Die Anklage wirft dem jetzigen Unternehmensberater vor, im Zuge eines Auftritts vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Ibiza-Affäre wissentlich und willentlich unrichtige Aussagen über die Besetzung hoher Positionen eines Staatsbetriebes getätigt zu haben. Als Hauptbelastungszeuge tritt ein früherer Mitstreiter von Kurz auf. Angesichts von insgesamt von 18 Zeugen sei es fraglich, ob sich die Sache innerhalb der geplanten drei Verhandlungstage abschließen lasse. Die Berichte von FAZ (Stephan Löwenstein) und Welt (Christoph B. Schiltz) beschreiben, dass ein – nicht unwahrscheinlicher – Freispruch des früheren Politikers dessen wohl avisierte Rückkehr in die Politik erleichtern würde.

Israel – Angriff der Hamas: Im Verfassungsblog beschreibt Kai Ambos, Rechtsprofessor, die völkerrechtlichen Grenzen eines israelischen Gegenschlags im Gaza-Streifen. Dass die israelische Regierung dort auch Verpflichtungen des Humanitären Völkerrechts unterliege, habe der Oberste Gerichtshof Israels bereits 2008 festgestellt.

Indien – Ehe für alle: Das Oberste Gericht Indiens hat sich für unzuständig erklärt, die von Aktivist:innen geforderte Öffnung der Ehe für Homosexuelle durchzusetzen. Tatsächlich sei das Parlament zuständig für eine derartige Entscheidung, so das Gericht. LTO berichtet.

Polen – Machtwechsel: Die Wahlergebnisse in Polen stellt LTO aus verfassungsrechtlicher Perspektive vor. So sei es politische Gepflogenheit, dass der Präsident zunächst das stärkste politische Lager mit der Regierungsbildung beauftragt. Dies könne dazu führen, die Regierungsbildung der siegreichen Oppositionsverbindung zu verzögern.

Sonstiges

Billigung des Hamas-Terrors: LTO fasst aufenthalts-, versammlungs- und strafrechtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Sympathiebekundungen für den palästinensischen Angriff auf Israel zusammen. So müssten Demo-Verbote immer am hohen Wert der Versammlungsfreiheit gemessen werden. Bezüglich der Forderung, aus dem Volksverhetzungstatbestand des Strafgesetzbuches das Erfordernis der Eignung zur Friedensstörung zu streichen, existierten unterschiedliche Ansichten.

Die praktischen Schwierigkeiten der Abschiebung von Personen, die wegen Billigung des Hamas-Terrors ausreisepflichtig wurden, sind Thema eines Interviews von spiegel.de (Marco Rauch) mit Rechtsprofessorin Anuscheh Farahat. Wer staatenlos sei oder wem bei der Rückkehr Menschenrechtsverletzungen drohten, könne nicht abgeschoben werden.

Das Letzte zum Schluss

Nebenverdienst? Nun schon zum zweiten Mal muss sich das Landgericht Dessau-Roßlau mit massenhaften Diebstählen in einem örtlichen Elektronik-Markt befassen. Zur Verhandlung stehen nun 486 Diebstähle innerhalb von zwei Jahren. Angeklagt ist der vormalige Security-Chef des Kaufhauses. Wie bild.de (Thilo Scholtyseck) schreibt, soll der die Taten bestreitende Angeklagte die Sachen auf ebay verkauft haben.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. Oktober 2023: Erste Verfassungsbeschwerde der BRD / VG Düsseldorf zu OVG-Präsidentenstelle / Prozessbeginn gegen Kurz . In: Legal Tribune Online, 18.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52944/ (abgerufen am: 05.05.2024 )

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