Eine Frage an Thomas Fischer: Sollte die Arbeits­zeit von Rich­tern auf­ge­zeichnet werden?

von Prof. Dr. Thomas Fischer

22.04.2023

Wer wie Richter viel Macht hat, kann zur Arbeitsfaulheit neigen, andere kommen hingegen gar nicht mehr aus dem Grübeln über die Falllösung heraus. Also auch Richter ran die die Stechuhr? Eine Frage für Thomas Fischer.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 13. September 2022 entschieden, Arbeitsgeber seien grundsätzlich verpflichtet, die tatsächliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten (digital) zu erfassen (Az.: 1 ABR 22/21). Seither herrschen allenthalben Unklarheit, teilweise geradezu Panik oder Verwirrung, über die im Einzelnen konkreten Folgen der Entscheidung und die Anforderungen, welche sie stellen mag. 

Im Bereich der Justiz stellen sich insoweit besondere Fragen. Sie sind allerdings nicht ganz so speziell, dass sie sich nicht auch auf sachlich naheliegende Bereiche anwenden lassen könnten: Rechtsanwälte, Ärzte, Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Abgeordnete usw. Professionen also, deren faktische berufliche Tätigkeit und/oder formale Rechtsstellung ein Maß an "Freiheit" des Zeitaufwandes beinhaltet, das gemeinhin als "Privileg" und jedenfalls in der Vergangenheit nicht als Kennzeichen arbeitnehmerfeindlicher Ausbeutung angesehen wurde. 

Bekanntlich ist, nicht zuletzt unter dem Eindruck der so genannten "Veränderung des Arbeitsmarkts", der Entformalisierung der Arbeitsbedingungen, des Internet-basierten Home-Office und der Einsparungsbemühungen privater wie öffentlicher Arbeitgeber, eine gesellschaftliche Empfindsamkeit dafür entstanden, dass die – tatsächliche oder vermeintliche – Freiheit der Gestaltung von Arbeitsbedingungen eine erhebliche Gefahr der verdeckten (angeblich konsentierten) Ausbeutung zur Folge hat

Flexibilität

Denn wenn die "flexibilisierte" Tätigkeitsbeschreibung faktisch eine Allzeit-Bereitschaft zur Folge hat, stellt sich die Entformalisierung keineswegs als Entlastung der Arbeitnehmer dar, sondern als nach oben offene Zusatzbelastung. 

Dies geschieht, bemerkenswerterweise, seit 20 Jahren nicht unter Stichworten kollektiver Interessen. Diese werden vielmehr verbreitet als "altbacken", "überholt" und "modernisierungsfeindlich" angesehen. Die Arbeitnehmer-Jahrgänge ab etwa 1990 halten es mehrheitlich für besonders "modern", mit nichts und niemandem mehr "koaliert" zu sein, sondern allein eine jeweils ganz höchstpersönliche "Optimierung" zu betreiben. Das ist, aus sozial-historischer Sicht, ebenso abwegig wie rührend. 

Der Autor dieses Beitrags hat in seinen jüngeren Jahren lange Zeit unter Verwendung von Stempelkarten, minutengenau angezeigten Pausenerlaubnissen und Erfassungsmethoden sein so genanntes Brot verdient, weiß also halbwegs, wovon die Rede ist. 

Faulheit 

"Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen", lautet Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Daraus folgt vielerlei, was den gleichfalls rechtsunterworfenen (und gegebenenfalls auch richterunterworfenen) Bürgern einmal gefällt, einmal missfällt. Als besonders schlimmes Erlebnis gilt es, wenn ein zuständiger Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht so entschieden hat, wie es dem Rechtssuchenden gefiel. In diesem Fall liegt den Enttäuschten in vielen Fällen die Annahme nahe, das Gericht habe einfach nicht genügend Sorgfalt, Zeit und guten Willen aufgewendet, um zu erkennen, wie glasklar die Rechtslage war. Das kann man menschlich / psychologisch verstehen, auch wenn es in der Sache fernliegend sein mag. 

Die Kehrseite ist eine vielfach verstörende, nicht selten auch empörende Selbstgewissheit von Richtern, deren Sachbehandlung nicht selten den Eindruck vermittelt, das einzig Störende am vorzüglichen Justizwesen seien die Betroffenen. Ein Teilbereich hiervon – nicht unbedingt der dominierende, aber auch nicht ein ganz marginaler – ist eine Möglichkeit zur ausgeprägten Faulheit. Sie verwirklicht sich nicht vorwiegend im sprichwörtlichen "10.00 bis 14.00 Uhr"-erreichbaren Richtern, sondern viel subtiler: in der Erkenntnis der Macht und der darauf gestützten Unwilligkeit der intellektuellen und emotionalen Anstrengung. 

