Schauplatz JVA Stadelheim: Mit jedem Verhandlungstag liefert der Wirecard-Prozess in München neues Material für Schlagzeilen. Eine (umgekehrte) Chronologie der Ereignisse seit dem Start am 8. Dezember 2022.
02/03/23: “Man hat sich ab 2013 massiv Gelder gegönnt.”
Das Duell zwischen Markus Braun und dem Kronzeugen der Anklage geht weiter. Banktransaktionen sollen Brauns Unschuld belegen.
Markus Braun präsentierte am Donnerstag eine Liste von Überweisungen, mit denen der frühere Wirecard-CEO seine Unschuld belegen will. Die Gelder sind Braun zufolge vor allem an “einige wenige Veruntreuungsgesellschaften” geflossen. Aus der Transaktionsübersicht soll hervorgehen, dass der mitangeklagte Kronzeuge Oliver Bellenhaus Firmengelder in großem Stil abgezweigt haben soll.
Nach Aussage des ehedem in Dubai für Wirecard tätigen Bellenhaus hat sich Braun aktiv an der Erfindung von Scheingeschäften in Milliardenhöhe beteiligt. Braun hatte dieser Darstellung im Prozess widersprochen.
Richter zweifelt an Plausibilität der Erklärung
Der Vorsitzende Richter Markus Födisch sagte eine Überprüfung zu, ließ jedoch Skepsis durchblicken. Er fragte Braun mehrfach, warum die Täter den Umweg über Scheinbuchungen hätten nehmen sollen, wenn sie auch mühelos Geld aus echten Geschäften hätten abzweigen können: “Warum soll sich das jemand antun, wenn es auch viel leichter geht?” Mit Brauns anschließenden Erklärungen war der Richter nicht zufrieden: “Verstehen Sie, was ich sage, oder verstehen Sie nicht einmal, was ich meine?”
Födisch konfrontierte Braun zudem mit Zeugenaussagen ehemaliger Mitarbeiter, derzufolge es große Lücken zwischen dem tatsächlichen Wirecard-Geschäft und den von Braun geforderten ehrgeizigen Umsatz-und Gewinnzielen des 2020 kollabierten Dax-Konzerns gab. Braun bestritt das. “An diese Aussage kann ich mich definitiv nicht erinnern”, sagte der seit bald drei Jahren in Untersuchungshaft sitzende Manager.
16/02/23: Braun glaubt an Existenz des Drittpartnergeschäfts
Markus Braun macht weitere Angaben im Prozess vor dem LG München und widerspricht der Aussage des Kronzeugen der Anklage im Hinblick auf Erlöse aus dem Geschäft mit Drittpartnern.
Braun fordert von der Justiz die Suche nach seit 2020 vermissten rund zwei Milliarden Euro. "Man müsste einmal sauber ermitteln, wieviel ist davon wieder holbar", verlangte Braun am Donnerstag im Prozess vor dem Landgericht München I. Bei dem Geld handelt es sich um angeblich auf südostasiatischen Treuhandkonten verbuchte Erlöse, die bei der Bilanzprüfung im Jahr 2020 nicht auffindbar waren. Dies hatte in der Folge zur Insolvenz des Dax-Konzerns geführt. "Ich bin der Überzeugung, dass das Geschäft existiert hat, aber in wesentlichen Teilen nicht auf das Treuhandkonto geflossen ist", betonte Braun.
Braun widersprach damit dem mitangeklagten Kronzeugen Oliver Bellenhaus, nach dessen Aussage diese Erlöse frei erfunden waren. Beide Manager sitzen seit über zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft und beschuldigen sich wechselseitig. Braun gab an, dass er Bellenhaus im Jahr 2020 kündigen und den seit 2020 untergetauchten Vertriebsvorstand Jan Marsalek entmachten wollte. Dazu war es nach der Insolvenz nicht mehr gekommen.
Der frühere Wirecard-Chef relativierte seine eigene Verantwortung für Bilanzskandal und Kollaps des Dax-Konzerns. Der Vorsitzende Richter Markus Födisch hielt Braun eine Aussage aus einer seiner Vernehmungen durch die Staatsanwaltschaft vor. Damals hatte Braun eingeräumt, versagt zu haben. Vor Gericht sagte Braun dazu: "Ich würde das heute nicht mehr so formulieren."
13/02/23: Braun weist alle Anklagepunkte zurück
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat Markus Braun einen Milliardenbetrug mitzuverantworten. Braun selbst beteuert vor Gericht seine Unschuld.
"Ich hatte keinerlei Kenntnisse von Fälschungen oder Veruntreuungen", sagte Markus Braun am Montag im Münchner Wirecard-Prozess und wies sämtliche Vorwürfe der Anklage zurück. Er habe sich auch mit niemandem zu einer Bande zusammengeschlossen, betonte der 53-Jährige am 13. Prozesstag in seiner ersten Stellungnahme seit Beginn des Verfahrens im Dezember.
