Virtueller Zivilprozess: Vide­o­ver­hand­lung als Regel­fall

Gastkommentar von Dr. Ralph Guise-Rübe und Simon Kuhnke-Fröhlich

08.07.2021

Die Gerichtsverhandlung per Videokonferenz ist seit zwei Jahrzehnten erlaubt, genutzt wurde die Möglichkeit kaum. Die Richter Ralph Guise-Rübe und Simon Kuhnke-Fröhlich plädieren nun für eine neue, virtuelle Realität in den Gerichten.

Seit fast 20 Jahren ermöglicht § 128a der Zivilprozessordnung (ZPO) die mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme per Videokonferenz. Die Regelung hat es während der Corona-Pandemie ermöglicht, den Sitzungsbetrieb und die zivilgerichtliche Rechtsprechung am Leben zu halten. Die Anwaltschaft und die Richterschaft überwinden seit Pandemiebeginn Vorbehalte, Anwälte und Anwältinnen beantragen die Videoverhandlung initiativ. 

Diese beginnende Etablierung muss genutzt werden, um § 128a ZPO an das technische Umfeld des Jahres 2021 anzupassen und sich bietende Möglichkeiten effektiver zu nutzen. Denn viele Aspekte sprechen für die Fortführung von Videoverhandlungen.

Einer dieser Aspekte ist der Servicegedanke: Die Ziviljustiz übt ein "marktabhängiges" staatliches Gewaltmonopol aus. Richten sich nur wenige oder im Extremfall überhaupt keine Rechtssuchenden an die Zivilgerichte, sind sie überflüssig. Die "Konkurrenz" sind außergerichtliche Streitschlichtungsplattformen, Schiedsgerichte und anwaltliche Streitschlichtungsangebote. Die Rechtspflege braucht aber den "Zugriff" auf aktuelle Fälle, um das Recht anhand der Wirklichkeit transparent zu erproben und fortzubilden. Das leistet außergerichtliche Streitbeilegung nicht, weil sie nicht öffentlich und nicht dokumentiert ist. 

Ein Baustein bei der Positionierung des Justizangebots im Markt ist es, vermeidbaren Zeit- und Kostenaufwand durch Reisen und Warten für die Rechtssuchenden zu minimieren, indem insbesondere der Anwaltschaft die Möglichkeit eröffnet wird, Termine vom Schreibtisch aus wahrzunehmen und Wartezeiten produktiv zu überbrücken. 

Zeitige, pünktliche, persönliche Terminierung

Entfällt die Notwendigkeit zeitaufwändig zu Gericht zu reisen, können Anwältinnen und Anwälte in viel engerem zeitlichen Takt Termine an verschiedenen Gerichten bundesweit wahrnehmen; etwa in einem Zeitfenster zwischen anderen präsenten Terminen. Verhandlungstermine können so zügiger anberaumt werden.

Das Risiko von Terminsverlegungsanträgen und unplanmäßigen Verspätungen im Sitzungsbetrieb etwa durch Staus, Störungen im Bahnverkehr und Witterung wird durch Videoverhandlungen reduziert. Schriftsatznachlässe durch Rücksprachebedarf mit abwesenden Parteien oder Hauptbevollmächtigten werden vermieden. Der Sachverhalt wird zeitnäher aufgeklärt und der Rechtsstreit im Interesse der Parteien schneller entschieden.

Geringere Kosten, weniger Verwaltung

Auch die geringeren Kosten sprechen für die Videokonferenzen. Ohne Reisen fallen keine Reisekosten an. Die Rechtssuchenden haben als Gebührenschuldner weniger Kosten zu tragen, nach Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) abrechnende Anwältinnen und Anwälte sind nicht darauf angewiesen, für den Reiseaufwand eines ganzen Arbeitstags kaum auskömmliche 70 Euro netto Tage- und Abwesenheitsgeld zzgl. Kilometerpauschale abzurechnen oder ihre Terminsgebühr mit einem Unterbevollmächtigten zu teilen. 

Nicht zuletzt werden Reisekosten weit entfernter Zeugen oder der Kostenaufwand von Sachverständigen minimiert. Auch der Verwaltungsaufwand der Kosten- und Anweisungsstelle wird durch weniger Antragssteller reduziert.

Weniger Publikumsverkehr im Gericht entlastet die chronisch unterbesetzten Wachtmeisterteams bei den Sicherheitskontrollen und – gegenwärtig – der Abfrage des Gesundheitszustands und dem notwendigen Infektionsschutzprozedere. Weniger Reisen und weniger Kontakt minimiert Infektionsrisiken und damit krankheitsbedingte Ausfälle bei allen Beteiligten – hier ist nicht nur die gegenwärtige Pandemie, sondern auch z.B. die alljährliche Grippesaison zu bedenken.

