Missbrauchsprozess vor dem LG Traunstein: Muss das Erz­bistum Sch­mer­zens­geld zahlen?

20.06.2023

Ein Priester wird nach Missbrauchsvorwürfen rückfällig. In dem Zivilprozess vor dem LG Traunstein wird darüber gestritten, ob das Erzbistum München und Freising nun 300.000 Euro Schmerzensgeld zahlen muss.

Am Dienstag hat der Missbrauchsprozess gegen Entscheidungsträger in der katholischen Kirche vor dem Landgericht (LG) Traunstein begonnen. Der Kläger war vor knapp 30 Jahren im Pfarrhaus im oberbayerischen Garching an der Alz vom dortigen Priester missbraucht worden. Nachdem das Erzbistum München und Freising die Verantwortlichkeit für den Missbrauch am Dienstag dem Grunde nach anerkannt hat, geht es nunmehr noch um ein angemessenes Schmerzensgeld.

Dieses beziffert die Klage mit 300.000 Euro. Dadurch hofft der Mann, den immensen seelischen Schaden ansatzweise zu kompensieren. Laut seinem Anwalt Andreas Schulz sei er "um sein Lebensglück gebracht, aus der Lebensbahn geworfen" und habe "deswegen Zuflucht in Drogen und Alkohol" gesucht – "mit all seinen Folgen für seinen beruflichen Lebensweg". "Ich hoffe mit einem guten Gefühl, dass sich was ändert", sagte der Kläger selbst vor Beginn der mündlichen Verhandlung.

Priester und Erzbistum erkennen Schuld an

Der hier als Täter verklagte damalige Priester Peter H. ist kein unbeschriebenes Blatt. Sein Fall war einer der zentralen Fälle im Anfang 2022 vorgestellten Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München und Freising. H. wurde in den 80er Jahren in Garching eingesetzt, obwohl es zuvor schon im Bistum Essen Vorwürfe gegen ihn gegeben hatte – und obwohl ihn das Amtsgericht Ebersberg wegen sexuellen Missbrauchs in seiner Zeit als Geistlicher in Grafing bei München zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten verurteilt hatte.

H. bestreitet die Tat auch nicht. Auch der Anwalt des Erzbistums München und Freising, Dieter Lehner, erkannte die Schuld des Erzbistums an. Das heißt: Das Erzbistum sieht, dass es zahlen muss, und will das auch tun. Diese Organisationsschuld stützt sich auf das Verhalten des ehemaligen Papstes Benedikt XVI. – in Deutschland besser bekannt als Josef Ratzinger –, dessen Fehlverhalten dem Bistum zugerechnet wird. 

Auch bayerischer Papst Benedikt involviert

Ratzinger, der mittlerweile verstorben ist, war Erzbischof von München und Freising, als H. von Nordrhein-Westfalen nach Bayern versetzt worden war. Als Chef der Glaubenskongregation hatte er einen Brief unterzeichnet, in dem er dem Priester gestattet hatte, die Heilige Messe mit Traubensaft anstelle von Messwein zu feiern. Das Erzbistum hatte mit dem Hinweis, dass H., wenn er getrunken hat, Kindern gegenüber übergriffig wurde, um die Ausnahmeregelung gebeten.

Im Antwortschreiben Ratzingers sehen seine Kritiker den unmittelbaren Beweis dafür, dass der damalige Kardinal über den Fall Bescheid wusste – und nichts dagegen unternahm, dass der Priester weiter in der Seelsorge eingesetzt wurde, wo er weiter Kinder missbrauchte.

Für die Vorsitzende Richterin Elisabeth Nitzinger-Spann war am Dienstag klar: Der Kardinal habe "entsprechend Kenntnis von dem Vorleben" des umstrittenen Priesters H. gehabt. Sie begründete das mit der im vergangenen Jahr bekannt gewordenen Teilnahme Ratzingers an einer Sitzung im Jahr 1980, in der beschlossen worden war, dass der wegen Missbrauchsverdachts aus Nordrhein-Westfalen versetzte Priester in der Münchner Erzdiözese eingesetzt wird.