Mit seinen Angaben widerspricht Braun auch dem Kronzeugen der Staatsanwaltschaft, der seinen einstigen Vorstandsvorsitzenden im bisherigen Prozessverlauf schwer beschuldigt hat. Der Kollaps des einstigen Dax-Konzerns im Juni 2020 sei für ihn "ein echtes Schockerlebnis" gewesen, betont der österreichische Manager. "Der 18.6. ist auch heute noch für mich ein Tag des tiefsten Bedauerns" - äußerte Braun im Hinblick auf den Schicksalstag, an dem der Wirecard-Vorstand einräumen musste, dass 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar sind. "Tiefes Bedauern" spricht er auch Aktionären und seinen ehemaligen Mitarbeitern in dem mittlerweile vom Insolvenzverwalter weitgehend abgewickelten Unternehmen aus.
Braun schildert seine Sicht der Geschehnisse
In dem bunkerartigen unterirdischen Gerichtssaal der JVA München-Stadelheim will Braun die Wirecard-Geschichte von Anfang an erzählen und tritt dabei sachlich und seriös auf. Der Wirtschaftsinformatiker arbeitete seit Anfang der 2000er Jahre bei Wirecard. Das damals noch kleine Unternehmen verdiente nach Brauns Worten sein Geld hauptsächlich mit Kommissionsgebühren bei der Abwicklung von Kreditkartenzahlungen im Internet für Adult-Angebote - zu Deutsch Pornografie - und Glücksspiel.
Braun wandelte Wirecard in einen börsennotierten Konzern um, Höhepunkt des kometenhaften Aufstiegs als deutsches Technologiewunder war 2018 die Aufnahme in die Dax-Oberliga der Frankfurter Börse. Dort war Wirecard zeitweise über 20 Milliarden Euro wert, und Braun als größter Aktionär steinreich geworden. Laut Anklage beruhte der Aufstieg auf Lug und Trug.
Braun bestreitet keineswegs, dass es Kriminelle im Unternehmen gab, aber er ahnte nach eigenen Worten nichts von den Manipulationen. Er sei davon ausgegangen, dass sowohl das Drittpartnergeschäft als auch die Erlöse daraus "voll existent" gewesen seien. "Ich hatte keine Kenntnis, dass diese Gelder veruntreut wurden."
"Glücksgriff" Marsalek soll Schlüsselrolle gespielt haben
Braun geht im ersten Teil seiner Stellungnahme noch nicht darauf ein, wer die Täter gewesen sein, wer die Wirecard-Bande geführt haben könnte. Brauns Verteidiger haben den Kronzeugen Bellenhaus zuvor als "professionellen Lügner" attackiert. Eine Schlüsselrolle bei Wirecard spielte der seit 2020 untergetauchte Vertriebschef Jan Marsalek, das wird bereits zu Beginn von Brauns Vortrag deutlich.
"In der gesamten Gruppe waren viele talentierte junge Menschen, aber Marsalek ist wirklich herausgestochen", berichtet Braun. "Gefühlt war Marsalek damals ein Glücksgriff". In den kommenden Tagen und Wochen muss Braun sich auf Fragen des Gerichts einstellen.
09/02/23: Kronzeuge als "Lügner" attackiert
Im Wirecard-Prozess hat nur einer der drei Angeklagten die Vorwürfe des Milliardenbetrugs gestanden. Doch dieser Kronzeuge der Anklage soll Daten in großem Umfang vernichtet haben.
Der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft sieht sich heftiger Kritik gegenüber. Die Verteidiger von Ex-Vorstandschef Markus Braun und des früheren Wirecard-Chefbuchhalters forderten am Donnerstag ein Verwertungsverbot für die Aussagen des bis zum Zusammenbruch des Konzerns in Dubai tätigen Managers Oliver Bellenhaus. Das Argument der Anwälte: Ebenso wie der 49-Jährige einst Vorgesetzte, Kollegen und Geschäftspartner belog und betrog, täusche er nun die Justiz.
Als "professionellen Lügner" attackierte Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm den einstigen Untergebenen seines Mandanten. "Lügen ein Leben lang, auch nach Wirecard." Ein Verwertungsverbot würde nach sich ziehen, dass sämtliche Aussagen des Kronzeugen - inklusive der Anschuldigungen gegen seine Mitangeklagten - dem Urteil nicht zugrunde gelegt werden dürften.
Sowohl Brauns Anwälte als auch die Verteidigerin des ehemaligen Chefbuchhalters warfen Bellenhaus vor, in großem Umfang Daten gelöscht oder anderweitig vernichtet zu haben. Dabei geht es um E-Mails, Chats auf Telegram und Signal, sowie Geschäfts- und Firmendaten von Wirecard. "Man muss immer seine Spuren vernichten", zitierte Sabine Stetter, die Verteidigerin des früheren Chefbuchhalters, aus einer erhalten gebliebenen Mail des Kronzeugen. "Der Angeklagte Bellenhaus hat sogar seine eigene Ehefrau über seine Identität getäuscht."
Dierlamm glaubt nicht mehr an Versehen und Zufälle
Aktenkundig ist, dass Bellenhaus im Sommer 2020 unmittelbar vor seiner Inhaftierung auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft sein Handy verlor. Das Mobiltelefon ist bis heute verschwunden. Bellenhaus habe den Ermittlern lediglich "einen präparierten Datenbestand" überlassen, sagte Stetter. Es sei ihm gelungen, "die Sichtweise der Staatsanwaltschaft zu manipulieren".
Der 49 Jahre alte Bellenhaus ist der einzige der drei Angeklagten, der die Vorwürfe der Münchner Staatsanwaltschaft einräumt. Der Kronzeuge hat im bisherigen Prozessverlauf sowohl Fälschungen und Manipulationen gestanden als auch Braun und den ehemaligen Chefbuchhalter schwer beschuldigt.