Gewohnte Abläufe hinterfragen

Die Videoverhandlung etabliert sich, ist aber nach wie vor Vorbehalten ausgesetzt. Noch immer ist von Anwälten und Anwältinnen ebenso wie aus der Richterschaft zu vernehmen, eine Sache erscheine für eine Videoverhandlung nicht geeignet. Die Vorbehalte entstehen aus fehlender Bereitschaft, die Vorteile zu erkennen und gewohnte Abläufe zu hinterfragen. Ohne ein gesetzgeberisches Eingreifen steht zu befürchten, dass nach dem Ende der Pandemie der Zuspruch nachlässt und der Zivilprozess wieder in "gewohnte" Bahnen zurückkehrt.

Die Rückkehr zu alten Mustern ließe sich derzeit kaum verhindern, denn das Gericht "gestattet" die Videoverhandlung unverbindlich, d.h. die Beteiligten können ohne weiteres im Saal erscheinen. Das ist nicht (mehr) zeitgemäß, benötigt wird eine umfassende, in das Ermessen des Gerichts gestellte Anordnungskompetenz. 

Zeugenbefragung ist vorzubereiten – digital und präsent

Videokonferenzanwendungen wie Skype for Business sind verbreitet und intuitiv bedienbar, überdies für durch das Gericht "eingeladene" Parteien, Anwälte, Sachverständige und Zeugen kostenfrei. Das notwendige Equipment ist für wenig Geld verfügbar. Gerade vielbeschäftigte Sachverständige und bestimmte Zeugen wie Ärzte oder Polizeibeamte können per Videokonferenz flexibler zur Verfügung stehen.

Gegen die Vernehmung von Zeugen und Parteien per Videokonferenz bestehende Vorbehalte überzeugen nicht. Die präsente wie die audiovisuelle Zeugenvernehmung kann (und wird mutmaßlich) "vorbereitet" werden. Dies lässt sich durch gezielte Befragung in beiden Fällen gleich gut herausfinden. Dabei hilft die vermeintlich durch die Videokonferenz schlechter wahrnehmbare Mimik und Gestik auch "live" im Gerichtssaal ohnehin meist nicht weiter. 

Beantragen die Parteien einzeln oder übereinstimmend die Videoverhandlung, sollte im Regelfall die Anordnung erfolgen. Beantragen nicht alle Beteiligten die Videoverhandlung bleibt die Prüfung von Hinderungsgründen für die umfassende Anordnung im Rahmen des Anordnungsermessens.

Güteverhandlung ohne Grund ausgenommen

§ 128a ZPO regelt die Videoverhandlung nur für die "mündliche Verhandlung". Die Güteverhandlung gem. § 278 ZPO ist ohne ersichtlichen Grund ausgeklammert, was behoben gehört. Die Vorteile der Videoverhandlung sind ohne Weiteres auf die Güteverhandlung übertragbar. An die Güteverhandlung schließt sich in aller Regel unmittelbar die mündliche Verhandlung an; eine separate – persönliche – Güteverhandlung und sodann neue mündliche Verhandlung per Videokonferenz ist widersinnig und führt dazu, dass persönlich verhandelt wird, um einen weiteren Termin zu vermeiden.

Der Videoverhandlung darf nicht fehlende technische Ausstattung der Gerichte entgegenstehen. Moderne technische Rahmenbedingungen wie schnelles Internet können dafür sorgen, dass die Videokonferenz nicht als störend, sondern als hilfreich und – perspektivisch – als selbstverständlich empfunden wird. Die audiovisuelle Darbietung soll die Verhandlungssituation erlebbar machen, als sei man persönlich vor Ort. Dieses Ziel wird nicht erreicht, wenn die Verbindung nicht steht und ab fünf Konferenzteilnehmern keine gleichzeitige Übertragung von Bild und Ton möglich ist.

Öffentlichkeit durch Terminals

Auch das Gericht sollte die Möglichkeit haben, die mündliche Verhandlung per Videokonferenz in geeigneter Atmosphäre vom heimischen Schreibtisch wahrzunehmen. Außer den Prozessbeteiligten ist in aller Regel ohnehin niemand im Saal. 

In begründeten Ausnahmefällen können die Beteiligten in bei den Gerichten des Heimatortes vorgehaltenen Videokonferenzräumen die Verhandlung wahrnehmen. Die Öffentlichkeit kann im Gerichtsgebäude als Gerichtsstelle gem. § 219 Abs. 1 ZPO ermöglicht werden durch aufgestellte Terminals, auf denen die aktuell stattfindenden Verhandlungen angezeigt und übertragen werden.

Die Regelungsvorschläge sind als Zwischenschritt zu verstehen, genauso wie es die Einführung von § 128a ZPO im Jahre 2002 war. Ziel muss mittelfristig die Videoverhandlung als Regelfall sein. Im Grunde geht es um den Abschluss der Digitalisierung 1.0 als Vorbereitung der Digitalisierung 2.0 durch zunehmenden Einfluss der KI auf justizielle Abläufe.

Der Autor Dr. Ralph Guise-Rübe ist Präsident des LG Hannover, der Autor Simon Kuhnke-Fröhlich ist Richter am Landgericht Hannover.

Zitiervorschlag

Virtueller Zivilprozess: Videoverhandlung als Regelfall . In: Legal Tribune Online, 08.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45411/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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