Neue Justiz-Regeln für Corona und danach: Kommt ein Epi­de­mie­ge­richts­ge­setz mit Vide­opf­licht?

von Dr. Markus Sehl und Tanja Podolski

07.05.2020

Die Gerichte versuchen im Schongang hochzufahren und sammeln Erfahrungen mit Videoverhandlungen - und schon gibt es erste Pläne für eine Corona-Gerichtsordnung, die die Justiz für künftige Epidemien rüsten soll.  

Als die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts am Dienstag ihr Urteil verkündeten, stellten sie nicht nur zum ersten Mal in der Geschichte eine Kompetenzüberschreitung europäischer Organe fest. Eine weitere Premiere gab es auf der Richterbank im Sitzungssaal: Zum ersten Mal saßen dort nur fünf statt der acht Senatsmitglieder. Eine Corona-Vorsichtsmaßnahme.

Gut 300 Kilometer weiter nördlich kam es vor einer Woche zu einer kuriosen Situation vor Gericht. Am Landgericht Mönchengladbach nahmen bei einem Strafprozess Journalisten auf der Richterbank Platz. Die Richter saßen stattdessen an einer eigens aufgestellten Tischreihe vor den Zuschauerstühlen. Die Richterbank im größten "Saal 100" sei nicht lang genug, um den erforderlichen Mindestabstand von eineinhalb Metern zwischen den fünf Mitgliedern der Kammer einhalten zu können, erläuterte ein Gerichtssprecher. So kam es zu dem Platztausch.

Wie in einem gleichseitigen Dreieck auf der Deutschlandkarte liegt zwischen Karlsruhe und Mönchengladbach die JVA Kassel I. Dort werden derzeit in den Werkstätten mit Hochdruck Plexiglas-Schutzwände hergestellt. Eingesetzt werden sollen sie unter anderem für die Richterbank in hessischen Gerichtssälen. Das hessische Justizministerium teilte mit, dass bereits 700 Schutzwände bestellt wurden.

Momentaufnahmen wie diese zeigen: Die deutsche Justiz arrangiert sich mit der Situation. An vielen Gerichten wird in diesen Tagen umgeschaltet, vom Notbetrieb in so etwas wie einen eingeschränkten und vorsichtigen Schongang. Und es gibt schon erste Pläne, die die Justiz für künftige vergleichbare Krisen rüsten sollen.

Plan für Epidemiegerichtsgesetz aus Schleswig-Holstein 

Aus Schleswig-Holstein stammt ein bereits ausgearbeiteter 57-seitiger Entwurf für ein neues Epidemiegerichtsgesetz (EpiGG), der LTO vorliegt. Auf der offiziellen Tagesordnung für die nächste Sitzung des Bundesrates findet er sich aber noch nicht.

Konzipiert ist der Vorschlag als ein Sondergesetz mit 16 Paragraphen. Nach dem Entwurf soll eine Art übergelagertes Gerichtsgesetz geschaffen werden, das für alle Gerichtsbarkeiten von Zivil- über Straf- bis hin zu den Finanzgerichten gilt. Nur die Verfassungsgerichtsbarkeit ist ausgenommen.

Es soll Spezialregeln für den Gerichtsbetrieb in Kraft setzen für den Fall, dass der Bundestag eine epidemische Lage nach § 5 des Infektionsschutzgesetzes feststellt. Der Entwurf enthält Vorschläge zur Einschränkung der Öffentlichkeit bei Gerichtsverhandlungen. Außerdem soll es laut Entwurf den Richtern und Anwälten erleichtert werden, Gerichtstermine per Bild- und Tonübertragung durchzuführen. Gerichte sollen nach eigenem Ermessen die Videoverhandlung anordnen können, sie wären nicht länger von der Zustimmung der Beteiligten abhängig.

Das dürften alles streitbare Punkte sein – und damit ein großes Thema für die kommende Justizministerkonferenz, die ursprünglich Mitte Juni in Bremen stattfinden sollte. Als Ersatz wollen sich die Justizminister auf der Herbstkonferenz im November mehr Zeit für ihre Beratungen nehmen. 

Am Ende bleibt viel Verantwortung bei den Richtern hängen 

Mehrere Landesjustizministerien und einzelne Gerichte verkünden aktuell nicht ohne Stolz einen erweiterten Betrieb an ihren Gerichten – nicht ohne streng den Gesundheitsschutz zu betonen. "Es ist nun die richtige Zeit, den Justizbetrieb schrittweise zu erweitern. Dabei ist auf den Schutz der Gesundheit aller Beteiligten zu achten", sagte etwa der bayerische Justizminister Georg Eisenreich am Donnerstag.