"Eine absurde Lügengeschichte", sagte Brauns Anwalt Dierlamm dazu. "Die Geschichte von Herrn Braun als Bandenanführer ist eine Gefälligkeitsaussage ohne jeden Realitätsbezug." Der Anwalt warf dem Kronzeugen einen "schmutzigen Handel" mit der Münchner Staatsanwaltschaft vor. "Ich habe aufgehört, in diesem Verfahren an Versehen und Zufälle zu glauben."
Laut Anklage agierten Braun und Komplizen als Betrügerbande, die mit Hilfe erfundener Umsätze und Gewinne Banken und Kreditgeber um über drei Milliarden Euro prellten. Braun selbst wird voraussichtlich am kommenden Montag erstmals persönlich zur Anklage Stellung nehmen.
08/02/23: Verteidiger von Markus Braun legt Fragenkatalog vor
Hatte der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun Kenntnis von Manipulationen im Drittpartnergeschäft? Sein Verteidiger fordert vom Kronzeugen Sachbelege für dessen Anschuldigungen.
Die Verteidigung von Markus Braun versucht, die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen erschüttern. Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm legte am Mittwoch einen 50-seitigen Fragenkatalog an den mitangeklagten Oliver Bellenhaus vor. Dierlamms finale Frage nach zweistündigem Vortrag: "Haben Sie irgendeinen Sachbeleg dafür, dass Herr Dr. Braun von Manipulationen im Zusammenhang mit dem Wirecard Drittpartnergeschäft Kenntnis hatte?"
Ob Bellenhaus die Fragen beantwortet, ist offen. Der frühere Geschäftsführer der Wirecard-Tochter Cardsystems Middle East in Dubai behält sich Schweigen vor. Schriftliche Belege, dass Braun Chef einer kriminellen Bande war, fehlen bislang. Viele von Dierlamms Fragen zielen auf den Gegenvorwurf, wonach die Drittpartnergeschäfte nicht erfunden waren und Bellenhaus von echten Kunden stammende Millionenumsätze veruntreut haben soll.
Die lang erwartete Aussage Brauns wird sich aller Voraussicht nach ein weiteres Mal verzögern. Die Kammer wollte ihn eigentlich an diesem Donnerstag befragen. Doch zuvor wollen die Verteidiger Brauns und des dritten Angeklagten ihre voraussichtlich umfangreiche Bewertung der Aussagen des Kronzeugen vortragen.
25/01/23: Prozess wird nicht ausgesetzt
Die Verteidigung zweier Angeklagter im Wirecard-Verfahren ist mit Anträgen auf eine Aussetzung des Verfahrens gescheitert. Damit kommt es nicht zu einer Neuansetzung der Hauptverhandlung.
Bereits kurz nach dem Verhandlungsauftakt im Dezember 2022 hatte Alfred Dierlamm, Verteidiger von Markus Braun, eine Aussetzung des Wirecard-Prozesses beantragt. Mitte Januar zog Sabine Stetter, Verteidigerin des früheren Chefbuchhalters Stephan von Erffa, nach.
Am Mittwoch wurde bekannt, dass die 4. Große Strafkammer des Landgerichts München I die Aussetzungsanträge zurückgewiesen hat. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahren seien nicht gegeben, teilte das Gericht mit. Die lange Verfahrensdauer - bislang sind 100 Verhandlungstermine vorgesehen - ermögliche es, auch bei nachgelieferten Aktenbestandteilen sämtliche Verteidigungsmöglichkeiten zu nutzen. Bislang seien zudem noch keine Zeugen vernommen worden, so dass den Angeklagten und ihren Verteidigern kein Nachteil durch den Eingang der weiteren Unterlagen entstanden sein könne.
Den von den Antragstellern behaupteten Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vermochte das Gericht nicht zu erkennen. Die Kammer kündigte allerdings an, der Verteidigung im Hinblick auf die Gestaltung und Terminierung des Verfahrens ausreichend Vorbereitungszeit bei nachträglich eingegangenen Unterlagen einzuräumen.
19/01/23: Kronzeuge legt Bezüge offen
"Welchen Vorteil hatten Sie davon?". Diese Frage wirft der Vorsitzende Richter Markus Födisch auf. Kronzeuge Oliver Bellenhaus legt seine Bezüge offen und erklärt, warum er keine Aktien des Unternehmens hielt.
Seine Beteiligung am mutmaßlichen Wirecard-Milliardenbetrug hat dem Kronzeugen der Anklage nach eigenen Worten eine Sonderzahlung in Höhe von 4,8 Millionen Euro eingebracht. Diese Summe erhielt der von 2013 bis 2020 in Dubai tätige Manager Oliver Bellenhaus demnach als Einmalzahlung - aus Firmengeldern abgezweigt und an der Gehaltsbuchhaltung vorbei. Sein ursprüngliches Monatsgehalt bezifferte Bellenhaus am Donnerstag mit 13.000 Euro.
"Das Gehalt, das ich bei Wirecard bezogen habe, war meiner Position lange nicht angemessen", sagte Bellenhaus am Donnerstag im laufenden Strafprozess vor der 4. Strafkammer des Landgerichts München I. Der seit mehr als zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzende Manager war bis zum Zusammenbruch des Skandalkonzerns im Sommer 2020 Geschäftsführer der Tochtergesellschaft Cardsystems Middle East in Dubai.
