Streit um OLG-Chefposten in Baden-Württemberg: Der böse Schein

von Claudia Kornmeier

02.07.2022

In Baden-Württemberg eskaliert ein Streit zwischen Justizministerium und Richterschaft. Das Ministerium stellt eine jahrzehntelange Praxis zu Personalentscheidungen nicht nur in Frage, sondern bringt sie vor Gericht.

Wer bestimmt nach welchen Kriterien, wer Richter wird? Egal, ob es um Verfassungsrichter, Bundesrichterinnen oder die Führung eines Oberlandesgerichts geht - das perfekte Modell für die Kandidaten-Auswahl gibt es nicht. Irgendwer muss die Entscheidung schließlich treffen. Und so entstehen Abhängigkeiten. Und natürlich auch Streit über die Richtigkeit einer einzelnen Entscheidung oder gleich des ganzen Modells.

In Baden-Württemberg gibt es seit Jahrzehnten ein Modell, das davon geprägt ist, dass zwar das Justizministerium entscheidet, die Richterschaft aber ein relativ starkes Mitspracherecht hat. Bei der Suche nach einer Nachfolge für Cornelia Horz, die im Mai als Präsidentin des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart in den Ruhestand ging, droht dieses Modell nun in die Luft zu fliegen. Und noch scheint keiner der Beteiligten so richtig zu verstehen, warum überhaupt und wie es jetzt weitergehen soll.

Was bisher geschah: Justizministerin Marion Gentges (CDU) schlug eine Kandidatin aus ihrem eigenen Haus vor - die Abteilungsleiterin Beate Linkenheil. Der Präsidialrat, das Mitbestimmungsorgan der Richterschaft, machte einen Gegenvorschlag: Andreas Singer, aktuell Präsident des Landgerichts Stuttgart, früher Pressesprecher unter FDP-Justizminister Ulrich Goll. Der Versuch, sich auf eine Person zu einigen, blieb erfolglos.

Was dann nicht mehr geschah: Normalerweise wäre es nun am Richterwahlausschuss, eine Entscheidung zu treffen. Doch das Ministerium wählte einen anderen Weg: Es beantragte beim Verwaltungsgericht (VG) Stuttgart eine einstweilige Verfügung gegen den Präsidialrat und legte auch gleich Klage in der Hauptsache ein (Az. 2 K 3383/22).

Eine Klage der Exekutive gegen die Judikative - die Richterschaft ist mehr als irritiert.

"Fassungslosigkeit und Empörung" in der Richterschaft

Im Präsidialrat der ordentlichen Gerichtsbarkeit sitzen neun Richter:innen, die von ihren Kolleg:innen gewählt werden. Das Gremium hat gewisse Beteiligungsrechte bei Personalentscheidungen. Der Gedanke dahinter: Die Betroffenen sollen mitreden können. Aus Sicht der Neuen Richtervereinigung (NRV) soll außerdem verhindert werden, dass politisch genehmes und nicht hinreichend qualifiziertes Personal Karriere macht.

In den vergangenen Jahren sei dem Präsidialrat eher vorgeworfen "zu ministeriumsnah" zu sein, so die NRV. 99 Prozent der Personal-Entscheidungen würden durchgewunken. "Dass das Ministerium jetzt aus heiterem Himmel die bisherige Praxis in Frage stellt, hat die Kollegen vor den Kopf gestoßen - nicht nur im Präsidialrat", sagt NRV-Landesverbands-Sprecher Frank Bleckmann, der selbst im Präsidialrat sitzt, an der Entscheidung über den OLG-Präsidentenposten aber nicht beteiligt war.

Der Deutsche Richterbund (DRB) Baden-Württemberg wählt drastische Worte und spricht von "Fassungslosigkeit und Empörung" innerhalb der Richterschaft.

Die Sprecherin des Justizministeriums, Anna Härle, selbst Richterin, ist von "Schärfe und Tonalität"" der Reaktionen überrascht. Es gehe doch allein um die Klärung einer Rechtsfrage, nicht darum einen bestimmten Personalvorschlag durchzusetzen.

Man sei der Ansicht, der Präsidialrat habe mit dem Gegenvorschlag seine Kompetenzen überschritten. Geklärt werden soll nun also, was der Präsidialrat darf: Darf er die Personal-Entscheidung des Ministeriums nur auf Ermessensfehler hin kontrollieren oder darf er diese durch eine eigene Entscheidung ersetzen?