An bayerischen Gerichten kann eine Maskenpflicht angeordnet werden. Wer als Besucher eine solche nicht trägt, dem kann der Zutritt zum Gerichtsgebäude verwehrt werden. Was diese Pflicht für Verfahrensbeteiligte angeht, sollen die Richter entscheiden. Sie können außerdem Trennscheiben im Saal aufstellen lassen.

Bereits Mitte April hatte etwa die Justizverwaltung in Baden-Württemberg mit internen Schreiben ihre Richter, Staatsanwälte, Rechtspfleger und das Justizpersonal auf zukünftige Lockerungen vorbereitet. Dazu gab es ausführliche Handlungsempfehlungen. Um den Gerichtsbetrieb zu entzerren, wird in dem Papier, das LTO vorliegt, etwa angeregt, auch auf Samstage als Sitzungstag auszuweichen – auf freiwilliger Basis.

Auch die Landesjustizverwaltung geht davon aus, dass in den Gerichten nicht alle Sitzungssäle groß genug sind, um den erforderlichen Abstand zwischen den Beteiligten einzuhalten. Die Richter müssen sich also die ausreichend großen Säle aufteilen oder auf eigenes Risiko in zu engen Sälen verhandeln.

Die Vorschläge zeigen: Viel Verantwortung liegt bei den Richtern. Sie entscheiden nun auch darüber, unter welchen Bedingungen ihre Verhandlungen stattfinden. Zugleich sind sie von der Infrastruktur an den Gerichten ein Stück weit abhängig.

Videoverhandlung für alle?

Bayern plant für seine Justiz eine flächendeckende Ausstattung mit Videotechnik für Verhandlungen, Vernehmungen und Anhörungen. Bereits 50 Videokonferenzanlagen stünden im Freistaat zur Verfügung, sie könnten von 53 Gerichten genutzt werden, so das Ministerium.

Der § 128a ZPO sieht jetzt schon vor, dass Verhandlungen per Videokonferenz geführt werden können – dabei sitzen allerdings die Richter im Sitzungssaal, der auch für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Parteien, Prozessvertreter und sonstige Beteiligte werden für alle sichtbar zugeschaltet. Üblich ist das allerdings bisher nicht, oft fehlt es schon an der entsprechenden Ausstattung bei den Gerichten.

"Die Bundesländer sollten die Coronakrise zum Anlass für einen Digitalisierungsschub in der Justiz nehmen", meint Sven Rebehn, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes. "Die Ausnahmesituation der Pandemie hat ein Schlaglicht auf Lücken bei der IT-Ausstattung der Gerichte geworfen." 

"Videotechnik im Gerichtssaal kein Allheilmittel" 

Auch in Niedersachsen wird auf digitale Prozesse gesetzt. Allein am Landgericht Hannover wurden bereits mehr als 50 Zivilsachen per Videokonferenz verhandelt. Derzeit gibt es dort fünf bis zehn solcher Verhandlungen pro Woche, wie ein Sprecher des Gerichts gegenüber dpa sagte. "Tendenz steigend". Das Gericht nutze Skype Business für die digitalen Verhandlungen, dafür habe das Land Niedersachsen eine Datenschutzvereinbarung ausgearbeitet.

Ebenso wenig wie sich aktuell ein umfassendes Bild der Lage an den deutschen Gerichten zeichnen lässt, lassen sich die Situationen an den verschiedenen Gerichtsbarkeiten ohne weiteres vergleichen. Die komplette Verlegung eines Strafprozesses in die virtuelle Welt sei "weder möglich noch sinnvoll", sagt etwa Andrea Titz, Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins und Vizepräsidentin des Landgerichts Traunstein.

Nicht nur die Frage nach verfügbarer und zuverlässiger Technik ist aus ihrer Sicht ein Grund, in Videoverhandlungen "kein Allheilmittel" zu sehen. "Unabhängig von der Frage, was derzeit gesetzlich überhaupt zulässig ist, leben viele Verfahren nun einmal davon, dass sich der Richter im Sitzungssaal einen persönlichen Eindruck von den Verfahrensbeteiligten und Zeugen macht", so Titz.

Die Gerichte werden zunächst gut damit beschäftigt sein, eine aufgestaute Verfahrenswelle abzuarbeiten. Von einem "Normalbetrieb" sind sie noch weit entfernt. Und wie die neue "Normalität" in einigen Monaten für die Justiz aussehen könnte, darüber wird noch viel diskutiert werden.

Mit Material von dpa 

Zitiervorschlag

Neue Justiz-Regeln für Corona und danach: Kommt ein Epidemiegerichtsgesetz mit Videopflicht? . In: Legal Tribune Online, 07.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41552/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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