Bellenhaus verlangte nach eigener Aussage eine Gehaltserhöhung. Ihm schwebten 900.000 bis 950.000 Euro Jahresgehalt vor. Der Vertriebsvorstand Jan Marsalek habe das abgelehnt und stattdessen eine "einmalige Sonderzahlung" von 4,8 Millionen Euro vorgeschlagen. Das Geld legte Bellenhaus in einer Stiftung in Liechtenstein an.
Kein Interesse an Wirecard-Aktien
Die Verteidiger des früheren Vorstandschefs Markus Braun haben Bellenhaus beschuldigt, dreistellige Millionenbeträge aus dem Konzern abgezweigt zu haben. Das wies Bellenhaus mehrfach zurück. Auch Wirecard-Aktien habe er nicht besessen: "Das wäre ein schlechtes Investment gewesen." In den Betrug rutschte er nach eigener Darstellung über Jahre schrittweise hinein, wollte sich aber nicht absetzen oder der Staatsanwaltschaft stellen: "Wenn ich irgendwo reingegangen bin, bin ich noch nie rückwärts rausgegangen und habe geweint."
Über Dubai lief bei Wirecard ein großer Teil der Scheingeschäfte mit erfundenen Zahlungsdienstleistungen. Im Laufe der Jahre wurde nach Bellenhaus' Worten der Aufwand bei der Erfindung von Scheinumsätzen so groß, dass echtes Geschäft kaum mehr möglich war: "Dafür gab's auch keine Zeit mehr, sich mit Kunden zu beschäftigen."
18/01/23: Zweiter Aussetzungsantrag
Nachdem zuvor bereits die Verteidigung von Markus Braun eine Prozessaussetzung forderte, beantragt auch die Anwältin des früheren Chefbuchhalters eine Aussetzung des Verfahrens.
Der Strafprozess gegen drei ehemalige Wirecard-Manager soll bis 2024 dauern. Verteidiger der Angeklagten versuchen, das Verfahren mit Vorwürfen gegen die Staatsanwaltschaft aus den Angeln zu heben. Nach der Verteidigung des früheren Vorstandschefs Markus Braun beantragte am Mittwoch auch die Anwältin des früheren Chefbuchhalters eine Aussetzung des Prozesses.
Verteidigerin Sabine Stetter warf der Staatsanwaltschaft München I ein rechtswidriges Vorgehen und schwere Ermittlungsfehler vor. Die Angeklagten hätten Anspruch auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren. Stetter nannte drei Punkte: Die Staatsanwaltschaft soll demnach der Verteidigung die seit Monaten vorliegenden Aussagen wichtiger Zeugen beziehungsweise Beschuldigter vorenthalten haben. Außerdem hätten die Ermittler es versäumt, ein für das Verfahren wichtiges Mailpostfach zu sichern und sich einen Überblick über das private Gehaltskonto des Kronzeugen Oliver Bellenhaus zu verschaffen.
Für den Prozess ist dies von Bedeutung, weil insbesondere Ex-Vorstandschef Braun den Kronzeugen beschuldigt, Firmengelder in Millionenhöhe auf die Seite geschafft zu haben. Bellenhaus war bis zur Insolvenz im Sommer 2020 Geschäftsführer der Wirecard-Gesellschaft Cardsystems Middle East in Dubai.
Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm hatte bereits kurz nach dem Auftakt im Dezember die Aussetzung des Verfahrens beantragt. Er wirft der Staatsanwaltschaft gravierende Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien vor.
12/01/23: Aussage von Markus Braun verschiebt sich
Der ehemalige Vorstandschef von Wirecard wird nicht ab dem 19. Januar im Wirecard-Prozess aussagen. Die Befragung des Kronzeugen nimmt mehr Zeit in Anspruch als zunächst geplant.
Markus Braun wird im Prozess um den mutmaßlichen Milliardenbetrug bei Wirecard später aussagen als bisher geplant. Grund ist, dass die Verteidiger Brauns und des dritten Angeklagten sowie die Staatsanwaltschaft den Kronzeugen der Anklage vorher ausführlich befragen wollen. Die Kammer will allen Beteiligten die Gelegenheit zu Fragen geben, wie der Vorsitzende Richter Markus Födisch am Donnerstag deutlich machte.
Nach der bisherigen Planung hätte Braun am kommenden Donnerstag (19. Januar) mit seiner Aussage beginnen sollen. Der Kronzeuge Oliver Bellenhaus hat Braun und den mitangeklagten früheren Chefbuchhalter schwer beschuldigt.
Braun sieht sich selbst als Opfer von Kriminellen, die den Konzern ohne sein Wissen oder Zutun ruiniert haben sollen. Sein Verteidiger Alfred Dierlamm will gegebenenfalls ein Verwertungsverbot für Bellenhaus' komplette Aussage beantragen, sofern der Kronzeuge Antworten auf die Fragen der Verteidigung verweigert. Bellenhaus hat unter anderem gesagt, dass der Betrug ohne Braun nicht möglich gewesen wäre.
11/01/23: Kronzeuge spricht von Chaos bei Wirecard
Der Kronzeuge Oliver Bellenhaus sagt aus und bestätigt den Vorwurf der Staatsanwaltschaft, wonach das Drittpartnergeschäft des Unternehmens nicht existierte.