Gegenvorschläge des Personalrats sind nicht außergewöhnlich

Nun, was darf der Präsidialrat? Geregelt ist das im Landesrichter- und -staatsanwaltsgesetz (LRiStAG). Und das erscheint an dieser Stelle recht eindeutig: In § 43 Absatz 4 steht ausdrücklich, dass das Gremium einen Gegenvorschlag machen kann. Dabei muss er sich "im Rahmen der Bewerbungen" halten. Weitere Voraussetzungen stehen nicht im Gesetz.

Gegenvorschläge sind auch nichts völlig Außergewöhnliches: Nach den Berichten der NRV Baden-Württemberg macht der Präsidialrat knapp einmal im Jahr einen Gegenvorschlag bei insgesamt mehr als 150 Personalentscheidungen. Wobei es nicht immer mehrere Bewerber*innen gibt - Voraussetzung, um überhaupt einen Gegenvorschlag machen zu können.

Schaffen es Justizministerium und Präsidialrat nicht, sich am Ende auf eine:n Kandidat:in zu einigen, entscheidet das Ministerium gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss.

Gegenseitige Blockade ist möglich

Doch diesen letzten Schritt wollte das Ministerium nun nicht gehen. Denn es will ja erst Rechtsfragen klären. Trotz des klaren Wortlauts hält es die Frage, wann der Präsidialrat einen Gegenvorschlag machen darf, für ungeklärt.

Das Ministerium verweist dabei vor allem auf den Willen des Gesetzgebers. Danach dürfe der Präsidialrat nur dann einen Gegenvorschlag machen, wenn sich die Entscheidung des Ministeriums als "rechtswidrig" erweise. Er dürfe die Entscheidung des Ministeriums außerdem nur auf Ermessensfehler kontrollieren auf Grundlage der dienstlichen Beurteilungen. Ein eigenes "Auswahlermessen" habe das Gremium nicht. Der Grund: Verantwortlich für Personalentscheidungen sei ausschließlich die Regierung, die sich wiederum - anders als der Präsidialrat - vor dem Parlament verantworten müsse.

Allerdings gilt: Die Ministerin ist nicht verpflichtet, die Wahl des Ausschusses zu akzeptieren. Sie muss einen gewählten Kandidaten nicht ernennen. Stattdessen kann sie dem Präsidialrat erneut einen Bewerber vorschlagen oder die Stelle neu ausschreiben, § 60 Absatz 2 LRiStAG.

"Es gibt also eine gegenseitige Blockademöglichkeit", sagt Bleckmann. "Das ist ein austariertes System."

Ist das Mitbestimmungsmodell überhaupt mit dem GG vereinbar?

Professor Fabian Wittreck von der Universität Münster hält die Argumentation des Justizministeriums für "aberwitzig": "Gegenvorschlag heißt Gegenvorschlag." Dabei ist er einer derjenigen, die das baden-württembergische Mitbestimmungsmodell für verfassungswidrig halten.

Das liegt vor allem an der Zusammensetzung des Richterwahlausschusses - der nach einer gescheiterten Einigung zwischen Ministerium und Präsidialrat tätig wird. Dort sitzen acht Richterinnen und Richter, sechs Abgeordnete und ein Rechtsanwalt. Die Ministerin hat den Vorsitz inne, aber kein Stimmrecht. Die Justiz ist also in der Mehrheit.

Das heißt, eine Mehrheit hätten Richterinnen und Richter und "die sind nicht demokratisch legitimiert", kritisiert Wittreck, der für den anstehenden Deutschen Juristentag ein Gutachten zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz bei der Besetzung von Richterpositionen verfasst hat.  

Als verfassungswidrig greift das Ministerium die Mitbestimmungs-Regeln - zumindest bislang - nicht an. Richterbund und NRV sehen dagegen umgekehrt im Vorgehen des Ministeriums einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz. Genauer: die institutionelle Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive.  

Welche Rolle spielen die OLG-Präsidenten?