Das Verfahren gegen Ratzinger, den Klägeranwalt Schulz die "Ikone des Verfahrens" genannt hatte und von dem der Kläger weitere 50.000 Euro gefordert hatte, wurde allerdings abgetrennt, weil auch ein halbes Jahr nach dem Tod des emeritierten Papstes unklar ist, wer seine Rechtsnachfolge antritt und damit in die Beklagtenstellung eintritt.

Klagerücknahme gegen weiteren Kardinal

Kurz vor Prozessbeginn am Dienstag wurde die Klage gegen den zunächst mitverklagten Kardinal Friedrich Wetter zurückgenommen. Wetter war Münchener Erzbischof, als H. auch nach einer Verurteilung wegen Missbrauchs nach Garching versetzt wurde und dort weiter Kinder missbrauchte. Das bestätigte das LG am Dienstag kurz vor Verhandlungsbeginn.

"Kardinal Wetter ist der einzige ehrenvolle Mann in diesem Verfahren", sagte Schulz. Man habe es dem hochbetagten Mann darum ersparen wollen, vor Gericht erscheinen zu müssen. Wetter hatte nach der Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens persönliche Verantwortung für Fälle in seiner Amtszeit übernommen und vor dem Traunsteiner Verfahren als erster Beklagter erklärt, sich nicht auf Verjährung berufen zu wollen.

Nach der Abtrennung des Verfahrens gegen Ratzingers Erben sowie der Rücknahme der Klage gegen Wetter richtet sich die am Dienstag verhandelte Klage noch gegen das Erzbistum sowie gegen den Priester selbst.

Streit über Schmerzensgeld dauert an

Trotz des Schuldanerkenntnisses beantragte das Erzbistum am Dienstag, den Schmerzengeldantrag abzuweisen. Anwalt Lehner zweifelt insofern an der Kausalität zwischen dem Übergriff auf den Kläger im Pfarrhaus vor rund 30 Jahren und dessen heutiger Alkohol- und Drogensucht. Zwei Wochen hat nun der Klagevertreter Zeit, um seine Argumentation hierzu noch einmal darzulegen. Am 14. Juli will das Gericht dann mitteilen, wie es in dem Verfahren weitergeht.

Ein Urteil ist dann keinesfalls zu erwarten, wie Richterin Nitzinger-Spann sagte, sondern ein Beweisbeschluss. Womöglich bestellt das Gericht dann einen Gutachter, der erörtern muss, ob die Suchtprobleme des Klägers ihre Ursache darin haben, dass er von einem katholischen Priester missbraucht wurde.

Nur ein Fall von vielen

Der Traunsteiner Prozess ist nicht der einzige aktuelle Fall, der die Kirche teuer zu stehen kommen könnte: In einer wegweisenden Gerichtsentscheidung verurteilte das Landgericht Köln erst vor einer Woche das katholische Erzbistum dort zu 300.000 Euro Schmerzensgeld für einen Missbrauchsbetroffenen, wobei es den Anspruch auf die Amtshaftung stützte.

Zum Vergleich: Eine von der katholischen Kirche in Deutschland eingerichtete Kommission hat bisher mehr als 40 Millionen Euro an sogenannten freiwilligen Anerkennungsleistungen für von sexuellem Missbrauch Betroffene bewilligt. 2021 waren es nach Angaben der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) knapp 13 Millionen Euro, 2022 etwa 28 Millionen. In 143 Fällen seien Summen von mehr als 50.000 Euro zuerkannt worden, in 24 Fällen sei es sogar um mehr als 100.000 Euro gegangen.

Der Kirchenrechtler Thomas Schüller sprach nach dem Kölner Urteil von einer "Zäsur in der deutschen Justizgeschichte". Erstmals werde die katholische Kirche durch ein staatliches Gericht zu einer auch in der Höhe außergewöhnlichen Summe verurteilt. "Daran werden sich zukünftig auch andere Gerichte zumindest orientieren."

Ob dies auch für das LG Traunstein gilt, wird sich womöglich am 14. Juli zeigen.

mk/dpa/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Missbrauchsprozess vor dem LG Traunstein: Muss das Erzbistum Schmerzensgeld zahlen? . In: Legal Tribune Online, 20.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52040/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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