Die angeblichen Milliardenumsätze des 2020 kollabierten Dax-Konzerns mit Drittpartnern im Mittleren Osten und Asien waren nach Angaben des ehemaligen Wirecard-Managers Oliver Bellenhaus frei erfunden. Der Kronzeuge schilderte am Mittwoch ausführlich die Fälschung von Geschäftsverträgen und Umsätzen. "Das haben wir uns natürlich ausgedacht", sagte Bellenhaus am sechsten Prozesstag über die Milliardenbuchungen auf Treuhandkonten in Südostasiens.
Auf die explizite Frage des Gerichts, ob es das Drittpartnergeschäft gab, sagte Bellenhaus: "Ich antworte in aller Deutlichkeit: nein." Der Zahlungsdienstleister hatte im Sommer 2020 Insolvenz angemeldet, weil angeblich auf besagten Treuhandkonten verbuchte 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar waren. Die Drittpartner waren Firmen, die vermeintlich im Wirecard-Auftrag Kreditkartenzahlungen in Ländern abwickelten, in denen der bayerische Konzern selbst keine entsprechende Lizenz hatte.
Bellenhaus beschreibt Zustände als chaotisch
Einziges Ziel sei gewesen, die Bilanzprüfer zu täuschen. "Der Wirtschaftsprüfer brauchte was, und dann entstand die Panik", sagte Bellenhaus. "Es war ein Riesenchaos, es war alles Chaos." Vorstandschef Markus Braun habe nie nachgefragt, wenn er - gefälschte - Verträge unterschrieb.
Braun, Bellenhaus und der ehemalige Leiter der Buchhaltung sollen laut Anklage seit 2015 die Wirecard-Bilanzen gefälscht und kreditgebende Banken um 3,1 Milliarden Euro geschädigt haben. Direkt beteiligt an der Fälschung von Verträgen, Dokumenten und Umsatzdaten waren Bellenhaus zufolge unter anderem der 2020 untergetauchte frühere Vertriebsvorstand Jan Marsalek, der Chefbuchhalter und er selbst. Welche Rolle Braun spielte, ist in dem auf über 100 Prozesstage angesetzten Verfahren bislang unklar.
Schweigen und Kontrollverlust
Laut Anklage war bei Wirecard eine Bande am Werk, die Banken und Investoren systematisch prellte. Eine Verurteilung Brauns als Bandenchef oder -mitglied würde voraussetzen, dass der Vorstandsvorsitzende persönlich die Betrügereien steuerte beziehungsweise aktiv mitwirkte.
Nach Bellenhaus' Schilderung herrschte im Unternehmen Schweigen über die kriminelle Natur der Geschäfte: "Niemand hat je mit mir (über den Betrug) gesprochen." Die Erkenntnis, dass das Drittpartnergeschäft erfunden war, kam demnach auch ihm selbst erst im Laufe der Jahre. "Das hat sich dann so ergeben." Bellenhaus hoffte demnach auf eine Rückkehr in die Legalität, stattdessen wurden laut seiner Aussage die Phantomgeschäfte immer größer: "Irgendwann hat man die Kontrolle verloren, da war es dann einfach zu spät."
Wirecard habe als Geldverbrennungsmaschine seit 2013 Verluste gemacht, weil das Unternehmen die rasant steigenden Kosten nicht mehr decken konnte. "Da gingen Millionen raus, so schnell können Sie das gar nicht nachzählen."
05/01/23: Befragung von Markus Braun auf fünf Tage angesetzt
Markus Braun muss sich auf eine eindringliche und langwierige Befragung zu seinen Unschuldserklärungen einstellen. Das Gericht legt einen Zeitplan für dessen Aussage fest.
Ab dem 19. Januar 2023 soll Markus Braun aussagen. Das Gericht will fünf Prozesstage für die Aussage und die anschließende Befragung des früheren Wirecard-Chefs reservieren. Das kündigte der Vorsitzende Richter Markus Födisch am Donnerstag an.
Ob der Terminplan eingehalten wird, ist offen, nachdem zuvor Brauns Verteidiger die Aussetzung des Verfahrens beantragt. Bisher hat die Kammer darüber nicht entschieden. Die Anwälte werfen der Staatsanwaltschaft vor, die Verteidigung seit Prozessbeginn mit zehntausenden Seiten nachträglich gelieferter Ermittlungsunterlagen zu überfluten.
"Das wird es wahrscheinlich in der Nachkriegszeit in einem Verfahren vor einem deutschen Strafgericht noch nicht gegeben haben", beschwerte sich Anwalt Alfred Dierlamm. Der Ton zwischen Verteidigung und Gericht ist gereizt: "Ich kann die Dramatik, die Sie hier auftun, nicht ganz nachvollziehen", erwiderte der Vorsitzende. Doch auch die Verteidigung des mitangeklagten früheren Wirecard-Chefbuchhalters kritisierte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft als "enorme Zumutung".
19/12/22: Kronzeuge belastet Markus Braun
Der Kronzeuge Oliver Bellenhaus sagt aus. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen den Mitangeklagten Markus Braun und bezeichnet das Unternehmen als "Krebsgeschwür".