Unabhängigkeit 

Diesem Risiko kann man keinesfalls dadurch entgegenwirken, dass man unabhängige Richter dazu zwingt, minutengenaue Protokollierungen / Erfassungen ihrer "Arbeitszeit" anzufertigen und vorzuhalten. Rechtsanwälte, die auf Stundenbasis abrechnen, wissen, dass die Frage, wie viele Minuten des Nachdenkens zu welcher Tages- und Nachtzeit wohl "billable" sein mögen, sich im existenzphilosophischen Bereich befindet. Da liegt aber immerhin eine klare vertragliche Vereinbarung vor.

Ein gesetzlicher Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG) ist ein Richter. Er entscheidet, wann, wie, warum er/sie will. Die Gründe für die Entscheidung werden in der Entscheidungsbegründung mitgeteilt (oder, leider, häufig auch nicht). Wie lange das Gericht nachgedacht hat, um zu dieser Entscheidung zu gelangen, ist eine Frage, die weit jenseits der Stechkarten-Romantik angesiedelt ist. Man darf unterstellen, dass die Richter des Bundesarbeitsgerichts dies – jeweils für sich selbst – ganz ebenso sehen und praktizieren. 

Würden die Literaturverlage ihre Roman- und Lyrik-Autoren auf Stundenlohn-Basis bezahlen, würde sich die Qualität der Kunst dadurch nicht erhöhen. Dass Quantifizierungen des Ausstoßes bei Honoré de Balzac oder Mark Twain zu Beginn der Karrieren von Belang gewesen sein mögen, spricht nicht dagegen. Und selbst der kreativste "freie" Journalist von heute lässt sich – allenfalls! – nach Volumen-Output, keinesfalls aber nach Zeit-Aufwand bezahlen. 

Bleibt also als Zweck und Ziel die gute alte Kontrolle. Das geht sehr gut bei mechanischen, repetitiven, auf quantitativen Ausstoß ausgerichteten Tätigkeiten oder bei Belanglosigkeit des qualitativen Ergebnisses: Wer von 10.00 bis 18.45 Schicht an der Supermarktkasse hat, muss nicht daraufhin kontrolliert werden, wie viele Kunden zwischenzeitlich vorbeigekommen sind, sondern darauf, ob er/sie die Pausenzeiten eingehalten hat und nicht zu häufig auf der Toilette oder zum Rauchen verschwunden war. Die Aufgabe von Beschäftigten an der Kasse ist es, auf ein Förderband gelegte Waren zu scannen und den Zahlungsvorgang abzuwickeln. 

Richter sind keine Maschinenbediener

Demgegenüber ist die Aufgabe von Richtern, Journalisten oder Abgeordneten, qualitative Interessen wahrzunehmen. Diese Tätigkeit lässt sich nur dann quantifizieren, wenn man sie auf eine bloße physische Anwesenheit reduziert, wie die von Maschinenbedienern. 

Die Forderung, "unabhängige" Richter sollten ihre (vollständig fiktive) "Arbeitszeit" – angeblich zu ihrem eigenen Schutz (§ 3 ArbSchG), tatsächlich in Umkehrung dessen zu ihrer exekutiven Überwachung – durch digitale Erfassung von Schreibtischstuhl-Besetzungszeiten dokumentieren müssen, ähnelt der ziemlich kindischen Annahme, die Arbeitsleistung von Parlaments-Abgeordneten bestimme sich nach der Menge der Zeit, die auf dem Platz im Plenum abgesessen wird. 

Antworten, im Ergebnis: 

1. Die (digitale) Erfassung individueller Arbeitszeiten von Arbeitnehmern hat unter den Bedingungen einer zunehmenden "Flexibilisierung" der Arbeit Vorteile und Schutzfunktionen für Arbeitnehmer.

2. Eine Übertragung auf freie Berufe ist praktisch nicht sinnvoll möglich.

3. Eine Übertragung auf Staatsbedienstete, die verfassungsrechtlich ihres Amtes willen unabhängig sind (Richter) oder Regierungsverantwortung tragen, wäre fernliegend.

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: Sollte die Arbeitszeit von Richtern aufgezeichnet werden? . In: Legal Tribune Online, 22.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51607/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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