Dabei gehe es aktuell bei der Stellenbesetzung der Gerichte und Staatsanwaltschaften durch die politisch geführte Exekutive kaum um die Befürchtung direkter politischer Einflussnahme, sagt NRV-Sprecher Bleckmann. "In den letzten Jahren ging es für mich persönlich mehr um die Frage der Kultur, die jemand mitbringt. Wurde jemand im Ministerium sozialisiert oder ist er in der Justiz groß geworden? Hat er oder sie eher ein hierarchisch geprägtes Manager- oder ein stärker egalitäres Richter:innenethos?"

Das könne sich aber durchaus ändern. Sollte das Ministerium vor Gericht erfolgreich sein, wäre damit der Weg geebnet für künftige Minister mit politischer Agenda, ihre Leute durchzusetzen. Im Ministerium könnten die eigenen Leute einfach mit Top-Noten beurteilt werden und wären im Bewerbungsverfahren nicht mehr zu stoppen. Und OLG-Präsidentinnen und -Präsidenten seien wichtig, da sie praktisch die gesamte Leitungsebene der Justiz beurteilten und damit in erheblichem Maße über Karrierewege entschieden. "Es geht für die Richter:innenschaft darum, ein Verfahren zu verteidigen, das die Justiz schützt - mindestens vor dem bösen Schein politischer Instrumentalisierung und wenn es hart auf hart geht auch vor einer solchen Instrumentalisierung selbst", sagt Bleckmann.

Wittreck hält dem entgegen: "Unabhängigkeit heißt, niemand darf einem Richter sagen, wie er zu entscheiden hat oder Konsequenzen androhen wegen einer Entscheidung." Davon abgesehen stelle in gewisser Weise jedes Beförderungssystem in der Justiz eine Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit dar.  

Aus seiner Sicht sollte man das mit der richterlichen Mitbestimmung ganz lassen. Ein OLG-Präsident sei nicht so sehr Richter als vielmehr Vorsitzender einer Mittelbehörde, der insbesondere für die Personalverwaltung zu sorgen habe. "Deshalb ist es aus meiner Sicht legitim, über diese Besetzung nicht die Richter mitbestimmen zu lassen, sondern das Ministerium."

Sind das jetzt "polnische Verhältnisse"?

"Der DRB Baden-Württemberg geht dagegen noch einen Schritt weiter und spricht davon, dass das Ansehen der Justiz "in der internationalen Wahrnehmung ernsthaften Schaden nehmen" könnte. Die institutionelle Abhängigkeit der deutschen Justiz von der Exekutive werde innerhalb der Europäischen Union kritisch beäugt. "Der Image- und Vertrauensschaden ist schon jetzt immens."

Der Richterbund buchstabiert es in seiner Mitteilung nicht aus, aber natürlich schwingt hier der Verweis auf Polen und die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur polnischen Justizreform mit. In zahlreichen Verfahren hat der EuGH in den vergangenen Jahren Polen verurteilt, weil der Einfluss der Politik auf die Justiz zu groß ist.  

Gerade medial verteidigte sich Polen immer wieder auch mit Verweis auf Richterwahlen in Deutschland - auch dort hätte die Politik Einfluss darauf, wer herausgehobene Justiz-Posten bekomme.

Wie kommt die baden-württembergische Justiz aus der Sache heraus?

Das angerufene Verwaltungsgericht Stuttgart muss sich erst einmal sortieren. Einen vergleichbaren Fall gab es dort noch nicht. Wann eine Entscheidung über den Eilantrag anstehe, sei noch "völlig offen".

Der Richterbund befürchtet, dass das Vertrauen der Richterschaft in eine sachgerechte, alleine an den Kriterien der Eignung und Befähigung orientierten Besetzung der Beförderungsämter ganz erheblich beschädigt würde, wenn sich das Ministerium durchsetzen sollte.

Das Ministerium will die Angelegenheit im Rahmen des Eilverfahrens "abschließend" klären. Doch selbst das könnte dauern. Solange bleibt die Stelle unbesetzt, das Gericht führungslos. Die Arbeit muss vertretungsweise die Vizepräsidentin übernehmen.  

Doch das Ministerium bleibt dabei: "In unserem Rechtsstaat kann es niemals falsch sein, den Rechtsweg zu beschreiten." Die Entscheidung durch ein unabhängiges Gericht sei das "Mittel der Wahl", um offene Fragen transparent und nachhaltig zu klären.

Zitiervorschlag

Streit um OLG-Chefposten in Baden-Württemberg: Der böse Schein . In: Legal Tribune Online, 02.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48918/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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