Kann ein Dax-Konzern Milliardenumsätze erfinden, ohne dass der Vorstandschef das merkt? Der mitangeklagte Kronzeuge der Staatsanwaltschaft, Oliver Bellenhaus, rückt Markus Braun im Zuge seiner Aussage in ein ganz anderes Licht: Braun sei nicht nur Mitwisser, sondern Täter.
Bellenhaus sieht Braun als maßgebliche Figur bei dem jahrelangem Milliardenbetrug. "Wirecard war ein Krebsgeschwür", sagte der ehemalige Wirecard-Manager am Montag vor dem Landgericht München I. "Es gab ein System des organisierten Betrugs." Braun sei ein "absolutistischer CEO" gewesen. "Wenn er etwas sagte, wurde es so gemacht."
Bekannte Muster und blinde Loyalität
"Er sieht sich als Opfer, und das ist ein bekanntes Muster", sagte Bellenhaus über seinen früheren Chef. Braun hatte bis zum Kollaps des Bezahldienstleisters im Juni 2020 jahrelange Zweifel an den Bilanzen immer in Bausch und Bogen zurückgewiesen. "Blinde Loyalität" zu Braun und dem seit zweieinhalb Jahren flüchtigen früheren Vertriebsvorstand Jan Marsalek habe ihn das Gesetz brechen lassen und ins Gefängnis gebracht, so Bellenhaus.
Der 49-Jährige sagte am dritten Prozesstag als erster der drei Angeklagten zur Sache aus. Er ist bislang auch der einzige, der die Vorwürfe einräumt. "Ich bin erschrocken über mein eigenes Leben", sagte der Kronzeuge und betonte, wie sehr er den immensen Schaden bereue. Doch ging aus Bellenhaus' Aussage nicht hervor, wann die Betrügereien begannen und wie die Wirecard-Bande sich formiert haben soll. Brauns Verteidigung wirft ihm vor, Firmengelder in Millionenhöhe auf die Seite geschafft und veruntreut zu haben.
"Aus kleinen Lügen wurden große Lügen", ließ Bellenhaus die Anfänge der kriminellen Geschäfte im Ungefähren. Er berichtete jedoch von mehreren Besprechungen, an denen Braun und andere Beschuldigte teilgenommen und beraten haben sollen, wie die Fassade der erfundenen Geschäfte gewahrt werden könne.
Das Drittpartner-Geschäft löste sich in Luft auf
Braun hatte über seine Verteidiger erklären lassen, dass die vermissten Milliarden tatsächlich existierten, aber immense Summen von Bellenhaus und anderen Betrügern auf die Seite geschafft worden seien. Bellenhaus warf seinerseits Braun "Denkfehler" vor. Wenn das Drittpartner-Geschäft existiert hätte und profitabel gewesen sei, hätten sich auch nach dem Wirecard-Kollaps Spuren davon finden lassen müssen.
"Nach dem 18. Juni 2020 soll all das spurlos über Nacht untergegangen sein", sagte Bellenhaus. So hätten sich über 1.000 Händler einen neuen Partner für die Zahlungsabwicklung suchen müssen. "Ein solches Processing-Vakuum hätte in der ganzen Branche zu einiger Unruhe führen müssen."
12/12/22: Braun-Verteidiger fordert Aussetzung
Auf die Verlesung der Anklage folgt ein Rundumschlag von Alfred Dierlamm gegen die Staatsanwaltschaft und den Kronzeugen. Der Verteidiger von Markus Braun will das Verfahren aussetzen lassen.
Mit schweren Vorwürfen an die Staatsanwaltschaft will die Verteidigung von Markus Braun den am vergangenen Donnerstag gestarteten Prozess um den mutmaßlichen Milliardenbetrug aus den Angeln heben. Brauns Anwalt Alfred Dierlamm forderte in seinem Eröffnungsplädoyer am Montag die Aussetzung des Verfahrens. Eine ordnungsgemäße Hauptverhandlung sei nicht möglich.
"Infolge der schweren Versäumnisse im Ermittlungsverfahren stehen wir heute vor einem Scherbenhaufen", sagte Dierlamm. Der Verteidiger warf der Staatsanwaltschaft sowohl schlampige und fehlerhafte Ermittlungen als auch gravierende Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien vor. So beschuldigte der Rechtsanwalt die Ermittler, der Verteidigung wesentliche Unterlagen vorenthalten zu haben.
Zu den Anschuldigungen gegen seinen Mandanten erklärte Dierlamm, Braun habe noch kurz vor dem Zusammenbruch des Zahlungsdienstleisters Wirecard-Aktien für 2,5 Millionen Euro gekauft: "Eine geradezu abwegige und absurde Vorstellung, dass ein Bandenanführer so handelt."
Die Spuren des Geldes
Dierlamm warf der Staatsanwaltschaft vor, zahlreiche Hinweise auf den Verbleib des Geldes ignoriert zu haben. "Follow the money", sagte Dierlamm - doch die Staatsanwaltschaft sei der Spur nicht gefolgt. Stattdessen hätten die Ermittler die Anklage auf Bellenhaus’ Aussagen gestützt, dessen Glaubwürdigkeit Dierlamm grundlegend in Zweifel zog.
Der Anwalt hielt der Staatsanwaltschaft auch vor, der Verteidigung wesentliche Unterlagen vorenthalten zu haben. Es seien "gravierende Rechtsstaatsverstöße". LG und OLG München seien bei der Zulassung der Anklage und den regelmäßigen Haftprüfungen auf den Zug der Staatsanwaltschaft aufgesprungen. Dierlamms letzter Angriffspunkt: Die Staatsanwaltschaft schickte nach den Worten des Anwalts kurz vor Beginn der Hauptverhandlung immense Mengen an Akten, Daten und Kontounterlagen an die Anwälte - allein am 7. November 128 Aktenbände: "Vier Wochen vor der Hauptverhandlung 44.000 neue Aktenseiten."
Verteidigung sieht keine Belege für Täterschaft von Braun
Aus Sicht des Verteidigers hat keiner der 450 Zeugen Braun beschuldigt. Es existierten keine Mail und keine Chat-Nachricht, die eine Täterschaft Brauns belegten. Der Anwalt beschuldigte seinerseits Bellenhaus, maßgeblich an der Veruntreuung von Milliardenbeträgen beteiligt gewesen zu sein.
Braun selbst will - anders als angekündigt - zumindest bis Weihnachten nichts zu den Vorwürfen sagen. Bellenhaus hingegen will sich äußern. Dessen Anwälte versuchten, Brauns Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Verteidiger Florian Eder hielt Braun vor, trotz jahrelanger Zweifel an den Wirecard-Bilanzen die Vorgänge nie untersucht zu haben. "Es war Teil des Systems Wirecard, Angriffen mit Gegenangriffen zu begegnen." Der Vorstandschef eines Dax-Unternehmens wolle über Jahre nicht mitbekommen haben, was in seinem Unternehmen los gewesen sei. "Die Wirecard als solche war ein Blendwerk", sagte Eder.
Der dritte Angeklagte, der ehemalige Chefbuchhalter Stephan von Erffa, schweigt ebenfalls. Verteidigerin Sabine Stetter attackierte Bellenhaus im Laufe ihrer kurzen Eröffnungserklärung ebenfalls. Sofern die Kammer das Verfahren nicht aussetzt, wird der Prozess voraussichtlich bis ins Jahr 2024 hinein dauern.
08/12/22: Prozessauftakt
In der Münchener JVA Stadelheim beginnt der Prozess gegen drei ehemalige Manager von Wirecard. Geklärt werden soll unter anderem, ob dem Ex-CEO Markus Braun die Rolle des Täters oder des Opfers zukommt.
Am 25. Juni 2020 wurde klar: Der große Bluff ist nicht mehr zu retten. Wirecard, spätestens mit der Aufnahme in den DAX als deutsche Visitenkarte im globalen Technologiesektor vorgesehen, musste Insolvenz anmelden. Nachdem sich für die Existenz eines Guthabens von rund 1,9 Milliarden Euro, das nach Unternehmensangaben auf philippinischen Treuhandkonten verbucht sein sollte, kein Nachweis fand, hatte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY dem Unternehmen wenige Tage zuvor das Testat für die Jahresbilanz 2019 verweigert. Wirecard räumte schließlich notgedrungen ein, dass das Bankguthaben mit "überwiegender Wahrscheinlichkeit" nicht bestehe. Game over.
Der zarte Hauch von Silicon Valley, der in Aschheim, wo der Zahlungsdienstleister seinen Hauptsitz hatte, in der Luft lag, musste dem Odeur von Ernüchterung und Ungläubigkeit weichen. Bis zuletzt fiel es Mitarbeitenden, Geschäftspartnern, Anlegern und sogar den Aufsichtsbehörden schwer zu glauben, dass die Bilanzen von Wirecard nicht halten konnten, was Fassade und Unternehmenskommunikation jahrelang versprochen hatten. Aufstieg und Fall des Unternehmens versorgten Film- und Theaterschaffende mit Inspiration und deutsche Strafverfolgungsbehörden mit dicken Akten.
Gericht soll Rollenverteilung klären
Einen Teil der hinterlassenen juristischen Scherben soll jetzt die 4. Große Strafkammer des Landgerichts München I unter dem Vorsitz von Richter Markus Födisch in den kommenden Monaten zusammenkehren und dabei insbesondere klären, welche Rollen den Angeklagten im Wirecard-Drama zugefallen sind und in welchem Umfang sie für die von der Staatsanwaltschaft München I in der 474 Seiten umfassenden Anklageschrift erhobenen Vorwürfe Verantwortung tragen. Mit einer schnellen Wahrheitsfindung wird nicht gerechnet. Das Gericht, dem neben Födisch zwei weitere Berufsrichter sowie zwei Schöffen angehören, hat – vorerst - 100 Sitzungstermine bis Ende des kommenden Jahres festgelegt (Az. 4 KLs 402Js 108194/22).
Verhandelt wird in einem Hochsicherheitsgerichtssaal der Münchener Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Dem 17 Millionen Euro teuren Bau ist große mediale Aufmerksamkeit nicht fremd: Nach der Einweihung stand er zunächst selbst im Blickpunkt, später fand hier unter anderem der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe statt.
Staatsanwaltschaft stützt sich auf einen Kronzeugen
Zum Auftakt der Wirecard-Verhandlung haben sich am Donnerstagmorgen neben dem ehemaligen CEO Markus Braun auch der frühere Chefbuchhalter Stephan von Erffa und Oliver Bellenhaus, ehemaliger Geschäftsführer einer Wirecard-Tochter in Dubai, als Protagonisten auf der Anklagebank eingefunden. Bellenhaus, der ebenso wie Braun in Stadelheim in Untersuchungshaft sitzt und eine entsprechend kurze Anreise hatte, kooperierte im Vorfeld mit der Staatsanwaltschaft. Im Verfahren tritt er als Kronzeuge auf, wesentliche Teile der Anklage stützen sich auf seine Aussagen.
Staatsanwalt Matthias Bühring trägt die Anklageschrift im Wechsel mit zwei Kollegen vor. Verlesen wird nur der knapp 90 Seiten umfassende allgemeine Teil, rund 5 Stunden sind dafür eingeplant. Die wesentlichen Anklagepunkte lauten Marktmanipulation, Untreue, gewerbsmäßiger Bandenbetrug sowie unrichtige Darstellung von Jahresabschlüssen.
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft wurden margenintensive Online-Zahlungstransaktionen, insbesondere aus den Bereichen Glücksspiel und Pornographie zunächst in ausländischen Tochtergesellschaften angesiedelt, um sie einer effektiven Kontrolle innerhalb des Konzerns zu entziehen.
Fiktive Geschäftsvorgänge dienen der Legendenbildung
Das sogenannte Third-Party-Acquiring-Geschäft (TPA) sei dann genutzt worden, um real nicht existente Geschäftsvorgänge zu verbuchen und Abrechnungen und Saldenbestätigungen auf der Basis fiktiver Einnahmen zu erstellen. Dass diese unrichtigen Angaben zu Umsätzen und Erträgen im TPA-Geschäft Eingang in die Bilanzen finden würden, die wiederum im Zusammenspiel mit Geschäftsprognosen die Grundlage für Anlageentscheidungen von Investoren bilden, hätten die Angeklagten bewusst in Kauf genommen.
Gemeinsam habe das Trio dem Unternehmen mit ausgeklügelten Strukturen Kapital entzogen. Die kreative Buchführung diente nach Ansicht der Staatsanwaltschaft dazu, in der Außendarstellung den Eindruck einer höheren Profitabilität des Unternehmens zu erwecken. Den Angeklagten sei klar gewesen, dass eine Darstellung der tatsächlichen wirtschaftlichen Lage des Unternehmens einen Einbruch des Aktienkurses und somit auch negative Folgen für die an Geschäfts- und Kursentwicklung gekoppelte variable Vorstandsvergütung zur Folge gehabt hätte.
Braun setzt auf bekannten Strafverteidiger
Im Anschluss an den Vortrag der Staatsanwaltschaft gehört das Wort Rechtsanwalt Alfred Dierlamm. Dierlamm, Gründer der gleichnamigen Kanzlei und seit 2010 Professor für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht an der Universität Trier, ließ bislang keine Abneigung gegen Herausforderungen erkennen: Mandate zu Cum-Ex, der Schlecker-Insolvenz und dem VW-Abgasskandal finden sich unter seinen Referenzen.
In Stadelheim tritt er an, um Markus Braun weitere Jahre im Gefängnis zu ersparen. Sein Mandant beteuerte in der Vergangenheit mehrfach seine Unschuld. Braun, zum Prozessauftakt in seinem typischen Outfit – dunkler Anzug und Rollkragenpullover - , sieht sich als Opfer krimineller Machenschaften, von denen er selbst nichts gewusst und mitbekommen habe.
Die Verteidiger der beiden anderen Angeklagten, darunter Florian Eder, der Oliver Bellenhaus vertritt, üben sich am ersten Prozesstag noch weitestgehend in verbaler Zurückhaltung. Bis zum Jahresende sind noch fünf weitere Verhandlungstage terminiert, Zeugen sollen erst im neuen Jahr vernommen werden. Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé oder auch der Journalist Dan McCrum, der mit seiner Artikelreihe "House of Wirecard" aus dem Geschäftsmodell Wirecard den Fall Wirecard machte und dabei selbst Adressat von Ermittlungen wurde, dürften Spannendes zu erzählen haben.
Wo ist Jan Marsalek?
Schon am ersten Verhandlungstag deutete sich Potenzial für Wendungen und Überraschungen an. Deutlich wurde aber auch, dass ein – möglicherweise entscheidendes – Puzzlestück fehlt: Jan Marsalek. Das ehemalige Wirecard-Vorstandsmitglied, dessen Konterfei bundesweit großflächig auf Fahndungsplakaten prangt, ist untergetaucht. Moskau wird als Aufenthaltsort des Österreichers vermutet.
Genug Geldmittel dürften bei ihm vorhanden sein. Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung soll er mit Hilfe seiner Assistentin insgesamt Millionenbeträge in bar in Plastiktüten aus der Konzernzentrale geschafft haben.
Unbestätigten Berichten zufolge hat sich die Staatsanwaltschaft München I zwischenzeitlich mit einem Inhaftnahmeersuchen an Russland gewandt. Die Personalie Marsalek wird den Prozess in Stadelheim begleiten und könnte jederzeit zum X-Faktor werden.
(red. Hinweis: Prozessberichte mit dpa-Material, Artikel wird fortlaufend aktualisiert)
Kronzeugenbefragung, Aussetzungsanträge, Schuldzuweisungen: Wirecard-Prozess - Was bisher geschah . In: Legal Tribune Online, 20.01.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50837/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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